Lösungsvorschlag

Freigesetzt!

Stand der Bearbeitung: 17. September 2022

© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)

mit freundlicher Unterstützung der jurmatix Legal Intelligence UG (haftungsbeschränkt), Gersheim

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Siehe

Die Verfassungsbeschwerde Ronald Rosahls hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A) Zulässigkeit

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen der Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt sind.

Anmerkung: Zur Zulässigkeit eines Verfahrens vor dem BVerfG siehe diesen Hinweis.

I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "jedermann")

Rosahl kann Grundrechtsträger sein und ist damit "jedermann" i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG.

II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Akt der öffentlichen Gewalt")

Rosahl wendet sich nach dem Sachverhalt ausschließlich gegen die Entscheidung des BAG, also gegen das letztinstanzliche Gerichtsurteil. Dieses Urteil ist ein "Akt der öffentlichen Gewalt" i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG und damit tauglicher Beschwerdegegenstand. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht es insbesondere auch nicht entgegen, dass nur die Entscheidung des BAG angegriffen wird und nicht auch die Entscheidungen des Arbeitsgerichtes und des Landesarbeitsgerichtes. Eine solche "umfassende" Verfassungsbeschwerde wird vom BVerfG zwar für möglich gehalten, jedoch nicht verlangt.

Anmerkung: So BVerfG, 1 BvR 572/52 v. 20.10.1954 = BVerfGE 4, 52, 56; BVerfG 1 BvR 140/62 v. 20.1.1966 = BVerfGE 19, 377, 393; U. Stelkens, DVBl. 2004, 403, 404; siehe zur Bestimmung des Beschwerdegegenstandes bei mehreren, in derselben Sache ergangenen Gerichts-(und Verwaltungs-)entscheidungen diesen Hinweis.

III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: "Behauptung, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein")

Rosahl müsste behaupten können, durch die Entscheidung des BAG in seinen Grundrechten verletzt zu sein, er müsste also beschwerdebefugt sein, d.h. es dürfte nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass die Entscheidung des BAG solche (Grund-)Rechte Rosahls verletzt, die mit der Verfassungsbeschwerde rügbar sind.

Insoweit hat das BVerfG früher angenommen, aus der Unterscheidung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG zwischen den "Grundrechten" einerseits und den ausdrücklich aufgezählten sog. grundrechtsgleichen Rechten der Art. 20 Abs. 4, Art. 33, Art. 38, Art. 101, Art. 103 und Art. 104 GG folge, dass mit "Grundrechten" i.S. der Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG nur die im 1. Abschnitt des Grundgesetzes genannten Grundrechte gemeint seien. Dies schloss es aus, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) gewährten Unionsgrundrechte als mit der Verfassungsbeschwerde rügbare Grundrechte zu behandeln.

Anmerkung: Vgl. BVerfG (K), 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12 v. 4.11.2015, Abs. 19 = NJW 2016, 1436 Abs. 19; ferner Kingreen, JZ 2013, 801, 808; ausführlich zu diesem früheren Ansatz (jeweils mit abweichender Meinung) Bäcker, EuR 2015, 389, 410 ff.; Griebel, DVBl 2014, 204 ff.

Nunmehr bezieht das BVerfG jedoch auch die Unionsgrundrechte in den Kreis der mit der Verfassungsbeschwerde rügbaren Grundrechte mit ein, was insbesondere damit begründet wird, dass der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eine solche Einbeziehung der Unionsgrundrechte nicht ausschließe und dass dies notwendig sei, um den Grundrechtsschutz durch das BVerfG gegenüber einer fachgerichtlichen Anwendung der Unionsgrundrechte zu ergänzen.

Anmerkung: BVerfG, 1 BvR 276/17 v. 6.11.2019, Abs. 60 ff. = BVerfGE 152, 216, 240 ff. - Recht auf Vergessen II; BVerfG, 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 v. 1.12.2020, Abs. 36 ff. = BVerfGE 156, 182, 197 ff. - Europäischer Haftbefehl III. Näher hierzu (m.w.N.) bei C III 1 dieser Anmerkung.

Insoweit rügt Rosahl zum einen eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG (1.) zum anderen eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (2.). Darüber hinaus macht er eine Verletzung seiner Unionsgrundrechte aus Art. 15 Abs. 1 GRCh (Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten), Art. 21 Abs. 1 GRCh (Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung) und Art. 30 GRCh (Schutz vor ungerechtfertigenden Entlassungen) und Art. 47 GRCh (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht) geltend (3).

Anmerkung: In einem Fall, in dem deutsche Grundrechte und Unionsgrundrechte möglicherweise nebeneinander anwendbar waren, hat es das BVerfG für die Bejahung der Beschwerdebefugnis als ausreichend erachtet, wenn jedenfalls eine Verletzung der deutschen Grundrechte als möglich erschien (BVerfG, 1 BvR 16/13 v. 6.11.2019, Abs. 39 = BVerfGE 152, 152, 168 - Recht auf Vergessen I). Es erscheint uns aber nicht selbstverständlich, dass diese Vorgehensweise auch im juristischen Gutachten zulässig ist, weil damit letztlich Teile Beschwerdebefugnis bzw. der Begründetheitsprüfung offen bleiben (a. A. Honer, JA 2021, 219, 223; Neumann/Eichberger, JuS 2020, 502, 505 ff. und die Fallbearbeitung von von der Decken/Koch, JuS 2020, 612, 616).

1. Mögliche Verletzung in Art. 12 Abs. 1 GG

Rosahl beruft sich insoweit zunächst auf sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG, woraus sich eine Pflicht der Arbeitsgerichte ergeben soll, unter Anwendung des § 1 KSchG und des AGG zu verhindern, dass er aufgrund einer allein mit seiner Heterosexualität begründeten, daher sachlich ungerechtfertigten und willkürlichen Kündigung seines Arbeitgebers seinen Arbeitsplatz verliert.

a) Möglichkeit einer Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG bei Ausblendung der unionsrechtlichen Implikationen

Dass sich aus Art. 12 Abs. 1 GG eine Schutzpflicht des Staates zugunsten des Arbeitnehmers gegen willkürliche, insbesondere auch diskriminierende Kündigungen des Arbeitsverhältnisses ergibt, ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Zwar nimmt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung an, dass die Grundrechte Private grundsätzlich nicht untereinander selbst verpflichten. Die Grundrechte sind jedoch auch an den "Privatrechtsgesetzgeber" adressiert und sind von den Fachgerichten insbesondere über zivilrechtliche Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, bei der Auslegung des Fachrechts zur Geltung zu bringen (sog."mittelbare Drittwirkung" der Grundrechte). Die Grundrechte zielen insoweit nicht auf eine möglichst konsequente Minimierung von freiheitsbeschränkenden Eingriffen, sondern sind als Grundsatzentscheidungen im Ausgleich gleichberechtigter Freiheit zu entfalten. Die Freiheit der einen ist dabei mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. Maßgeblich ist insoweit, dass die Freiheitssphären der Grundrechtsberechtigten in einen Ausgleich gebracht werden müssen, der die in den Grundrechten liegenden Wertentscheidungen hinreichend zur Geltung bringt. Dabei können insbesondere auch die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite eine maßgebliche Rolle spielen.

Anmerkung: Siehe hierzu zusammenfassend BVerfG, 1 BvR 3080/09 v. 11.4.2018, Abs. 32 f. = BVerfGE 148, 267, 280 f.; einführend z. B. Neuner, NJW 2020, 1851 ff.; Schaaf, Jura 2021, 249 ff.

Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus möglich, dass sowohl der Privatrechtsgesetzgeber wie auch die das Privatrecht anwendende BAG aus Art. 12 Abs. 1 GG heraus verpflichtet waren, Rosahl vor diskriminierenden Kündigungen durch seinen Arbeitgeber durch entsprechende Ausgestaltung bzw. Handhabung des privatrechtlichen Arbeitsrechts zu schützen. Das BAG - das im Revisionsverfahren nach § 73 Abs. 1 Satz 1 ArbGG die Rechtsanwendung durch das Landesarbeitsgericht vollumfänglich prüfen konnte und das Urteil des LAG nicht nach § 72 Abs. 5 ArbGG i.V.m. § 562 Abs. 1 ZPO aufgehoben hat - hat Rosahl einen solchen Schutz vor willkürlichen, insbesondere auch diskriminierende Kündigungen des Arbeitsverhältnisses verwehrt, so dass er durch das Urteil auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist.

Anmerkung: Siehe zur Bedeutung der Trias des eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenseins des Beschwerdeführers bei Gerichtsurteilen ausführlich BVerfG, 2 BvR 2292/13 v. 15.7.2015, Abs. 55 ff. = BVerfGE 140, 45, 57 ff. Siehe zur Bedeutung des Prüfungsumfangs einer Rechtsmittelentscheidung für die Zulässigkeit hiergegen gerichteter Verfassungsbeschwerden diesen Hinweis.

b) Unanwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 GG wegen Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte?

Auf Art. 12 Abs. 1 GG ließe sich jedoch die Beschwerdebefugnis nicht stützen, wenn die deutschen Grundrechte - und damit auch Art. 12 Abs. 1 GG bzw. hieraus abgeleitete Schutzpflichten - im vorliegenden Zusammenhang gar nicht anwendbar wären. Dies wäre möglich, wenn - wie Plutory in seiner Stellungnahme nach § 94 Abs. 3 BVerfGG hervorhebt - die Grundrechte des Grundgesetzes gegenüber nationalen Maßnahmen von vornherein keine Anwendung finden könnten, die nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh an die Unionsgrundrechte gebunden sind. Dann hätte das BAG die deutschen Grundrechte - insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG - und sich hieraus u. U. ergebende Schutzpflichten - bei der Rechtsanwendung gar nicht berücksichtigen dürfen. Das BAG hätte allein auf die von Rosahl genannten Unionsgrundrechte (Art. 15 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1, Art. 30 GRCh) bzw. auf die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, die der Konkretisierung der genannten Unionsgrundrechte dient, zurückgreifen müssen.

aa) Schließt eine Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte eine Anwendbarkeit der deutschen Grundrechte generell aus?

Insoweit hat das BVerfG zwar 2013 einmal angenommen, bei Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf ein Handeln deutscher öffentlicher Gewalt nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh sei eine gleichzeitige Bindung an die deutschen Grundrechte ausgeschlossen.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 1215/07 v. 24.4.2013, Abs. 88 ff. = BVerfGE 133, 277, 313 ff. - Antirerrodatendatei.

Das dem zu Grunde liegende sog. "Trennungsmodell" (These von der strikten Trennung der Anwendungsbereiche zwischen deutschen Grundrechten und Unionsgrundrechten) hat das BVerfG jedoch mittlerweile wieder zu Gunsten des sog. "Kumulationsmodells" (das es für möglich erachtet, dass derselbe Akt deutscher öffentlicher Gewalt sowohl am Maßstab der deutschen Grundrechte wie der Unionsgrundrechte zu messen ist) wieder aufgegeben. Das BVerfG erkennt nunmehr wieder (jedenfalls seit 2019) ausdrücklich an, dass Akte deutscher öffentlicher Gewalt, die der Umsetzung, Durchführung oder Anwendung von Unionsrecht dienen, grundsätzlich sowohl an die Grundrechte des Grundgesetzes wie an die Unionsgrundrechte gebunden sein können. Die Grundrechtskataloge des Grundgesetzes und der Grundrechte-Charta können dementsprechend auf derartige Akte grundsätzlich nebeneinander Anwendung finden.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 16/13 v. 6.11.2019, Abs. 39 = BVerfGE 152, 152, 168 - Recht auf Vergessen I. Ausführlich zur nicht sehr geradlinig verlaufenden Rechtsprechung des BVerfG in diesem Zusammenhang und den hierzu jeweils gegebenen Begründungen bei C II dieserAnmerkung. Die Möglichkeit einer solchen kumulativen Anwendung von deutschen Grundrechten und Unionsgrundrechten gegenüber der Umsetzung/Durchführung/Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben durch mitgliedstaatliche Behörden ist auch unionsrechtlich i.d.R. unbedenklich. Der EuGH schließt jedenfalls aus Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh nicht im Wege eines Umkehrschlusses, dass Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die der "Durchführung des Rechts der Union" i. S. des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh dienen, niemals (auch) am Maßstab der nationalen Grundrechte zu messen sein könnten (siehe etwa EuGH [GK], C-617/10 v. 26.2.2013, Abs. 29 – Åkerberg Fransson). So spricht auch Art. 53 GRCh deutlich gegen ein "Ausschließlichkeitsmodell", nach dem die Charta in ihrem Anwendungsbereich die nationalen Grundrechte verdrängt. Jedenfalls soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung, Durchführung oder Anwendung von Unionsrecht Umsetzungsspielräume belässt, bedeutet dies, dass das nationale Verfassungsrecht - insbesondere die nationalen Grundrechte - diese Spielräume einschränken können, ohne dass dies unionsrechtlich bedenklich wäre. Ausführlich und m.w.N. zu diesen unionsrechtlichen Vorgaben bei B II 2 dieserAnmerkung.

bb) Möglichkeit einer Unanwendbarkeit der deutschen Grundrechte, wenn und soweit das BAG zu einer Anerkennung der Wirksamkeit der Kündigung verpflichtet hätte

Eine Bindung an die deutschen Grundrechte wäre jedoch ausgeschlossen, wenn und soweit das BAG unionsrechtlich verpflichtet gewesen wäre, die Kündigung für wirksam zu erklären und damit der Revision nicht stattzugeben. Soweit ein Mitgliedstaat nach Art. 4 Abs. 3 EUV nämlich zum Erlass bestimmter Maßnahmen unionsrechtlich verpflichtet ist - ihm insoweit also kein Umsetzungsspielraum zusteht - nimmt der EuGH an, der Mitgliedstaat könne gegen seine Umsetzungsverpflichtung nicht einwenden, der Erlass der Umsetzungsmaßnahme verstoße gegen nationale Grundrechte oder sonstiges Verfassungsrecht. Soweit die Mitgliedstaaten Unionsrecht umzusetzen haben, können sie also die nationalen Grundrechte (und sonstiges Verfassungsrecht) ihrer Umsetzungsverpflichtung nicht entgegenhalten.

Anmerkung: Grundlegend EuGH (GK), C-399/11 v. 26.2.2013, Abs. 60 - Melloni. Ausführlich zu diesen unionsrechtlichen Vorgaben (m.w.N.) bei B II 3 dieser Anmerkung.

Dies ist mittlerweile auch vom BVerfG im Grundsatz anerkannt worden. Es akzeptiert, dass "in vollvereinheitlichten Materien des Unionsrechts die deutschen Grundrechte nicht anwendbar sind". D. h. die deuten Grundrechte können einem deutschen Akt der öffentlichen Gewalt nicht entgegen gehalten werden, der zwingendes Unionsrecht ohne eigenen Gestaltungsspielraum umsetzen, durchführen oder anwenden muss. Die deutschen Grundrechte sind in diesen Fällen nicht anwendbar, weil dies das Ziel der Rechtsvereinheitlichung konterkarieren würde.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 276/17 v. 6.11.2019, Abs. 42 ff. = BVerfGE 152, 216, 233 ff. - Recht auf Vergessen II; ähnlich auch: BVerfG, 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 v. 1.12.2020, Abs. 36 = BVerfGE 156, 182, 197 - Europäischer Haftbefehl III; ausführlich zur nicht sehr geradlinig verlaufenden Rechtsprechung des BVerfG in diesem Zusammenhang und den hierzu jeweils gegebenen Begründungen bei C II dieserAnmerkung.

cc) Möglichkeit, dass Entscheidungen deutscher Gerichte, die Unionsrecht verletzen, zugleich auch gegen deutsche Grundrechte verstoßen

Demgegenüber spricht unionsrechtlich nichts dagegen, dass nationale Maßnahmen, die gegen Unionsrecht verstoßen, gleichermaßen von nationalen (Verfassungs-)Gerichten am Maßstab der nationalen Grundrechte gemessen und (auch) wegen Verstoßes gegen nationales Verfassungsrecht verworfen werden können. Zwar liegt auch in einer solchen Konstellation vordergründig – wie in der "Melloni-Konstellation" (A III 1 b bb) – ein Fall vor, indem dem Mitgliedstaat kein Umsetzungsspielraum zusteht. Der fehlende Umsetzungsspielraum erklärt sich hier aber dadurch, dass die nationale Maßnahme schlechthin unionsrechtlich verboten ist, ihre Vornahme also unionsrechtswidrig ist. In der "Melloni-Konstellation" ist dagegen die nationale Maßnahme unionsrechtlich geboten, ihre Nichtvornahme unionsrechtswidrig. Um die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts zu sichern, dürfen daher in der "Melloni-Konstellation" nationale Grundrechte, die der Umsetzung des unionsrechtlichen Gebots entgegenstehen, nicht angewendet werden. Ist dagegen eine nationale Maßnahme unionsrechtlich verboten, stärkt es die praktische Wirksamkeit dieses unionsrechtlichen Verbots, wenn die Maßnahme (nicht nur wegen Verstoßes gegen dieses unionsrechtliche Verbot sondern) auch wegen eines Verstoßes gegen nationales Recht aufgehoben bzw. für nichtig oder unanwendbar erklärt werden kann.

Anmerkung: Ausführlich hierzu U. Stelkens, in: Festschrift für Rudolf Wendt, 2015, S. 467, 471 ff.; siehe ferner (m.w.N.) bei B II 5 und bei C II 4 (a. E.) dieser Anmerkung.

dd) Anwendung auf den zu entscheidenden Fall

Nach den dargestellten Grundsätzen wäre das BAG im vorliegenden Fall somit nur dann nicht an die deutschen Grundrechte gebunden gewesen, wenn Unionsrecht ohne Umsetzungsspielraum den mitgliedstaatlichen Gerichten zwingend geboten hätte, in Fällen wie dem vorliegenden eine Kündigung eines Arbeitsverhältnisses als wirksam anzuerkennen.

Ob eine solche unionsrechtliche Pflicht besteht, muss durch Auslegung des einschlägigen Unionsrechts, hier durch Auslegung der Art. 1 und Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG geklärt werden. Insoweit spricht bei unbefangener Betrachtungsweise alles dafür, dass Art. 1 und 2 der Richtlinie 2000/78/EG nicht so zu verstehen sind, dass sie den Mitgliedstaaten gebieten, ihre Rechtsordnungen so auszugestalten, dass sie eine Diskriminierung wegen Heterosexualität ermöglichen. Dies folgt letztlich aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, nach der diese Richtlinie einen weitergehenden Diskriminierungsschutz durch die Mitgliedstaaten nicht entgegen stehen soll.

Fraglich kann allenfalls sein, ob Art. 1, Art. 2 und Art. 16 der Richtlinie 2000/78/EG so zu verstehen sind, dass sie den Mitgliedstaaten nicht verbieten, ihre Rechtsordnungen so auszugestalten, dass sie eine Diskriminierung wegen Heterosexualität zulassen. Selbst ein solches restriktives Verständnis des Diskriminierungsverbots der Richtlinie erscheint aber kaum als vertretbares Auslegungsergebnis, da Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG schlechthin der Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf dienen soll und bei allen diesen Merkmalen nicht auf "Minderheitenschutz" sondern eben nur auf die verpönten Merkmale selbst abgestellt wird, unabhängig davon, wie viele Personen in einem Mitgliedstaat diese Merkmale aufweisen. Die Frage, ob die Richtlinie 2000/78/EG die Diskriminierung Heterosexueller verbietet, muss aber letztlich hier nicht abschließend geklärt werden, da schon auf Grund des Umstandes, dass die Richtlinie 2000/78/EG eine Zulassung der Diskriminierung Heterosexueller durch mitgliedstaatliches Recht jedenfalls nicht gebietet, feststeht, dass die deutschen Grundrechte im vorliegenden Zusammenhang anwendbar sind. Denn den Mitgliedstaaten steht damit insoweit zumindest ein Umsetzungsspielraum zu, der unter Anwendung der deutschen Grundrechte in unionsrechtskonformer Weise beschränkt werden kann. Und auch wenn den Mitgliedstaaten insoweit kein Umsetzungsspielraum zusteht, weil die Richtlinie 2000/78/EG auch die Diskriminierung Heterosexueller verbietet, würde der Umstand, dass das Urteil des BAG dann auch gegen Unionsrecht verstößt, nichts daran ändern, dass die deutschen Grundrechte im vorliegenden Fall anwendbar wären.

ee) Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV?

Es ist allerdings fraglich, ob das BVerfG selbst berechtigt ist, über die Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG im vorliegenden Verfahren zu entscheiden oder ob es die Frage, ob die Richtlinie mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften unberührt lässt, die die Diskriminierung Heterosexueller gestatten, dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Entscheidung vorlegen muss.

Anmerkung: Allgemein zur Bedeutung und den Voraussetzungen des Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV z. B. Mächtle, JuS 2015, 314 ff.; Strunk, JuS 2024, 833 ff.

Denn nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist ein mitgliedstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angegriffen werden können, zur Anrufung des EuGH verpflichtet, soweit sich in eine schwebenden Verfahren die Frage stellt, wie eine Handlung der Organe der Union - wozu auch Richtlinien gehören (vgl. Art. 288 AEUV) - auszulegen ist. Grundsätzlich dürfen damit letztinstanzliche Gerichte bei Entscheidungserheblichkeit einer Frage, die durch Auslegung von Unionsrecht zu klären ist, das Unionsrecht nicht selbst auslegen, sondern müssen ein Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV einleiten. Das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren soll nämlich nach Auffassung des EuGH einen Dialog von Gericht zu Gericht zwischen dem EuGH und den Gerichten der Mitgliedstaaten einführen, der die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht. Der Vorabentscheidungsmechanismus soll insoweit sicherstellen, dass das Unionsrecht unter allen Umständen in allen Mitgliedstaaten die gleiche Wirkung hat und damit unterschiedliche Auslegungen des von den einzelstaatlichen Gerichten anzuwendenden Unionsrechts verhindern und die Anwendung dieses Rechts gewährleisten, indem er dem einzelstaatlichen Richter die Möglichkeit gibt, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus dem Erfordernis ergeben könnten, dem Unionsrecht im Rahmen der Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten zu voller Geltung zu verhelfen.

Anmerkung: So deutlich zuletzt EuGH (GK), C-561/19 v. 6.10.2021, Abs. 27 ff. - Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi; ferner z. B. EuGH, C-136/12 v. 18.7.2013, Abs. 25 ff. - Consiglio nazionale dei geologi; EuGH, C-160/14 v. 9.9.2015, Abs. 37 - Ferreira da Silva e Brito. Der EuGH hat mittlerweile auch festgestellt, dass in der unterlassenen Nichtvorlage entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV eine "Vertragsverletzung" liegt, die von der Kommission zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 ff. AEUV gemacht werden kann: EuGH, C-416/17 v. 4.10.2018, Abs. 100 ff. - Kommission/Frankreich (hierzu ausführlich Gervasoni, AJDA 2019, 150 ff.; Hering, EuR 2020, 112 ff.; Ilioupoulou, rfda 2019, 139 ff.; ferner Kaufmann, EuZW 2018, 1046 f.).

Das BVerfG sieht sich grundsätzlich auch selbst als ein Gericht, das nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sein kann, wenn die Beantwortung einer verfassungs(prozess)rechtlichen Frage von der Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht abhängt.

Anmerkung: So BVerfG, 2 BvL 52/71 v. 29.5.1974 = BVerfGE 37, 271, 282 - Solange I; BVerfG, 2 BvL 6/77 v. 25.7.1979 = BVerfGE 52, 187, 201 - Vielleicht Beschluss; BVerfG, 2 BvR 2661/06 v. 6. 7. 2010, Abs. 60 = BVerfGE 126, 286, 303 - Honeywell; BVerfG, 1 BvR 1215/07 v. 24.4.2013, Abs. 88, 90 = BVerfGE 133, 277, 313 ff. - Antiterrordatei; BVerfG, 1 BvR 276/17 v. 6.11.2019, Abs. 69 = BVerfGE 152, 216, 244 - Recht auf Vergessen II; BVerfG, 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 v. 1.12.2020, Abs. 39 = BVerfGE 156, 182, 199 - Europäischer Haftbefehl III. Dementsprechend hat das BVerfG hat auch bereits Vorlagebeschlüsse nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gefasst, ohne seine Vorlageberechtigung zu problematisieren: BVerfG, 2 BvR 2728/13 u. a. v. 14.1.2014 = BVerfGE 134, 366 ff. - OMT-Vorlagebeschluss; BVerfG, 2 BvR 859/15 u. a. v. 18.7.2017 = BVerfGE 146, 216 ff. - PSPP-Vorlagebeschluss; zur Vorlageverpflichtung des BVerfG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV siehe auch Drechsler, Jura 2021, 1021, 1029 ff.

Von der grundsätzlichen Vorlageberechtigung und -verpflichtung des BVerfG geht auch der EuGH in seiner auf Grundlage des OMT-Vorlagebeschlusses hin ergangenen "Gauweiler-Entscheidung" aus.

Anmerkung: Der EuGH problematisiert insoweit in Anschluss an die Abs. 30 ff. der Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón zu dieser Rechtssache (C-62/14) nur, ob ein Gericht auch dann vorlageberechtigt ist, wenn es in der Vorlage zugleich erklärt, an eine Entscheidung des EuGH u. U. nicht gebunden zu sein (EuGH [GK], C-62/14 v. 16.6.2015, Abs. 11 ff. - Gauweiler). Prozessual problematisch war an dem OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG (BVerfG, 2 BvR 2728/13 u. a. v. 14.1.2014 = BVerfGE 134, 366 ff.) damit nicht die Vorlageberechtigung und -verpflichtung des BVerfG als solche, sondern vor allem die "Taktik" und der "Stil" des BVerfG in der Begründung dieses Beschlusses (Brosius-Linke, DÖV 2014, 612 ff.; Giegerich ZEuS 2016, 3, 45 f. ["Vergiftetes Vorabentscheidungsersuchen"]; Heun, JZ 2014, 331 ff. ["verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung"]; Ludwigs, NVwZ 2015, 537, 540; Mayer, EuR 2014, 473 ff. ["rebels without a cause"]; Pauly/Beutel, BayVBl. 2014, 453 ff.; Ruffert, JuS 2014, 190 f.; Ukrow, ZEuS 2014, 119, 131 ff.; Wendel, ZaöRV 74 [2014], 615 ff.). Jedenfalls in Frankreich wurde der OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG tendenziell als "anmaßend" verstanden (Dahan/Fuchs/Layus, AJDA 2014, 1311 ff.; Gaudin, AJDA 2016, 1050, 1053; Martucci, Cahiers de droit européen 51 [2015], 493, 498 f.; Pliakos, Revue de l'Union européenne 2015, 41 ff.; Tusseau, rfda 2014, 602, 611 ff.). Der PSPP-Vorlagebeschluss des BVerfG (BVerfG, 2 BvR 859/15 u. a. v. 18.7.2017 = BVerfGE 146, 216 ff.) wurde vom Stil und Duktus her als wesentlich angemessener angesehen: Lang, CML Rev. 55 (2018), 923, 933 ff.

Da von der Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG abhängt, ob die Verfassungsbeschwerde des Rosahl zulässig ist, ist auch die Entscheidungserheblichkeit zu bejahen, womit nach dem Wortlaut des Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlagepflicht zu bejahen wäre.

Der EuGH schränkt die Vorlageverpflichtung mitgliedstaatlicher letztinstanzlicher Gerichte jedoch in ständiger Rechtsprechung (u. a.) in den Fällen ein, in denen die richtige Anwendung des Unionsrechts "derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt." (sog. "acte-clair-Doktrin"). Das mitgliedstaatliche Gericht darf hiervon grundsätzlich jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf das mitgliedstaatliche Gericht davon absehen, diese Frage dem EuGH vorzulegen, und sie statt dessen in eigener Verantwortung lösen. Ob diese Möglichkeit besteht, ist jedoch unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts und der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung zu beurteilen, wie etwa seiner verbindlichen Fassung in (mittlerweile) 24 Amtssprachen, der hieraus folgenden besonderen Terminologie sowie dem besonderen Gesamtzusammenhang in dem sie stehen.

Anmerkung: Grundlegend insoweit EuGH, 283/81 v. 6. 10. 1982, Abs. 16 ff. - C.I.L.F.I.T.; dies bestätigend und nuancierend: EuGH (GK), C-561/19 v. 6.10.2021, Abs. 39 ff. - Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi: Hier wird aber auch betont, ein in letzter Instanz entscheidendes mitgliedstaatliches Gericht könne nicht verpflichtet sein, jede Sprachfassung der in Rede stehenden Unionsvorschrift zu prüfen, jedoch müsse es gleichwohl die Unterschiede zwischen den ihm bekannten Sprachfassungen dieser Vorschrift berücksichtigen, insbesondere wenn diese Abweichungen von den Parteien vorgetragen werden und erwiesen sind. Die bloße Möglichkeit, von einer Vorschrift des Unionsrechts eine oder mehrere weitere Auslegungen vornehmen zu können, begründe aber nicht ohne Weiteres die Annahme, dass an der richtigen Auslegung dieser Vorschrift ein vernünftiger Zweifel bestehe, sofern die Möglichkeit anderer Auslegungen nicht hinreichend plausibel erscheine. Wenn dem letztinstanzlich entscheidendem Gericht jedoch das Vorliegen voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen – von Gerichten ein und desselben Mitgliedstaats oder zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten – zur Auslegung einer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Vorschrift des Unionsrechts zur Kenntnis gebracht werde, müsse es bei seiner Beurteilung der Frage, ob es an einem vernünftigen Zweifel in Bezug auf die richtige Auslegung der fraglichen Unionsrechtsvorschrift fehlt, besonders sorgfältig sein und dabei insbesondere das mit dem Vorabentscheidungsverfahren angestrebte Ziel, die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten, berücksichtigen. Siehe zu dieser Präzisierung bzw. (leichten) Neujustierung der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung Böttcher, NVwZ 2021, 1771 ff.; Broberg/Fenger, CML Rev. 59 (2022), 711 ff.; Cecchetti REALaw 15:3 (2022), 29 ff.; Coutron, RTDEur 2022, 765 ff.; Guiot, CdE 2022, 419, 427 ff.; Hilpold, NJW 2021, 3290 ff.; Jaeger, EuZW 2022, 18 ff.; Millet, EuConst 18 (2022), 533 ff.; Palmstorfer/Kreuzhuber, EuR 2022, 239 ff.

Ein solcher Fall dürfte hier jedenfalls insoweit vorliegen, als nach dem Sinn und Zweck der Richtlinie 2000/78/EG und auch unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Sprachfassungen offenkundig ist, dass sie jedenfalls den Mitgliedstaaten nicht vorschreibt, dass sie die Diskriminierung Heterosexueller wegen ihrer sexuellen Ausrichtung in ihren Rechtsordnungen ermöglichen müssen. Es ist schlicht nicht erkennbar, mit welchen Argumenten man dies anders sehen könnte. An dieser Offenkundigkeit mag auch der Umstand nichts zu ändern, dass das BAG (nach dem Sachverhalt) angenommen hat, dass die Richtlinie 2000/78/EG eine Diskriminierung wegen Heterosexualität nicht erfasse und diese damit nach Art. 16 der Richtlinie auch nach mitgliedstaatlichem Recht nicht verboten werden müsse. Denn auch das BAG hat damit nicht bestritten, dass sich aus der Richtlinie 2000/78/EG jedenfalls keine unionsrechtliche "Diskriminierungspflicht" von Heterosexuellen ergibt.

Folglich besteht insoweit keine Vorlagepflicht für das BVerfG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.

c) Ergebnis zu 1

Die deutschen Grundrechte waren damit vom BAG neben seiner Bindung an die unionsrechtlichen Vorgaben zu beachten, so dass Rosahl geltend machen kann, durch das Urteil des BAG in seinen Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Insoweit ist er somit beschwerdebefugt.

Anmerkung: Anders als im Kriegsspielzeug-Fall stellt sich im vorliegenden Fall nicht die Frage, ob Rosahl durch einen unionsrechtswidrigen Akt der deutschen öffentlichen Gewalt wegen seiner Unanwendbarkeit überhaupt in seinen Grundrechten verletzt werden kann. Während diese Frage wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (siehe dieseAnmerkung bei B I m.w.N.) bei unionsrechtswidrigen deutschen Gesetzen (eben wie im Kriegsspielzeug-Fall) durchaus aufgeworfen werden kann, ist letztlich unbestritten, dass aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht folgt, auch unionsrechtswidrige Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen seien per se "unanwendbar" und damit für die Verfahrensbeteiligten unverbindlich (deutlich Englisch, Die Verwaltung 41 [2008], 99, 105 ff.). Dementsprechend erkennt der EuGH an, dass auch unionsrechtswidrige Gerichtsurteile rechtskräftig werden und für die Beteiligten verbindlich werden können (s. hierzu z. B. m.w.N. EuGH, C 2/08 v. 3.9.2009, Abs. 22 ff. - Fallimento Olimpiclub; Germelmann, EuR 2010, 538 ff.; Kremer, EuR 2007, 470 ff.; Poelzig, JZ 2007, 858 ff.; ders., EuZW 2009, 741 ff.; Schmahl/Köber, EuZW 2010, 927 ff.). Eine andere Frage ist, ob sich im Einzelfall aus dem Unionsrecht besondere Pflichten zur Aufhebung, Nichtigkeitserklärung oder sonstigen "Beseitigung" (zunächst) verbindlicher unionsrechtswidriger Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen ergeben können.

2. Mögliche Verletzung in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG

Rosahl sieht sich ferner durch die Gestaltung des Verfahrens vor dem BAG in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, weil das BAG die Richtlinie 2000/78/EG dahingehend ausgelegt hat, dass sie den Mitgliedstaaten nicht verbietet, eine Diskriminierung Heterosexueller wegen ihrer sexuellen Ausrichtung zu ermöglichen, ohne nach Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV dem EuGH diese Auslegungsfrage zur Entscheidung vorzulegen, obwohl das hierzu nach Art. 267 Abs. 3 AEUV als letztinstanzliches Gericht verpflichtet gewesen sei.

Grundsätzlich ist das BAG als ein Gericht anzusehen, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angegriffen werden können, so dass es aus Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sein kann. Dem steht nicht entgegen, dass - wie im vorliegenden Fall - seine Entscheidungen noch Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG sein können (das seinerseits ein nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlageverpflichtetes Gericht ist, s. o. A III 1 b ee). Denn zu den "Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts" werden außerordentliche Rechtsbehelfe - wie die der Verfassungsbeschwerde - nicht gezählt. Es kommt für die "Letztinstanzlichkeit" allein auf die regulären Rechtsbehelfe an.

Anmerkung: Siehe hierzu Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV Rn. 27.

Daher ist nicht von vornherein auszuschließen, dass das BAG als letztinstanzlich entscheidendes Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet gewesen wäre, diese Frage der Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG dem EuGH vorzulegen. Ebenfalls ist nicht auszuschließen, dass der EuGH "gesetzlicher Richter" im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist, der Rosahl eben durch die Nichtvorlage des BAG entzogen worden ist.

Schließlich führt der Umstand, dass das BAG bei seine Entscheidung über die Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV möglicherweise nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh auch Art. 47 GRCh Rechnung zu tragen hatte, nach dem oben Gesagtem (s. o. A III 1 b) nicht dazu, dass das BAG deshalb bei dieser Entscheidung nicht (auch) an Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, sondern nur an die Unionsgrundrechte gebunden ist.

Auch eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch das Urteil des BAG erscheint also als möglich.

3. Möglichkeit der Verletzung in Unionsgrundrechten

Rosahl rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde aber auch eine Verletzung seiner sich aus der Art. 15 Abs. 1 GRCh (Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten), Art. 21 Abs. 1 GRCh (Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung) und Art. 30 GRCh (Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung) ergebenden Unionsgrundrechte, soweit das BAG die Kündigung von Rosahl für wirksam erachtet hat (b), sowie eine Verletzung des Art. 47 GRCh (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht), weil das BAG eine Richtervorlage entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV ohne hinreichenden Grund unterlassen habe (c). Eine Beschwerdebefugnis aus diesem Grund erscheint jedoch als von vornherein ausgeschlossen, wenn das BAG diese Unionsgrundrechte bei seiner Entscheidung nicht beachten musste, weil die Unionsgrundrechte insoweit nach Art. 51 Abs. 1Satz 1 GRCh unanwendbar waren (a).

Anmerkung: Vorsorglich noch einmal zur Wiederholung: In einem Fall, in dem deutsche Grundrechte und Unionsgrundrechte möglicherweise nebeneinander anwendbar sind, hat es das BVerfG für die Bejahung der Beschwerdebefugnis als ausreichend erachtet, wenn jedenfalls eine Verletzung der deutschen Grundrechte als möglich erschien (BVerfG, 1 BvR 16/13 v. 6.11.2019, Abs. 39 = BVerfGE 152, 152, 168 - Recht auf Vergessen I). Es erscheint uns aber nicht selbstverständlich, dass diese Vorgehensweise auch im juristischen Gutachten zulässig ist, weil damit letztlich Teile der Beschwerdebefugnis bzw. der Begründetheitsprüfung offen bleiben (a. A. Honer, JA 2021, 219, 223; Neumann/Eichberger, JuS 2020, 502, 505 ff. und die Fallbearbeitung von von der Decken/Koch, JuS 2020, 612, 616).

a) Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh)

Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh gilt die Charta für die Mitgliedstaaten "ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union". Sofern das BAG das Unionsrecht nicht in diesem Sinne bei Erlass seiner Entscheidung "durchgeführt" hat, wäre es dementsprechend nicht an die Unionsgrundrechte gebunden gewesen.

Bei der Auslegung des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh darf jedoch der Begriff der "Durchführung des Rechts der Union" nicht zu eng verstanden werden. Insoweit ist die deutsche Sprachfassung des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh missverständlich, weil sie nahelegt, dass mit "Durchführung des Rechts der Union" nur die Fälle gemeint sind, in denen die Mitgliedstaaten Unionsrecht ohne eigenen Gestaltungsspielraum gesetzgeberisch umzusetzen bzw. durch nationale Behörden und Gerichte (als eigene Angelegenheit) regelrecht zu vollziehen haben. Andere Sprachfassungen des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh legen demgegenüber ein weiteres Verständnis des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte gegenüber den Mitgliedstaaten nahe. Die englische Fassung des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh verwendet etwa den Begriff "when they are implementing Union law" (übersetzbar eher mit "wenn sie Unionsrecht implementieren/umsetzen"), die französische Fassung verwendet den Begriff "lorsqu'ils mettent en œuvre le droit de l'Union" (übersetzbar eher mit: "wenn sie Unionsrecht verwirklichen"), die spanische Fassung verwendet den Begriff "cuando apliquen el Derecho de la Unión" (übersetzbar eher mit: "wenn sie Unionsrecht anwenden") und die italienische Fassung den Begriff "nell'attuazione del diritto dell'Unione" (übersetzbar eher mit: "wenn sie Unionsrecht verwirklichen/implementieren"). Der Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh legt daher nahe, die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf das Handeln der Mitgliedstaaten nicht nur dann anzunehmen, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht regelrecht "durchzuführen" haben, sondern immer schon dann, wenn der nationale Gesetzgeber und die nationalen Behörden und Gerichte Unionsrecht umzusetzen, anzuwenden oder bei der Anwendung nationalen Rechts auch "nur" zu beachten haben.

Dementsprechend ist nach Auffassung des EuGH der Begriff der "Durchführung des Rechts der Union" i.S. des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh weit auszulegen, so dass eine "Durchführung" immer schon dann vorliegt, wenn die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Rechts der Union agieren. Die Unionsgrundrechte sind von den Mitgliedstaaten daher auch dann zu beachten, wenn eine nationale Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt.

Anmerkung: Grundlegend EuGH (GK), C-617/10 v. 26.2.2013, Abs. 16 ff. - Åkerberg Fransson; ausführlich zu dieser Rechtsprechung (m.w.N.) bei D III dieserAnmerkung. Zu restriktiveren Haltung des BVerfG siehe bei D II dieserAnmerkung.

Insoweit nimmt der EuGH auch an, dass in einem Rechtsstreit, in dem (1.) ein nationales Gesetz anzuwenden ist, dass der Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG dient und (2.) der Rechtsstreit ein Person betrifft, die im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses wegen eines der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG Gründe eine ungünstige Behandlung erfährt, die eine andere Person behandeln würde, das zur Entscheidung des Rechtsstreits zuständige Gericht i. S. des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh Unionsrecht "durchführt [umsetzt/anwendet], so dass dieses Gericht die Unionsgrundrechte zu beachten hat. Hieraus folgt insbesondere, dass das Gericht die Richtlinie 2000/78/EG sowie das nationale Umsetzungsgesetz im Lichte der Unionsgrundrechte auszulegen hat. Zudem muss das Gericht in dem Rechtsstreit, in dem es um die Durchsetzung des dem Einzelnen durch die Richtlinie 2000/78/EG gewährten Diskriminierungsschutz geht, Art. 47 GRCh beachten.

Anmerkung: Siehe hierzu EuGH (GK), C-414/16 v. 17.4.2018, Abs. 49 - Egenberger. Näher hierzu m.w.N. bei D III 1 und D III 2 dieserAnmerkung.

Nach dieser Rechtsprechung stellte sich die Entscheidung des BAG somit als ein Fall der "Durchführung des Rechts der Union" i.S.d. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh dar, so dass sie auch am Maßstab der Unionsgrundrechte zu messen ist.

b) Mögliche Verletzung der Art. 15 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 und Art. 30 GRCh

Soweit das BAG die Kündigung von Rosahl für wirksam erachtet hat rügt Rosahl eine Verletzung des Art. 15 Abs. 1 GRCh (Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten), Art. 21 Abs. 1 GRCh (Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung) und Art. 30 GRCh (Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung) ergebenden Unionsgrundrechte. Fraglich ist daher, ob eine Verletzung dieser Unionsgrundrechte Rosahls durch die Entscheidung des BAG als von vornherein ausgeschlossen erscheint.

aa) Mögliche Verletzung der Art. 15 Abs. 1 GRCh

Insoweit scheint hier eine Verletzung des Art. 15 Abs. 1 GRCh als von vornherein ausgeschlossen. Selbst wenn sich aus Art. 15 Abs. 1 GRCh grundsätzlich Pflichten der Mitgliedstaaten ergeben können, im Anwendungsbereich des Unionsrecht das nationale Arbeitsrecht in einer Weise auszugestalten, die dem besonderen Schutzbedürfnis der Arbeitgeber Rechnung trägt, so wäre doch Art. 30 GRCh der ausdrücklich Grundrechtsschutz vor ungerechtfertigten Entlassungen gewährt, insoweit das speziellere Grundrecht, das daher Art. 15 Abs. 1 GRCh verdrängt.

Anmerkung: Vgl. Hüpers/Reese, in: Meyer/Hölscheidt, Art. 30 Rn. 6.

bb) Mögliche Verletzung des Art. 21 i.V.m. Art. 30 GRCh

In Bezug auf Art. 21 Abs. 1 GRCh ist dagegen mit der Rechtsprechung des EuGH davon auszugehen, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 GRCh unmittelbare Wirkung auch gegenüber Privaten entfaltet. Im - hier gegebenen - Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte sind "Diskriminierungen insbesondere wegen [...] der sexuellen Ausrichtung verboten". Das Verbot jeder Art von Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung (oder anderer als der genannten Gründe) hat damit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zwingenden Charakter und verleiht schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht, das er in einem Rechtsstreit, der einen vom Unionsrecht erfassten Bereich betrifft, als solches geltend machen kann. Insoweit ist zu betonen, dass Art. 21 Abs. 1 GRCh - anders als etwa Art. 30 GRCh - nicht auf das (sonstige) Unionsrecht oder "einzelstaatliche Rechtsvorschriften" verweist, sondern unbedingt formuliert ist. Art. 21 GRCh unterscheidet sich in seiner Bindungswirkung damit grundsätzlich nicht von den verschiedenen Bestimmungen des EUV und des AEUV, die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren.

Anmerkung: Siehe hierzu m.w.N. EuGH (GK), C-414/16 v. 17.4.2018, Abs. 76 f. - Egenberger.

Aus der unmittelbaren Wirkung des Art. 21 Abs. 1 GRCh dürfte folgen, dass diese Bestimmung nicht gegenüber Art. 30 GRCh nachrangig ist, soweit es um diskriminierende Kündigungen eines Arbeitsverhältnisses geht. Vielmehr folgt aus Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh, dass (1.) eine ungerechtfertigte Kündigung eines Arbeitsverhältnisses i. S. des Art. 30 GRCh insbesondere auch dann vorliegt, wenn die Kündigung unter Verstoß gegen Art. 21 GRCh ausgesprochen wurde und (2.) dass insbesondere auch unter Verstoß gegen Art. 21 Abs. 1 GRCh ausgesprochene Kündigungen nach Art. 30 GRCh ungerechtfertigt und nach Art. 21 Abs. 1 GRCh verboten sind. Bei diesem Verständnis ergänzen sich Art. 30 GRCh und Art. 21 Abs. 1 GRCh zu einem Grundrecht auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen.

Anmerkung: Vgl. Hüpers/Reese, in: Meyer/Hölscheidt, Art. 30 Rn. 6; Kocher, in: Pechstein/Nowak/Häde, Art. 30 GRC Rn. 20.

Insoweit erscheint es als nicht von vornherein ausgeschlossen, dass das BAG, in dem es die Kündigung von Rosahl für wirksam erachtet hat, das Grundrecht auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen eines Arbeitsverhältnisses aus Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh verletzt hat. Denn die Kündigung Rosahls (nur) wegen seiner Heterosexualität stellt jedenfalls i.S.d. Art. 21 Abs. 1 GRCh eine "Diskriminierung" wegen der der sexuellen Ausrichtung dar. Insoweit ist zu beachten dass nach Auffassung des EuGH die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU (einschließlich der Richtlinie 2000/78/EG) in den von ihnen erfassten Bereichen das (heute) in Art. 21 GRCh niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot jeweils konkretisieren.

Anmerkung: Siehe hierzu EuGH (GK), C-414/16 v. 17.4.2018, Abs. 47 - Egenberger.

Insoweit folgt aus Art. 2 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2000/78/EG, dass eine (unmittelbare) Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung (jedenfalls) vorliegt, wenn eine Person wegen ihrer sexuellen Ausrichtung in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person mit einer anderen sexuellen Ausrichtung erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Hier ist Rosahl von Plutory ausschließlich wegen seiner Heterosexualität gekündigt worden, während er nicht gekündigt worden wäre, wenn er homosexuell gewesen wäre. Daher liegt hier eine diskriminierende Kündigung i.S. des Art. 21 i.V.m. Art. 30 GRCh vor, so dass insoweit eine Verletzung des Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh durch das BAG als möglich erscheint.

cc) Ergebnis zu b)

Im Hinblick auf das aus Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh folgende Unionsgrundrecht auf Schutz vor diskriminierenden Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ist Rosahl somit als beschwerdebefugt. Demgegenüber ist Art. 15 Abs. 1 GRCh hier wegen des Vorrangs dieses Grundrechts aus Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh nicht einschlägig, so dass insoweit keine Beschwerdebefugnis gegeben ist.

c) Mögliche Verletzung des Art. 47 GRCh

Schließlich behauptet Rosahl eine Verletzung des Art. 47 GRCh (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht), weil das BAG eine Richtervorlage entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV ohne hinreichende Begründung unterlassen habe. Insoweit ist zunächst festzuhalten, dass Art. 47 GRCh kein mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vergleichbares Recht auf einen gesetzlichen Richter enthält. Ein "Gericht" i. S. des Art. 47 GRCh liegt zwar nur vor, wenn dieses zuvor durch ein Gesetz errichtet ist. Hieraus wird aber nicht auch ein Recht auf den "gesetzlichen Richter" (vgl. B II 1 a) in dem Sinne abgeleitet, dass auch der zur Entscheidung berufene Richter im voraus durch generelle, jeden möglichen Einzelfall erfassende Regelungen möglichst eindeutig festgelegt sein soll (und nicht nur die Zuständigkeit des Gerichts und dessen etwaiger Spruchkörper [unmittelbar oder mittelbar] auf der Grundlage eines Gesetzes bestimmt sein muss).

Anmerkung: Siehe hierzu Eser/Kubiciel, in: Meyer/Hölscheidt, Art. 47 Rn. 33 f.

Indem Rosahl jedoch in Zusammenhang mit der Rüge des Art. 47 GRCh weniger darauf abstellt, dass das BAG seiner Pflicht zur Richtervorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachgekommen ist, sondern darauf, dass das BAG das Absehen von einer Richtervorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht ausreichend begründet habe, rügt er der Sache nach, dass das BAG seinem Grundrecht auf ein faires (Gerichts-)Verfahren nach Art. 47 Abs. 2 GRCh nicht hinreichend nachgekommen ist. Mit dieser Begründung erscheint eine Verletzung des Art. 47 Abs. 2 GRCh nicht von vornherein ausgeschlossen.

Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh haben nämlich die Rechte der Charta, die den Rechten der EMRK entsprechen die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK (im Lichte der Rechtsprechung des EGMR) verliehen wird. Insoweit ist anerkannt, dass Art. 47 GRCh ein Recht gewährt, dass dem des Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht (wenn auch der Anwendungsbereich des Art. 47 GRCh über den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK hinaus geht).

Anmerkung: Siehe hierzu m.w.N. Eser/Kubiciel, in: Meyer/Hölscheidt, Art. 47 Rn. 30.

Zum Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK hat der EGMR jedoch festgestellt, dass es gegen dieses Recht verstößt, wenn ein letztinstanzliches Gericht i. S. des Art. 267 Abs. 3 AEUV von einer von einem Prozessbeteiligten angeregten Vorlage zum EuGH absieht, ohne dies angemessen zu begründen.

Anmerkung: Grundlegend EGMR, 3989/07 and 38353/07 v. 20.9.2011, Abs. 54 ff. - Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien; ferner EGMR, 4832/04 v. 10.4.2012, Abs. 87 ff. - Vergauwen ./. Belgien; EGMR, 171209/09 v. 8.4.2014, Abs. 31 ff. - Dhabi ./. Italien (deutsche Übersetzung: NVwZ-RR 2015, 546 ff.); EGMR, 38369/09 v. 21.7.2015, Abs. 69 ff. - Schipani u. a. ./. Italien.

Vor diesem Hintergrund ist weder ausgeschlossen, dass diese Rechtsprechung des EGMR nach Art. 52 Abs. 3 GRCh zur Auslegung des Art. 47 Abs. 2 GRCh heranzuziehen ist.

Anmerkung: Ausführlich hierzu Krommendijk, ELRev. (42) 2017, 46, 59 ff.; ferner EuGH (GK), C-561/19 v. 6.10.2021, Abs. 51 - Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi; Guiot, CdE 2022, 419, 436 ff.

Noch erscheint im vorliegenden Fall als von vornherein ausgeschlossen, dass die vom BAG gegeben Begründung für die Nichtvorlage den Anforderungen des in diesem Lichte zu verstehenden Art. 47 Abs. 2 GRCh nicht entspricht.

d) Ergebnis zu 3

Rosahl ist daher auch im Hinblick auf seine Unionsgrundrechte aus Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh und aus Art. 47 Abs. 2 GRCh als beschwerdebefugt anzusehen. Demgegenüber ist Art. 15 Abs. 1 GRCh hier wegen des Vorrangs des aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh herzuleitenden Unionsgrundrechts auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen von vornherein nicht einschlägig, so dass insoweit eine Beschwerdebefugnis nicht gegeben ist.

4. Ergebnis zu III

Rosahl kann also durch das Urteil des BAG in seinen Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG und in seinen grundrechtsgleichen Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie in seinen Unionsgrundrechten aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh und Art. 47 Abs. 2 GRCh verletzt sein, so dass er (nur) insoweit beschwerdebefugt ist.

IV. Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) und "Subsidiarität" der Verfassungsbeschwerde

Da gegen Entscheidungen des BAG ein weiterer Rechtsbehelf nicht gegeben ist, ist auch der Rechtsweg gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG erschöpft. Rosahl kann insbesondere nicht vorgeworfen werden, wegen der geltend gemachten Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch das BAG keine Anhörungsrüge nach § 78a ArbGG erhoben zu haben. Zwar gehört auch die Erhebung der Anhörungsrüge zum "Rechtsweg" i.S.d. § 90 Abs. 2 BVerfG.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 848/07 v. 25. 11. 2008, Abs. 30 = BVerfGE 122, 190, 198.

Jedoch wäre eine derartige Anhörungsrüge auch gegen die Entscheidung des BGH nicht statthaft gewesen: Mittels der Anhörungsrüge nach § 78a ArbGG können nur Verletzungen des Art. 103 Abs. 1 GG gerügt werden (die hier nicht erkennbar sind), nicht aber die Verletzung anderer (Prozess-)Grundrechte, wie eben Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG oder des Art. 47 Abs. 2 GRCh.

Anmerkung: Vgl. hierzu BVerfG (K), 2 BvR 2101/09 v. 9. 11. 2010, Abs. 28 ff. = NJW 2011, 2417; BVerfG (K), 1 BvR 3007/07 v. 28. 4. 2011, Abs. 17 = NJW 2011, 2276. Zur Frage der Rechtswegerschöpfung und der "Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde" bei Statthaftigkeit einer Anhörungsrüge nach § 33a und § 311a StPO, § 321a ZPO, § 152a VwGO siehe Punkt IV bei diesem Hinweis.

Es ist auch keine weitere sonstige Möglichkeit erkennbar, wie Rosahl, außer durch Erhebung einer Verfassungsbeschwerde, seine vermeintlichen Rechte noch durchsetzen könnte, so dass der Verfassungsbeschwerde auch nicht der Grundsatz ihrer "Subsidiarität" entgegensteht.

Anmerkung: Nach dem - vom BVerfG letztlich in erweiternder Auslegung des § 90 Abs. 2 BVerfGG "gefundenen" - Grundsatz der "Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde" (hierzu allgemein Peters/Markus, JuS 2013, 887 ff.) hat der Beschwerdeführer neben der Erschöpfung des Rechtswegs alle anderweitig bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, die geeignet sind, die Grundrechtsverletzung zu beseitigen oder ohne Inanspruchnahme des BVerfG im praktischen Ergebnis dasselbe zu erreichen.

V. Frist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG)

Die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG wurde nach dem Sachverhalt eingehalten.

VI. Ergebnis zu A

Die Verfassungsbeschwerde ist somit insgesamt zulässig.

B) Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn Rosahl durch die Entscheidung des BAG tatsächlich in seinen deutschen Grundrechten oder seinen Unionsgrundrechten verletzt wird. Ob die Entscheidung des BAG generell mit dem Unionsrecht (etwa der Richtlinie 2000/78/EG) vereinbar ist, ist dagegen nicht Prüfungsgegenstand der Verfassungsbeschwerde und wird vom BVerfG nicht geprüft. Das BVerfG sieht also weder eine Verletzung deutscher Grundrechte noch eine Verletzung der Unionsgrundrechte schon darin, dass der Verfassungsbeschwerde angegriffene deutsche Akt öffentlicher Gewalt mit (sonstigem) Unionsrecht unvereinbar ist.

Anmerkung: BVerfG, 1 BvR 1778/01 v. 16.3.2004, Abs. 55, 58 = BVerfGE 110, 141, 153 f.; BVerfG, 1 BvR 2835/17 v. 19.5.2020, Abs. 85 = BVerfGE 154, 152, 215; BVerfG, 1 BvR 1873/13, 1 BvR 2618/13 v. 27.5.2020, Abs. 88 = BVerfGE 155, 119, 165.; BVerfG (K), 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12 v. 4.11.2015, Abs. 19 = NJW 2016, 1436 Abs. 19; näher hierzu bei D IV 2 dieser Anmerkung.

Hier kommt zunächst Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG (A III 1) und des Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh herzuleitenden Unionsgrundrechts auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen (A III 3 b bb) durch das vom BAG gefundenen Verfahrensergebnis in Betracht, weil das BAG die von Plutory ausgesprochene Kündigung von Rosahl für wirksam erachtete (I). Ferner kommt auch eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (A III 2) und des Art. 47 Abs. 2 GRCh (A III 3 c) in Betracht, wegen einer Nichtvorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV bzw. wegen unzureichender Begründung dieser Nichtvorlage in Betracht (II).

Anmerkung: Siehe zur Prüfung der Begründetheit einer Urteilsverfassungsbeschwerde diesen Hinweis.

I. Grundrechtverletzung durch Nichtbeanstandung der Wirksamkeit der Kündigung.

Indem das BAG die Wirksamkeit der Kündigung von Rosahl durch Plutory nicht beanstandete könnte es die sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebenden Schutzpflichten (1) und das aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh herzuleitende Unionsgrundrecht auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen verletzt haben (2).

1. Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG durch Wirksamerklärung der Kündigung?

Indem das BAG die gegenüber Rosahl ausgesprochene Kündigung für wirksam hält, könnte es Art. 12 Abs. 1 GG verletzt haben. Insoweit ist zu beachten, dass Rosahl ein staatliches Unterlassen rügt. Er behauptet letztlich, dass das BAG aus Art. 12 Abs. 1 GG verpflichtet gewesen sei, die ihm gegenüber von einem Privaten ausgesprochene Kündigung für unwirksam zu erklären. Es geht also nicht um die Abwehr staatlicher Eingriffe, sondern um die Frage, inwieweit sich aus den Grundrechten ein Anspruch darauf ergibt, dass der Staat den Grundrechtsträger vor Beeinträchtigung seiner grundrechtlich geschützten Interessen durch Dritte schützt. Die Verfassungsbeschwerde kann also nur dann begründet sein, wenn sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ein gegen den Staat gerichteter Anspruch des Arbeitnehmers auf staatlichen Schutz vor Kündigungen des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber ergibt und das BAG diesem Anspruch nicht nachgekommen ist.

Anmerkung: Sieht der Beschwerdeführer eine Verletzung von Grundrechten darin, dass der Staat ihm gegenüber bestimmte "Leistungen" nicht erbringt, auf die er aus den Grundrechten einen "Anspruch" herleiten zu können glaubt, rügt er also letztlich ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt, so ist der übliche dreigliedrige Aufbau (Schutzbereich/Eingriff/verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffes) kaum sinnvoll. Vielmehr ist zu fragen, (1.) welches Grundrecht das Interesse schützt, das der Betroffene durch staatliche Leistungen gefördert bzw. das er durch den Staat vor Beeinträchtigungen (durch Dritte) geschützt sehen will (dies entspricht der Schutzbereichsprüfung), (2.) ob und inwieweit sich aus diesem Grundrecht der vom Beschwerdeführer geltend gemachte "Anspruch" ergibt, und (3.), ob diesem "Anspruch" durch die angegriffenen Maßnahmen Genüge getan wurde. Wird diesem "Anspruch" durch die angegriffene Maßnahme nicht Genüge getan, kommt eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieses "Eingriffs" nicht in Betracht, da sich aus allen Grundrechten - wenn überhaupt - unmittelbar nur absolute Mindestansprüche herleiten lassen. Dies bedeutet umgekehrt, dass diese Mindestansprüche dann auch wirklich - ohne Gesetzesvorbehalt - in den Grundrechten garantiert sind. Dementsprechend muss ein Unterschreiten dieser Mindestansprüche dann auch schlechthin verfassungswidrig sein (siehe hierzu auch den Rechtschreibreform-Fall zur Verletzung aus den Grundrechten hergeleiteter Leistungs- und Teilhabeansprüche).

a) Lässt sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ein Recht auf staatlichen Schutz des Arbeitnehmers vor Kündigungen des Arbeitgebers herleiten?

Art. 12 Abs. 1 GG garantiert neben der freien Wahl des Berufes auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Während es bei der Berufswahl um die freie Entscheidung des Einzelnen geht, auf welchem Feld er sich beruflich betätigen will, betrifft die Arbeitsplatzwahl die Entscheidung, an welcher Stelle er dem gewählten Beruf nachgehen möchte. Bei der Wahl des Arbeitsplatzes geht es damit genauer um die Entscheidung für eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit oder ein bestimmtes Arbeitsverhältnis. Geschützt wird zunächst der Entschluss des Einzelnen, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen, wozu bei abhängig Beschäftigten auch die Wahl des Vertragspartners samt den dazu notwendigen Voraussetzungen, insbesondere der Zutritt zum Arbeitsmarkt gehört. Darüber hinaus schützt das Recht der freien Arbeitsplatzwahl, neben der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung, auch den Willen des Einzelnen, diese beizubehalten oder aufzugeben.

Art. 12 Abs. 1 GG entfaltet seinen Schutz demnach gegen alle staatlichen Maßnahmen, die diese Wahlfreiheit einschränken, etwa indem sie den Einzelnen am Erwerb eines zur Verfügung stehenden Arbeitsplatzes hindern, ihn zur Annahme eines bestimmten Arbeitsplatzes (bei einem bestimmten Arbeitgeber) zwingen oder die Aufgabe eines Arbeitsplatzes verlangen.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG (K), 1 BvR 1741/09 v. 25. 1. 2011 Abs. 70 = NJW 2011, 1427.

Dagegen ist mit der Wahlfreiheit weder ein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl noch eine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz verbunden. Weil die Grundrechte eben nicht unmittelbar zwischen Privaten gelten (siehe oben A III 1 a), verleiht Art. 12 Abs. 1 GG auch keinen unmittelbaren Schutz gegen den Verlust eines Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition, d.h. aufgrund Kündigung des (vom Staat verschiedenen) Arbeitgebers.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 1341/90 v. 24.4.1991 = BVerfGE 84, 133, 146 f.; BVerfG, 1 BvR 454/91 u. a. v. 10.3.1992 = BVerfGE 85, 360, 372 f.; BVerfG, 1 BvR 1397/93 v. 21.2.1995 = BVerfGE 92, 140, 150; BVerfG (K), 1 BvR 1741/09 v. 25. 1. 2011 Abs. 72 = NJW 2011, 1427.

Das Grundgesetz geht vielmehr implizit davon aus, dass die Privatautonomie als Strukturelement einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung grundsätzlich geeignet ist, die gegenläufigen Interessen der Beteiligten angemessen auszugleichen, so dass der Staat grundsätzlich auch die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen zu respektieren hat. Dies ergibt sich schon daraus, dass ein Eingriff zum Schutze der Freiheit des einen Teils gleichzeitig einen Eingriff in die Freiheit des anderen Teils bedeutet.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 26/84 v. 7.2.1990 = BVerfGE 81, 242, 254; BVerfG, 1 BvR 567, 1044/89 v. 19.10.1993 = BVerfGE 89, 214, 231 f.; BVerfG, 1 BvR 3080/09 v. 11.4.2018, Abs. 37 = BVerfGE 148, 267, 282; BVerfG (K), 1 BvR 879/12 v. 27.8.2019, Abs. 6 = NJW 2019, 3760 Abs. 6.

Privatautonomie kann aber nur funktionieren, solange einer der Vertragsteile nicht faktisch ein so starkes Übergewicht hat, dass er vertragliche Regelungen faktisch diktieren kann; sonst ist kein angemessener Interessenausgleich mehr gewährleistet. Daher ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG aus den Grundrechten eine Pflicht des Staates, das Privatrecht so zu gestalten, dass ein Ungleichgewicht der Vertragspartner nicht zu einer Fremdbestimmung des unterlegenen Vertragspartners führt.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 26/84 v. 7.2.1990 = BVerfGE 81, 242, 255; BVerfG, 1 BvR 567, 1044/89 v. 19.10.1993 = BVerfGE 89, 214, 232 f.; BVerfG (K), 1 BvR 1909/06 v. 23.11.2006, Abs. 48 f. = NJW 2007, 286, 287; BVerfG (K), 1 BvR 2160/09 und 851/10 v. 7.9.2010, Abs. 34 = NJW 2011, 1339 f.; ähnlich auch BVerfG, 1 BvR 3080/09 v. 11.4.2018, Abs. 33 = BVerfGE 148, 267, 280 f.

Jedoch steht dem Gesetzgeber hier, wie sonst, wenn es um den Ausgleich widerstreitender, jeweils grundrechtlich geschützter Interessen geht, zur Regelung eines gerechten Ausgleichs ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen liegt in seiner politischen Verantwortung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Interessenlage, also die Gewichtung der einander entgegenstehenden Belange und die Bestimmung ihrer Schutzbedürftigkeit. Eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten kann in einer solchen Lage nur festgestellt werden, wenn eine Grundrechtsposition den Interessen des Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, dass in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann.

Anmerkung: So BVerfG, 1 BvL 15/87 v. 27.1.1998, Abs. 29 = BVerfGE 97, 169, 176 f.; BVerfG, 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14 v. 6.6.2018, Abs. 42 f. = BVerfGE 149, 126, 142 f.; vgl. auch BVerfG, 1 BvR 26/84 v. 7.2.1990 = BVerfGE 81, 242, 254 f.; BVerfG, 1 BvR 567, 1044/89 v. 19.10.1993 = BVerfGE 89, 214, 232 f.; BVerfG, 1 BvR 1585/13 v. 31.5.2016 Abs. 70 ff. = BVerfGE 142, 74, 96 ff.; BVerfG, 1 BvR 16/13 v. 6.11.2019, Abs. 76 ff. = BVerfGE 152, 152, 185 f. - Recht auf Vergessen I; BVerfG (K), 1 BvR 1909/06 v. 23.11.2006, Abs. 49 = NJW 2007, 286, 287. Siehe hierzu ferner den Geschlossene-Gesellschaft-Fall.

Für das Arbeitsrecht bedeutet dies, dass die Privatrechtsordnung berücksichtigen muss, dass die berufliche Tätigkeit des Arbeitnehmers von dem Abschluss und dem Fortbestand von Arbeitsverträgen abhängt und der Arbeitsplatz die wirtschaftliche Existenzgrundlage für ihn und seine Familie ist. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird diese Existenzgrundlage in Frage gestellt. Die Aussichten, eine ähnliche Position ohne Einbußen an Lebensstandard zu finden, hängen dann vom Arbeitsmarkt ab und sind in Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit vor allem für ältere Arbeitnehmer schlecht. Gelingt es ihnen nicht, alsbald einen neuen Arbeitsplatz zu finden, geraten sie häufig in eine Krise, in der ihnen durch die Leistungen der Arbeitslosenversicherung nur teilweise und nur für einen begrenzten Zeitraum geholfen wird.

Diese - typischerweise gegebene - existentielle Abhängigkeit des Arbeitnehmers von seinem Arbeitsplatz wird im Regelfall zu einem Übergewicht des Arbeitgebers bei der Gestaltung arbeitsrechtlicher Beziehungen führen, insbesondere auch, was die Beendigung des Arbeitsverhältnisses angeht.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG (K), 1 BvR 1909/06 v. 23.11.2006, Abs. 51 f. = NJW 2007, 286, 287 f.

Bestände hier das Prinzip der freien Kündigung durch den Arbeitgeber, wäre der Arbeitnehmer durchgängig der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert. Deshalb leitet das BVerfG aus Art. 12 Abs. 1 GG eine staatliche Schutzpflicht zugunsten aller Arbeitnehmer her: Der Staat hat (materiellrechtlich) dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer in jedem Fall zumindest vor willkürlichen und auf sachfremde Motive gestützte Kündigungen geschützt wird, dass bei Auswahl zwischen mehreren Arbeitnehmern ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme ausgeübt wird und dass ein durch langjährige Mitarbeit verdientes Vertrauen nicht unberücksichtigt bleibt.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvL 15/87 v. 27.1.1998, Abs. 36 f. = BVerfGE 97, 169, 179; ferner BVerfG, 1 BvR 26/84 v. 7.2.1990 = BVerfGE 81, 242, 254; BVerfG, 1 BvR 1341/90 v. 24.4.1991 = BVerfGE 84, 133, 146; BVerfG, 1 BvR 1741/09 v. 25.1.2011, Abs. 72 = BVerfGE 128, 157, 176 f.; BVerfG (K), 1 BvR 792/03 v. 30.7.2003, Abs. 16 ff. = NJW 2003, 2815. Zu ähnlichen Überlegungen im Bereich des Verbraucherschutzes: BVerfG, 1 BvR 567, 1044/89 v. 19.10.1993 = BVerfGE 89, 214, 231 f.; BVerfG, 1 BvR 3080/09 v. 11.4.2018, Abs. 47 = BVerfGE 148, 267, 286.

Somit kann Rosahl grundsätzlich aus Art. 12 Abs. 1 GG einen Anspruch auf staatlichen Schutz vor Kündigungen des Arbeitsverhältnisses durch seinen Arbeitgeber herleiten.

b) Ist das BAG seinem Schutzauftrag aus Art. 12 Abs. 1 GG im vorliegenden Fall nachgekommen?

Das BAG ist diesem sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebenden Anspruch des Rosahl auf staatlichen Schutz vor Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nicht nachgekommen, wenn es entweder Normen angewendet hat, die diesem Schutzauftrag nicht Genüge tun, oder in Auslegung dieser Normen einen Rechtssatz aufgestellt hat, der, wäre er vom Gesetzgeber erlassen worden, seinerseits diesem Schutzauftrag nicht genügen würde.

Anmerkung: Zur Erinnerung: Ob die Entscheidung eines deutschen Gerichts u. U. deshalb deutsche Grundrechte verletzt, weil es den unionsrechtlichen Anforderungen (jenseits der Anforderungen der Unionsgrundrechte) nicht gerecht wird, wird vom BVerfG nicht geprüft; näher hierzu m.w.N. bei D IV 2 dieser Anmerkung.

aa) Verwirklichung der Schutzpflicht durch das geltende Kündigungsschutzgesetz

Fraglich ist daher zunächst, inwieweit das geltende Kündigungsschutzrecht, insbesondere § 1 KSchG diesem Schutzauftrag Genüge tut. § 1 Abs. 1 KSchG schränkt die Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers (nach Ablauf der Probezeit) ein, indem er als Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Kündigung deren soziale Rechtfertigung statuiert. Welche Kündigungen als sozial ungerechtfertigt gelten, wird in § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG konkretisiert. Diese Vorschrift unterscheidet zwischen personen-, verhaltens- und betriebsbedingten Kündigungen.

Anmerkung: Eine personenbedingte Kündigung liegt vor, wenn persönliche Fähigkeiten und Eigenschaften des Arbeitnehmers in Frage stehen, die von ihm nicht beeinflusst werden können, während eine verhaltensbedingte Kündigung vorliegt, wenn Anlass der Kündigung ein dem Arbeitnehmer zurechenbares Verhalten ist, das insbesondere in einer Vertragsverletzung liegen kann. Ein Grund in der Person liegt also vor, wenn der Arbeitnehmer will, aber nicht kann; ein Grund im Verhalten ist dagegen gegeben, wenn der Arbeitnehmer kann, aber nicht will (vgl. hierzu Linck, in: Schaub [Hrsg.], Arbeitsrechts-Handbuch, 19. Aufl. 2021, § 133 Rn. 1). Bei einer betriebsbedingten Kündigung liegt schließlich der Kündigungsgrund nicht in der Sphäre des Arbeitnehmers, sondern des Arbeitgebers.

Während die Zulässigkeit der betriebsbedingten Kündigung gemäß § 1 Abs. 3 bis 5 KSchG ausdrücklich unter dem Vorbehalt der richtigen Sozialauswahl (Berücksichtigung des Alters, der Länge der Betriebszugehörigkeit etc.) steht, erscheint zumindest nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG jeder in der Person und dem Verhalten des Arbeitnehmers liegende Grund eine Kündigung zu rechtfertigen, so dass der Arbeitgeber jedem kündigen könnte, "dessen Nase ihm nicht (mehr) passt". Dies soll aber allgemeiner Meinung nach gerade durch § 1 Abs. 2 KSchG ausgeschlossen werden: Das Wort "bedingt" in § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist hier im Sinne von "erforderlich" zu verstehen.

Anmerkung: Siehe hierzu Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 11. Aufl. 2015, Rn. 1196 ff.

Damit reicht es für die soziale Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG nicht aus, dass der Arbeitgeber die Kündigung an der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers festmacht, sondern es müssen objektiv nachprüfbare sachliche Gründe die Kündigung wegen der Person oder des Verhaltens des Arbeitnehmers sachlich und damit sozial rechtfertigen. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses muss mit anderen Worten für den Arbeitgeber unzumutbar sein, was sich nur nach einer umfassenden Interessenabwägung zwischen Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers und dem Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses klären lässt.

Wird § 1 KSchG so verstanden, erfüllt er die Anforderungen des Schutzauftrags aus Art. 12 Abs. 1 GG.

Anmerkung: So auch BVerfG, 1 BvR 1341/90 v. 24.4.1991 = BVerfGE 84, 133, 146 f.; BVerfG, 1 BvR 1397/93 v. 21.2.1995 = BVerfGE 92, 140, 150; BVerfG (K), 1 BvR 792/03 v. 30.7.2003, Abs. 16 = NJW 2003, 2815.

bb) Verwirklichung der Schutzpflicht außerhalb des Anwendungsbereiches des Kündigungsschutzgesetzes

Jedoch gilt § 1 KSchG nicht in allen Arbeitsverhältnissen. Insbesondere findet § 1 KSchG aufgrund der "Kleinbetriebsklausel" des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG nicht auf Betriebe Anwendung, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer beschäftigt werden (d.h. es müssen mindestens sechs beschäftigt sein). Es ist daher zu fragen, ob diese Kleinbetriebsklausel mit der Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich zu vereinbaren ist.

(1) Verstärkte Schutzbedürftigkeit des Arbeitgebers

Hier ist zu berücksichtigen, dass das Kündigungsrecht des Kleinunternehmers im Gegensatz zum Kündigungsrecht in Großunternehmen als schutzwürdiger erscheint, so dass grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Gesetzgeber in diesen Fällen den Kündigungsschutz einschränkt und somit den Arbeitnehmern in Kleinbetrieben ein größeres rechtliches Risiko des Arbeitsplatzverlustes zumutet als Arbeitnehmern in Großbetrieben: Nach Ansicht des BVerfG hängt in einem Betrieb mit wenigen Arbeitskräften nämlich der Geschäftserfolg mehr als bei Großbetrieben von jedem einzelnen Arbeitnehmer ab. Auf seine Leistungsfähigkeit komme es ebenso an wie auf Persönlichkeitsmerkmale, die für eine Zusammenarbeit, die Außenwirkung und das Betriebsklima von Bedeutung sind. Kleine Teams seien anfällig für Missstimmungen und Querelen, die sich bei geringerem Geschäftsvolumen spürbar auf das Ergebnis durchschlagen könnten; Ausfälle ließen sich bei geringerem Personalbestand nur schwer ausgleichen, auch sei das Vertrauensverhältnis zwischen Chef und Arbeitnehmer weit wichtiger. Es sei damit insgesamt schwerer, weniger leistungsfähiges, weniger benötigtes oder auch nur weniger genehmes Personal zu ertragen.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvL 15/87 v. 27.1.1998, Abs. 32 = BVerfGE 97, 169, 177 f.

(2) Notwendigkeit eines Mindestschutzes für Arbeitnehmer auch in Kleinbetrieben

Jedoch darf auch diese gesteigerte Schutzwürdigkeit des Arbeitgebers in diesen Fällen nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer keinerlei Kündigungsschutz gewährt wird. Der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz des Arbeitnehmers vor Verlust durch private Disposition muss auch in diesen Fällen gewährleistet sein, also insbesondere auch der Schutz vor Kündigungen aus willkürlichen und sachfremden Motiven. Der Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG ist damit noch nicht Genüge getan, wenn ein Kündigungsschutzrecht für bestimmte Arbeitnehmer existiert, sondern die Privatrechtsordnung muss für jedes Arbeitsverhältnis zumindest ein Mindestmaß an Kündigungsschutz gewähren. Ergäbe sich somit aus dem KSchG, dass Arbeitnehmern in Kleinbetrieben ohne Rücksicht auf deren schutzwürdige Interessen nach bloßer Willkür gekündigt werden kann, müsste man wohl § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG als verfassungswidrig ansehen.

Anmerkung: In diese Richtung wohl BVerfG, 1 BvL 15/87 v. 27.1.1998, Abs. 27 ff. = BVerfGE 97, 169, 176 ff.; BAG, 2 AZR 15/00 v. 21.2.2001, Abs. 20 ff. = BAGE 97, 92, 97; Berkowsky, NJW 2009, 113 f.

(3) Möglichkeit eines Rückgriffs auf die zivilrechtlichen Generalklauseln zur Gewährleistung des Mindestschutzes

§ 23 KSchG als verfassungswidrigen Ausschluss eines Mindestschutzes der Arbeitnehmer anzusehen, ließe sich jedoch vermeiden, wenn außerhalb des Anwendungsbereiches des § 1 KSchG ein Schutz vor willkürlichen und sachfremden Kündigungen in Anwendung des § 242 und des § 138 Abs. 1 BGB (bzw. § 134 BGB i. V. m. § 1 ff. AGG) konstruiert werden könnte. Kündigungsschutz durch Heranziehung der zivilrechtlichen Generalklauseln zu gewähren, würde auch der Schutzpflicht des Staates aus Art. 12 Abs. 1 GG genügen; denn das BVerfG nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass dann, wenn der Gesetzgeber davon absieht, zwingendes Vertragsrecht für bestimmte Lebensbereiche zu schaffen, dies nicht bedeute, dass die Vertragspraxis dem freien Spiel der beteiligten Kräfte ausgesetzt wäre. Soweit sich aus der Verfassung eine Schutzpflicht des Staates bezüglich eines Vertragspartners herleiten lasse, wende sich nämlich bei Fehlen spezialgesetzlicher Regelungen dieser Schutzauftrag an den Richter, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte unter Heranziehung der zivilrechtlichen Generalklauseln zur Wirkung zu verhelfen habe.

Anmerkung: So etwa BVerfG, 1 BvR 26/84 v. 7.2.1990 = BVerfGE 81, 242, 255 f.; BVerfG, 1 BvR 472/14 v. 24.2.2015, Abs. 39 = BVerfGE 138, 377, 391 f.; BVerfG, 1 BvR 3080/09 v. 11.4.2018, Abs. 32 f. = BVerfGE 148, 267, 280 f. Das BVerfG hat insbesondere in der Bürgenentscheidung (BVerfG, 1 BvR 567, 1044/89 v. 19.10.1993 = BVerfGE 89, 214, 232 ff.) ganz allgemein das Vertragsrecht des BGB daraufhin überprüft, ob es wirksam vor Fremdbestimmung durch "den Stärkeren" schütze und diese Regelungen vor allem deshalb für mit dem Grundgesetz vereinbar gehalten, weil gerade die Generalklauseln des BGB es dem Richter ermöglichten, auch ohne spezialgesetzliche Regelungen bei gestörter Vertragsparität ausgleichend zu wirken; ähnlich auch BVerfG, 1 BvR 1585/13 v. 31.5.2016 Abs. 70 ff. = BVerfGE 142, 70, 96 ff. (für Ausgestaltung der Reichweite von Urheberrechten); BVerfG (K), 1 BvR 2160/09 und 851/10 v. 7.9.2010, Abs. 35 = NJW 2011, 1339 f. (für Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen); BVerfG (K), 1 BvR 2012/13 v. 24.3.2016, Abs. 10 ff. = NJW 2016, 3013, Abs. 10 ff. (zur Berücksichtigung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG bei Auslegung des § 254 Abs. 1 BGB); BVerfG (K), 1 BvR 2103/16 v. 3.6.2022, Abs. 32 ff. = NVwZ 2022, 1785 Abs. 32 ff. (zur Berücksichtigung des Justizgewährleistungsanspruchs bei Kontrolle einer privatrechtlichen Schiedklausel im Bereich des Sports am Maßstab des GWB).

Kündigungsschutz außerhalb des Anwendungsbereiches des § 1 KSchG durch Rückgriff auf die zivilrechtlichen Generalklauseln zu gewähren, kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn ein solcher Rückgriff nicht ausdrücklich spezialgesetzlich ausgeschlossen ist.

Diese Ansicht ist in der arbeitsrechtlichen Literatur verschiedentlich vertreten worden: § 1 i.V.m. § 23 KSchG wurde die Wertung entnommen, dass Umstände, die im Rahmen des § 1 Abs. 2 KSchG zu würdigen sind, nach dem Willen des Gesetzgebers außerhalb des Anwendungsbereichs des § 1 KSchG nicht als Verstöße gegen § 138 BGB und § 242 BGB gewürdigt werden könnten. Begründet wurde dies vor allem mit der früheren Ausgestaltung des KSchG, nach der die Fristenregelung des § 4 KSchG nur für einzelne "Kündigungsunwirksamkeitsgründe" galt (nämlich für Kündigungen, die wegen § 1 Abs. 2 und 3 KSchG unwirksam waren und für Kündigungen aus "wichtigem Grund"). Ob diese Ansicht nach früherem Recht zwingend war, kann hier dahingestellt bleiben.

Anmerkung: Gegen diese frühere Ansicht (m.w.N.) z. B. Otto, JZ 1998, 852, 854 f.; Preis, NZA 1997, 1256, 1264 f.

Durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I 3002) sind § 4 und § 23 KSchG insoweit verallgemeinert worden, dass (auch in Kleinbetrieben) für alle "Kündigungsunwirksamkeitsgründe" - und damit auch für solche, die auf den zivilrechtlichen Generalklauseln beruhen - die Fristenregelung des § 4 KSchG gilt. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1205, S. 9 f. und S. 13 f.) wird insoweit ausdrücklich auf die Möglichkeit Bezug genommen, dass sich die Unwirksamkeit einer Kündigung auch unter Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln ergeben kann. Damit geht - jedenfalls heute - der Gesetzgeber selbst davon aus, dass es (auch in Kleinbetrieben) einen "Kündigungsschutz 2. Klasse" außerhalb des Anwendungsbereichs des § 1 KSchG geben kann.

Anmerkung: Siehe hierzu Berkowsky, NJW 2009, 113 und 115; Hanau, ZRP 1996, 349)

Hierbei ist allerdings zu beachten, dass der durch die Generalklauseln gewährte Schutz nicht dazu führen darf, dass dem Kleinunternehmer praktisch die im KSchG vorgeschriebenen Maßstäbe der Sozialwidrigkeit auferlegt werden; nur der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz des Arbeitnehmers kann hierdurch gesichert werden.

Anmerkung: So BVerfG, 1 BvL 15/87 v. 27.1.1998, Abs. 34 ff. = BVerfGE 97, 169, 178 f.; BAGE 97, 96 ff.; BAG, 2 AZR 672/01 v. 6.2.2003, Abs. 17 ff. = NJW 2003, 2188 f.; BAG, 2 AZR 107/19 v. 5.12.2019, Abs. 17 ff. = NJW 2020, 634 Abs. 17 ff.; Berkowsky, NJW 2009, 113.

(4) Ergebnis zu bb

Damit erscheint dann aber auch die Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG als verfassungsgemäß. Somit hat das BAG hier spezifisches Verfassungsrecht nicht schon dadurch verletzt, dass es in Anwendung des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG von der Nichtanwendbarkeit des § 1 KSchG ausging.

Anmerkung: Würde man hier von einer Verfassungswidrigkeit des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG ausgehen, wären die sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen nicht einfach zu bewältigen. Eine Nichtigkeitserklärung des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG hätte zur Folge, dass der weitreichende Kündigungsschutz des § 1 KSchG unterschiedslos auf alle Arbeitsverhältnisse Anwendung finden müsste - ein Ergebnis, das weder vom Gesetzgeber gewollt ist, noch wohl dem gesteigerten (ebenfalls grundrechtlich geschützten) Kündigungsinteresse des Kleinunternehmers gerecht würde. Die Anwendung des § 1 KSchG auch auf in Kleinunternehmen beschäftigte Arbeitnehmer könnte damit seinerseits verfassungswidrig sein, weil sie übermäßig in die Berufsausübungsfreiheit des Kleinunternehmers eingreift. Im Ergebnis würde das Verfahren daher wohl auf eine - in § 95 BVerfGG so nicht vorgesehene - Erklärung der Unvereinbarkeit des KSchG mit dem Grundgesetz verbunden mit einem Neuregelungsauftrag für den Gesetzgeber hinauslaufen, weil dem Gesetzgeber hier verschiedene Möglichkeiten zur Wahl stehen, wie er das Kündigungsschutzrecht in Kleinbetrieben ausgestaltet (vgl. hierzu BVerfG, 1 BvR 26/84 v. 7.2.1990 = BVerfGE 81, 242, 263; siehe zu dieser Art der Entscheidung nur Schlaich/Korioth, Rn. 394 ff. mit zahlreichen Beispielen [lesenswert]).

cc) Bedeutung des § 2 Abs. 4 AGG

Das BAG hatte im vorliegenden Fall zudem aber auch § 2 Abs. 4 AGG herangezogen, nach dem für Kündigungen (auch arbeitsrechtliche Kündigungen) nicht das AGG anwendbar sein soll, sondern ausschließlich die Bestimmungen des allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzrechts. § 2 Abs. 4 AGG könnte daher als gesetzlicher Auftrag verstanden werden, das allgemeine und besondere Kündigungsschutzrecht so auszulegen, dass Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität (vor denen das AGG schützen soll, vgl. § 1 AGG) bei Kündigungen nicht als unzulässig anzusehen sind.

Anmerkung: Siehe zum Folgenden BAG, 2 AZR 523/07 v. 6. 11. 2008, Abs. 72 = NZA 2009, 361, Abs. 40; BAG, 6 AZR 190/12 v. 19.12.2013 Abs. 14 ff. = NZA 2014, 372 Abs. 14 ff.; BAG, 2 AZR 237/14 v. 26.3.2015, Abs. 32 ff. = NJW 2015, 1899, Abs. 32 ff.; BAG, 6 AZR 457/14 v. 23.7.2015, Abs. 22 ff. = NJW 2016, 268, Abs. 22 ff.; BGH, II ZR 244/17 v. 26.3.2019, Abs. 16 ff. = BGHZ 221, 325 Abs. 16 ff.; siehe ferner die arbeitsrechtliche Fallbearbeitung von Jacobs/Krois, JuS 2016, 150, 153.

Wäre § 2 Abs. 4 AGG so zu verstehen, würde dies für den vorliegenden Fall bedeuten, dass bei Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln eine Kündigung (auch in Kleinbetrieben) nicht deshalb als unwirksam angesehen werden dürfte, weil sie aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität erfolgt. Derartige pauschale Diskriminierungen würden also im Bereich des Kündigungsschutzrechts pauschal gesetzlich gestattet, und insoweit willkürliche und sachfremde Kündigungen aus derartigen Gründen ohne Berücksichtigung der Interessen der Arbeitnehmer und unabhängig davon ermöglicht, ob sich die persönliche Eigenschaft, wegen der die Kündigung ausgesprochen wird, nachteilig auf den Betrieb bzw. betriebliche Abläufe ausgewirkt hat. Dies wäre mit der angenommenen Pflicht des Staates, alle Arbeitnehmer vor willkürlichen und sachfremden Kündigungen zu schützen, nicht vereinbar, so dass bei einem solchen Verständnis § 2 Abs. 4 AGG wegen "Schutzpflichtunterschreitung" als verfassungswidrig anzusehen wäre.

Allerdings ist ein solches Verständnis des § 2 Abs. 4 AGG nicht zwingend und kaum nahe liegend: Es liegt näher, dass es bei § 2 Abs. 4 AGG nicht um einen Anwendungsausschluss für die Diskriminierungsverbote des AGG geht, sondern vielmehr um die Beschreibung des Weges, auf dem die Diskriminierungsverbote des AGG in das bisherige System des Kündigungsschutzrechts nach der Vorstellung des Gesetzgebers einzupassen sind. Für den Weg, auf dem dies geschieht, sollen allerdings nach § 2 Abs. 4 AGG "ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz" maßgeblich sein: Dies bedeutet u.a., dass der Grundsatz des Kündigungsrechts, dass rechtswidrige Kündigungen unwirksam sind, und der Grundsatz, dass die Unwirksamkeit gerichtlich nach Maßgabe des Kündigungsschutzgesetzes geltend zu machen ist, jeweils unangetastet bleibt und nicht etwa eine "Diskriminierungsklage" neben die Kündigungsschutzklage treten oder etwa die besonderen Beschwerderechte nach dem AGG irgendetwas an der kündigungsrechtlichen Dogmatik ändern sollen. Vielmehr sollen Verstöße gegen die Diskriminierungsverbote des AGG nach den kündigungsrechtlichen Maßgaben gewertet werden, also für den Bereich des KSchG im Zusammenhang mit der Frage erörtert werden, ob die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist oder nicht. Dagegen sollen die Diskriminierungsverbote nicht als eigene Unwirksamkeitsnormen angewendet werden.

Anmerkung: Siehe auch Berkowsky, NJW 2009, 113, 115.

Bei einem solchen Verständnis des § 2 Abs. 4 AGG steht das AGG einer Auslegung der allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzvorschriften nicht entgegen, nach der Kündigungen allein aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität schützen soll, so dass auch § 2 Abs. 4 AGG nicht wegen "Unterschreitung" der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten als verfassungswidrig anzusehen ist.

Somit hat das BAG hier spezifisches Verfassungsrecht nicht schon dadurch verletzt, dass es im vorliegenden Fall auch § 2 Abs. 4 AGG herangezogen hat: Es hat nicht eine verfassungswidrige Norm angewandt, sondern allenfalls eine verfassungsgemäße Norm nicht verfassungskonform ausgelegt.

dd) Verwirklichung der Schutzpflicht durch BAG

Aus dem Gesagten ergibt sich jedoch, dass das BAG das Grundrecht Rosahls aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt hat, indem es die Kündigung nicht an den zivilrechtlichen Generalklauseln gemessen hat, sondern vom Prinzip der Kündigungsfreiheit außerhalb des Anwendungsbereiches des § 1 KSchG ausging: Es hat damit Rosahl jeglichen Kündigungsschutz versagt und sein durch Art. 12 Abs. 1 GG geschütztes Interesse am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses überhaupt nicht berücksichtigt. Damit hat es das Interesse des Arbeitnehmers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses dem Interesse des Arbeitgebers an dessen Beendigung einseitig aufgeopfert.

Das BAG hätte also im Rahmen der zivilrechtlichen Generalklauseln sowohl die Interessen des Arbeitnehmers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses als auch das Interesse des Arbeitgebers an dessen Beendigung unter Berücksichtigung der jeweils betroffenen Grundrechtspositionen miteinander abwägen müssen, weil Art. 12 Abs. 1 GG auch außerhalb des KSchG zwingend die Geltung eines Prinzips der grundrechtlich gebundenen Kündigungsfreiheit vorschreibt.

Anmerkung: Siehe hierzu Oetker, AuR 1997, 41, 51; ferner BVerfG (K), 1 BvR 1909/06 v. 23.11.2006, Abs. 41 f. = NJW 2007, 286 f.

Dabei hätte das BAG nach dem oben Gesagten auch die Wertungen des § 1 AGG berücksichtigen müssen. Unter Anwendung dieses Prinzips hätte das BAG die Kündigung für unwirksam halten müssen: Der Umstand, dass Rosahl - entgegen früheren Annahmen des Arbeitgebers - nicht homosexuell ist, in keiner Weise eine Kündigung zu rechtfertigen. Hielte man eine Kündigung wegen der sexuellen Ausrichtung für zulässig, ermöglichte man dem Arbeitgeber, in den privaten Lebensbereich des Arbeitnehmers, insbesondere auch in den grundrechtlich besonders geschützten Intimbereich einzugreifen; der Arbeitgeber ist durch den Arbeitsvertrag jedoch nicht zum Wächter über die sexuellen Neigungen der in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer berufen.

Anmerkung: Vgl. für den Fall der Kündigung wegen Homosexualität: BAG, 2 AZR 617/93 v. 23.6.1994, Abs. 23 = NJW 1995, 275, 277; Preis, NZA 1997, 1256, 1266; Oetker, AuR 1997, 41, 51 f.

Dem steht auch nicht entgegen, dass Rosahl hier nicht als Angehöriger einer "Minderheit", sondern als Angehöriger der heterosexuellen Mehrheit diskriminiert werden soll: Zwar mag der spezielle Schutz vor Diskriminierung wegen der sexuellen Identität tatsächlich vor allem auch zum Schutz von Homosexuellen vor Diskriminierungen gedacht worden sein. Es besteht allerdings kein Anlass, Heterosexuellen einen vergleichbaren Schutz nicht zukommen zu lassen. Dass Diskriminierungsschutz nicht als Minderheitenschutz zu verstehen ist, zeigt im Übrigen auch daran, dass § 1 AGG auch Diskriminierungen wegen des Geschlechts verbietet und es auch insoweit nicht darauf ankommt, welches Geschlecht zahlenmäßig überwiegt.

Für die vom BAG im vorliegenden Fall vertretene Auffassung lässt sich auch nicht anführen, dass die Kundschaft mit der Homosexualität der männlichen Belegschaft eine besondere Leistungsfähigkeit eines Innenarchitektur-Büros verknüpfen würde und es deshalb nicht angehen könne, den Arbeitgeber zu verpflichten, heterosexuelle Innenarchitekten (weiter) zu beschäftigen, und so einen Wettbewerbsnachteil zu erleiden. Es ist gerade auch Aufgabe der grundrechtlichen Schutzpflichten, derartigen Klischees entgegenzutreten, zumal eine entsprechende Erwartungshaltung bei der Bevölkerung auch kaum als erwiesen gilt, im konkreten Fall Rosahl zudem über Jahre hinweg auch - trotz seiner Heterosexualität - tragende Säule des Betriebs war.

Schließlich kann eine Kündigung im vorliegenden Fall auch nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden, dass sich Plutory gegenüber der ¿Design-Gobâl?-AG vertraglich dazu verpflichtet hat, nur homosexuelle männliche Arbeitnehmer zu beschäftigen, so dass deshalb die sexuelle Ausrichtung Rosahls auch konkrete betriebliche Auswirkungen hat. Denn eine derartige vertragliche Verpflichtung Plutorys dürfte ihrerseits jedenfalls wegen Verletzung des § 138 Abs. 1 BGB unwirksam sein.

c) Ergebnis zu 1

Das BAG ist somit seiner Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht nachgekommen und hat damit insoweit Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.

2. Verletzung des aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh herzuleitenden Unionsgrundrechts auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen

Fraglich ist ferner, ob dass BAG, in dem es die Kündigung von Rosahl für wirksam erachtet hat, das Unionsgrundrecht auf Schutz vor diskriminierenden Kündigung eines Arbeitsverhältnisses aus Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh verletzt hat.

a) Maßgebliche Kriterien zur Beurteilung von Unionsgrundrechten im Rahmen der Verfassungsbeschwerde

Soweit das BVerfG im Rahmen der Verfassungsbeschwerde die Frage prüft, ob ein deutscher Akt der öffentlichen Gewalt, der in Unionsgrundrechte eingreift, nach unionsrechtlichen gerechtfertigt werden kann, legt es die Grundrechte der Charta grundsätzlich im Lichte der hierzu ergangenen Rechtsprechung der europäischen Gerichte (des EuGH und - wegen Art. 52 Abs. 3, 4 GRCh - des EGMR) aus. Eine Auslegung der Unionsgrundrechte im Lichte der zu den deutschen Grundrechten entwickelten Dogmatik ist dagegen nicht ohne weiteres möglich, um die Einheit der Rechtsprechung zu den Unionsgrundrechten nicht zu gefährden.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 1 BvR 276/17 v. 6.11.2019, Abs. 70 ff. = BVerfGE 152, 216, 244 ff. - Recht auf Vergessen II; BVerfG, 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 v. 1.12.2020, Abs. 39 = BVerfGE 156, 182, 199 - Europäischer Haftbefehl III; BVerfG, 2 BvR 206/14 v. 27.4.2021, Abs. 56 ff. = BVerfGE 158, 1 Abs. 56 ff. - Ökotox-Daten. Das BVerfG betont insoweit insbesondere, dass der Auslegung der Unionsgrundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH keine "Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte", wie sie das deutsche Recht kenne, zu Grunde gelegt werde. Im Ergebnis komme den Unionsgrundrechten für das Verhältnis zwischen Privaten jedoch eine ähnliche Wirkung zu. Die Grundrechte der Charta könnten einzelfallbezogen in das Privatrecht hineinwirken: BVerfG, 1 BvR 276/17 v. 6.11.2019, Abs. 97 = BVerfGE 152, 216, 254 - Recht auf Vergessen II.

Dies gilt jedoch uneingeschränkt nur, soweit ein deutscher Akt öffentlicher Gewalt ausschließlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu messen ist. Soweit - wie hier (s. o. A III) - deutsche Grundrechte und Unionsgrundrechte auf denselben Akt öffentlicher Gewalt nebeneinander Anwendung finden, will das BVerfG seine Prüfung "primär am Maßstab des Grundgesetzes" ausüben. Es sei letztlich zu vermuten, dass eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom EuGH ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet sei. Dies wird vor allem mit Subsidiaritätserwägungen begründet. Unabhängig davon liegt nahe, dass diese Vorgehensweise auch der Entlastung des BVerfG (und der Fachgerichte) von Doppelprüfungen und Vorlagen nach Art. 267 Abs. 1 lit a AEUV dienen soll.

Anmerkung: BVerfG, 1 BvR 16/13 v. 6.11.2019, Abs. 45, 63 ff., 154 = BVerfGE 152, 152, 170, 179 ff., 215 - Recht auf Vergessen I. Näher hierzu m.w.N. bei C III 3 dieser Anmerkung

Letztlich kann die Frage, ob diese Vorgehensweise auch in der vorliegenden Konstellation geboten ist, dahin gestellt bleiben, wenn sich ein Verletzung des Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh durch die Entscheidung des BAG (vergleichsweise unproblematisch) feststellen lässt.

b) Verletzung des Art. 21 i.V.m. Art. 30 GRCh

Insoweit ist bereits festgestellt worden, dass die Kündigung Rosahls (nur) wegen seiner Heterosexualität eine "Diskriminierung" wegen seiner sexuellen Ausrichtung i.S.d. Art. 21 Abs. 1 GRCh darstellt (s. o. A III 3 b bb). Eine solche Diskriminierung ist nach Art. 21 Abs. 1 GRCh "verboten". Dieses Verbot entfaltet nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich unmittelbare Wirkung auch gegenüber Privaten (s. o. A III 3 b bb). Daher liegt die Annnahme nahe, dass das BAG bereits deshalb das Art. 21 Abs. 1 GRCh i.V.m. Art. 30 GRCh folgenden Unionsgrundrechts Rosahls auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen verletzt hat weil es dieses Verbot bei der Beurteilung der Wirksamkeit der von Plutory ausgesprochenen Kündigung nicht berücksichtigt hat.

Jedoch gilt nach der Rechtsprechung des EuGH , dass auch Diskriminierungen i.S.d. Art. 21 GRCh nach Art. 52 Abs. 1 GRCh gerechtfertigt werden können. Eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem in Art. 21 GRCh genannten Diskriminierungsgrund steht, stellt hiernach keine Diskriminierung – d. h. keinen Verstoß gegen Art. 21 Abs. 1 GRCh – dar, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung darstellt und sofern der Zweck einer solchen Ungleichbehandlung rechtmäßig ist und die Anforderung in angemessenem Verhältnis zu den verfolgen Zielen steht.

Anmerkung: Siehe hierzu EuGH, C-356/12 v. 22.5.2014, Abs. 41 ff. - Glatzel (in Bezug auf Diskriminierung wegen Behinderung).

Soweit Art. 21 GRCh im Verhältnis zwischen Privaten zur Anwendung kommt, muss ein mit einem entsprechenden Rechtsstreit befasstes Gericht dementsprechend die widerstreitenden Unionsgrundrechte der Parteien dieses Rechtsstreits miteinander abwägen und sich vergewissern, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird.

Anmerkung: Siehe hierzu EuGH (GK), C-414/16 v. 17.4.2018, Abs. 80 - Egenberger.

Hier steht dem Grundrecht Rosahls, vor einer diskriminierenden Kündigung verschont zu bleiben grundsätzlich das von Art. 16 GRCh geschützte Unionsgrundrecht Plutorys auf unternehmerische Freiheit gegenüber. Dieses Grundrecht schützt die Vertragsfreiheit (auch) in Bezug auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse des in dem Betrieb beschäftigten Unternehmers.

Anmerkung: Siehe hierzu m.w.N. EuGH, C-426/11 v. 18.7.2013, Abs. 31 ff. - Alemo-Herron u. a.; EuGH, C-124/20 v. 21.12.2021, Abs. 79 - Bank Melli Iran

Darüber hinaus schützt Art. 16 GRCh im Interesse eines einheitlichen Auftritts gegenüber den Kunden auch die Durchsetzung einer einheitlichen Außendarstellung des Unternehmens mit arbeitsrechtlichen Mittel, soweit dem eine kohärente Unternehmenspolitik zu Grunde liegt.

Anmerkung: Siehe hierzu EuGH (GK), C-157/15 v. 14.3.2017, Abs. 37 ff. - Achbita (zu Kopftuchverboten für Arbeitnehmerinnen als Ausdruck einer Unternehmenspolitik der religiösen Neutralität).

Jedoch kann nicht von kohärenter Unternehmenspolitik, die eine Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung i.S.d. Art. 52 Abs. 1 GRCh rechtfertigen könnte, gesprochen werden, wenn die Unternehmenspolitik gerade in der Vornahme nach Art. 21 GRCh diskriminierender Handlungen besteht. Genau dies wäre aber in der vorliegenden Situation der Fall, weil das Konzept der ¿Design-Gobâl?-AG, dass sich Plutory zu eigen gemacht hat, gerade darin besteht, als besonderes Leistungsmerkmal darauf hinzuweisen, nur homosexuelle männliche Arbeitnehmer zu beschäftigen.

Damit lässt sich die diskriminierende Kündigung hier nicht nach Art. 52 GRCh rechtfertigen.

c) Ergebnis zu 2

Indem das BAG somit aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh nicht auf die Unwirksamkeit der Kündigung Rosahls durch Plutory geschlossen hat, hat es dementsprechend auch diese Unionsgrundrechte verletzt.

3. Ergebnis zu I

Das BAG ist somit sowohl Art. 12 Abs. 1 GG und das aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh herzuleitenden Unionsgrundrechts auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen verletzt, in dem es die Kündigung von Rosahl für wirksam erachtete, so dass insoweit die Verfassungsbeschwerde begründet ist.

II. Grundrechtsverletzung wegen einer Nichtvorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV bzw. wegen unzureichender Begründung dieser Nichtvorlage

Ferner kommt auch eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen einer Nichtvorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV (A III 2) bzw. des Art. 47 Abs. 2 GRCh wegen unzureichender Begründung dieser Nichtvorlage (A III 3 c) in Betracht.

1. Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage zum EuGH

Rosahl könnte durch die Entscheidung des BAG auch in seinem grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt worden sein, wenn das BAG entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV zu Unrecht davon abgesehen hatte, dem EuGH die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob Art. 1 und Art. 2 und Art. 16 der Richtlinie 2000/78/EG so zu verstehen sind, dass sie den Mitgliedstaaten gestatten, ihre Rechtsordnungen so auszugestalten, dass sie eine Diskriminierung wegen Heterosexualität zulassen.

a) Schutzbereich

Das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG begründet vor allem das Recht auf den gesetzlich zuständigen Richter. "Richter" in diesem Sinne ist der unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Richter im Sinn des Art. 97 GG ungeachtet seiner genauen rechtlichen Stellung (Berufsrichter oder ehrenamtlicher Richter) und unabhängig davon, ob es sich bei den ihm zugewiesenen Aufgaben um Rechtsprechung im materiellen Sinn (Streitentscheidungstätigkeit) handelt. "Richter" ist aber auch nicht nur der "individuelle" Richter, sondern zugleich auch der gerichtliche Spruchkörper bzw. das Gericht selbst, dem die "Richter" angehören.

Anmerkung: Siehe hierzu Otto, JuS 2012, 21, 22 f.

Das BVerfG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch der EuGH "Richter" i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist: Der EuGH ist ein durch AEUV und EUV errichtetes hoheitliches Rechtspflegeorgan, das auf der Grundlage und im Rahmen normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren Rechtsfragen nach Maßgabe von Rechtsnormen und rechtlichen Maßstäben in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet. Seine Mitglieder sind zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet; ihre Rechtsstellung ist normativ so ausgestaltet, dass sie Gewähr für persönliche Unabhängigkeit bietet. Das Verfahrensrecht des Gerichtshofs genügt rechtsstaatlichen Anforderungen an ein gehöriges Verfahren; es gewährleistet insbesondere das Recht auf Gehör, dem Verfahrensgegenstand angemessene prozessuale Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten und frei gewählten, kundigen Rechtsbeistand. Der "Richtereigenschaft" des EuGH steht auch nicht entgegen, dass es sich nicht um ein deutsches Gericht, sondern um ein Organ der Europäischen Union handelt, da die Gerichtsbarkeit der EU mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedsstaaten miteinander verschränkt ist und der EuGH über Rechtsnormen zu entscheiden hat, die auch in Deutschland unmittelbare Geltung beanspruchen und an die deutsche Gerichte und Behörden nach Art. 20 Abs. 3 GG wie an deutsche Gesetze gebunden sind. Soweit dem EuGH EU-rechtlich Rechtsprechungsfunktionen übertragen worden sind - wozu auch die Entscheidung über Vorlagefragen nach Art. 267 AEUV gehört - ist dementsprechend auch der EuGH "gesetzlicher Richter" i. S. des Art 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Anmerkung: Ausführlich BVerfG, 2 BvR 197/83 v. 22.10.1986 = BVerfGE 73, 339, 366 ff. - Solange II. Zum EuGH als "gesetzlichen Richter" zuletzt z. B. BVerfG, 2 BvR 2661/06 v. 6. 7. 2010, Abs. 88 = BVerfGE 126, 286, 315 - Honeywell; BVerfG, 1 BvR 1916/09 v. 19. 7. 2011, Abs. 96 ff. = BVerfGE 129, 78, 105 f. - Grundrechtsberechtigung; BVerfG, 2 BvR 1561/12 u. a. v. 28.1.2014, Abs. 177 = BVerfGE 135, 155, 230 - Filmförderungsabgabe; BVerfG, 2 BvR 424/17 v. 19.12.2017, Abs. 37 = BVerfGE 147, 364, 378 ff. - Haftbedingungen; BVerfG, 1 BvR 1675/16 u. a. v. 18.7.2018, Abs. 138 ff. = BVerfGE 149, 222, 284 ff. - Rundfunkbeitrag; BVerfG (K), 2 BvR 1572/10 v. 29.4.2014, Abs. 15 = NJW 2014, 2489, Abs. 15; BVerfG (K), 2 BvR 148/11 v. 15.12.2011, Abs. 35 = NJW 2012, 1202, Abs. 35; BVerfG (K), 2 BvR 2639/09 v. 28.8.2014, Abs. 28 = NVwZ 2015, 52, Abs. 28; BVerfG (K), 2 BvR 2437/14 v. 2.2.2015, Abs. 22 = NJW 2015, 514, Abs. 22; BVerfG (K), 2 BvR 413/15 v. 7.10.2015, Abs. 33 = NVwZ 2016, 56, Abs. 33; BVerfG (K), 2 BvR 929/14 v. 31.3.2016, Abs. 26 = NJW 2016, 2401, Abs. 26; BVerfG (K), 2 BvR 470/08 v. 19.7.2016 Abs. 52 = NJW 2016, 3153, Abs. 52; BVerfG (K), 2 BvR 1131/16 v. 17.11.2017, Abs. 22 = NVwZ-RR 2018, 169 Abs. 22; BVerfG (K), 2 BvR 987/16 v. 6.10.2017, Abs. 3 = NJW 2018, 606 Abs. 3.

Da ein letztinstanzliches nationales Gericht unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV von Amts wegen gehalten ist, den EuGH anzurufen, ist diese Anrufungspflicht Teil der innerstaatlich geltenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und ist von ihren Gerichten zu beachten; der dem Einzelnen im Ausgangsverfahren zukommende Anspruch auf Wahrung der Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bestätigt und bestärkt diese Pflicht zur Einleitung eines Vorlageverfahrens

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG, 2 BvL 12, 13/88, 2 BvR 1436/87 = BVerfGE 82, 159, 192 f. - Absatzsfonds.

Damit ist auch die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV unter Berufung auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG mit der Verfassungsbeschwerde rügbar.

b) Eingriff

Ein Eingriff in das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter liegt jedoch nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht schon dann vor, wenn ein Gericht die gesetzlichen Vorschriften über die Gerichtszuständigkeit falsch angewandt hat, weil andernfalls das BVerfG zu einer Superrevisionsinstanz für das Gerichtsverfassungsrecht und die Regelungen über die gesetzlichen Zuständigkeiten würde.

aa) Allgemeine Grundsätze zum Begriff des "Entziehens" i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei unterlassener Vorlage nach Art. 267 AEUV

Ein "Entziehen" i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und daher einen Eingriff in dieses grundrechtsgleiche Recht nimmt das BVerfG daher nur an, wenn ein Gericht Verfahrensvorschriften willkürlich unrichtig auslegt oder die Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt .

Anmerkung: Siehe hierzu BVerfG (K), 2 BvR 836/04 v. 24.2.2006, Abs. 41 = NJW 2006, 3129, 3130 f.; Kingreen/Poscher, Rn. 1389; Otto, JuS 2012, 21, 25. Siehe hierzu auch den Geschlossene-Gesellschaft-Fall und den Superrevisions-Fall.

Von diesen Grundsätzen geht das BVerfG auch bei der Frage aus, ob das Absehen von einer Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV einen Eingriff in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt. Es nimmt an, unionsrechtlich nicht verpflichtet zu sein, die Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht voll zu kontrollieren und an der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 267 Abs. 3 AEUV auszurichten, da Art. 267 Abs. 3 AEUV kein zusätzliches Rechtsmittel zur Überprüfung der Einhaltung der Vorlagepflicht fordere. Ein letztinstanzliches Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sei definitionsgemäß die letzte Instanz, vor der der Einzelne Rechte geltend machen kann, die ihm aufgrund des Unionsrechts zustehen. So behielten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspreche. Das BVerfG müsse nur über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums wachen und werde hierdurch nicht zum "obersten Vorlagenkontrollgericht".

Anmerkung: Siehe hierzu und zum Folgenden aus der Senatsrechtsprechung: BVerfG, 2 BvL 12, 13/88, 2 BvR 1436/87 = BVerfGE 82, 159, 195 f. - Absatzsfonds; BVerfG, 2 BvR 2661/06 v. 6. 7. 2010, Abs. 88 ff. = BVerfGE 126, 286, 315 f. - Honeywell; BVerfG, 1 BvR 1916/09 v. 19.7.2011, Abs. 98 = BVerfGE 129, 78, 106 f. - Grundrechtsberechtigung; BVerfG, 2 BvR 1561/12 u. a. v. 28.1.2014, Abs. 179 ff. = BVerfGE 135, 155, 231 ff. - Filmförderungsabgabe; BVerfG, 2 BvR 424/17 v. 19.12.2017, Abs. 39 ff. = BVerfGE 147, 364, 379 ff. - Haftbedingungen; BVerfG, 1 BvR 1675/16 u. a. v. 18.7.2018, Abs. 141 ff. = BVerfGE 149, 222, 285 ff. - Rundfunkbeitrag; ferner aus der Kammerrechtsprechung: BVerfG (K), 2 BvR 148/11 v. 15.12.2011, Abs. 35 ff. = NJW 2012, 1202, Abs. 35 ff.; BVerfG (K), 1 BvR 2534/10 v. 3.3.2014, Abs. 27 = NJW 2014, 1796 Abs. 27; BVerfG (K), 2 BvR 1572/10 v. 29.4.2014, Abs. 17 ff. = NJW 2014, 2489, Abs. 17 ff.; BVerfG (K), 2 BvR 324/14 v. 15.5.2014, 8 ff. = NVwZ 2014, 1160, Abs. 8 ff.; BVerfG (K), 2 BvR 2639/09 v. 28.8.2014, Abs. 30 ff. = NVwZ 2015, 52, Abs. 30 ff.; BVerfG (K), 2 BvR 2437/14 v. 2.2.2015, Abs. 24 f. = NJW 2015, 514, Abs. 24 f.; BVerfG (K), 2 BvR 413/15 v. 7.10.2015, Abs. 33 ff. = NVwZ 2016, 56, Abs. 33 ff.; BVerfG (K) 1 BvR 137/13 v. 8.10.2015, Abs. 12 ff. = NVwZ 2016, 378 Abs. 12 ff.; BVerfG (K), 2 BvR 929/14 v. 31.3.2016, Abs. 28 f. = NJW 2016, 2401 Abs. 28 f.; BVerfG (K), 2 BvR 470/08 v. 19.7.2016 Abs. 51 ff. = NJW 2016, 3153, Abs. 51 ff.; BVerfG (K), 1 BvR 361/12 v. 18.9.2017 Abs. 27 = NVwZ 2018, 406 Abs. 27; BVerfG (K), 2 BvR 1131/16 v. 17.11.2017, Abs. 24 ff. = NVwZ-RR 2018, 169 Abs. 24 ff.; BVerfG (K), 2 BvR 987/16 v. 6.10.2017, Abs. 5 ff. = NJW 2018, 606 Abs. 5 ff.; BVerfG (K), 1 BvR 2853/19 v. 14.1.2021, Abs. 9 ff. = NJW 2021, 1005 Abs. 9 ff. Zur Rechtsprechungsentwicklung in diesem Zusammenhang Berkemann, DVBl. 2019, 333, 340 ff.; Finck/Wagner, NVwZ 2014, 1286 ff.; Thomale, EuR 2016, 510, 513 ff.; Wolff, AöR 141 (2016), 40, 44 ff. (dort [S. 61 ff.] auch zur Kritik an der insoweit reduzierten Prüfdichte).

Das BVerfG überprüft folglich nur, ob diese Zuständigkeitsregel in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt worden ist. Dass ist insbesondere dann der Fall, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des EU-Rechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind.

bb) Anwendung auf den vorliegenden Fall

Fraglich ist somit, ob das BAG im vorliegenden Fall - als hierzu grundsätzlich verpflichtetes Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können (s. o. A III 2) - in dieser Weise seine Vorlagepflicht verkannt hat.

Insoweit ist bereits an anderer Stelle festgehalten worden, dass die Annahme, dass die Richtlinie 2000/78/EG die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, ihre Rechtsordnung so auszugestalten, dass sie die Diskriminierung Heterosexueller ermöglicht, schon nach der "acte-claire-Doktrin" des EuGH nicht vorlagebedürftig war (s. o. A III 1 b ff).

Umgekehrt wurde aber auch schon betont, dass die Annahme des BAG, die Richtlinie 2000/78/EG ermögliche den Mitgliedstaaten, ihre Rechtsordnung so auszugestalten, dass sie eine Diskriminierung Heterosexueller erlaubt, nach ihrem Wortlaut und ihrem Sinn und Zweck nicht naheliegt (s. o. A III 1 b ee).

Daher kann nicht angenommen werden, dass dieses Auslegungsergebnis i.S. der "acte-claire-Doktrin" des EuGH "derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt." Da die Frage, ob die Richtlinie 2000/78/EG die Diskriminierung Heterosexueller erlaubt, im vorliegenden Fall entscheidungserheblich war, hätte das BAG dementsprechend aus unionsrechtlicher Sicht diese Frage dem EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen müssen.

Diese Verletzung des Art. 267 Abs. 3 AEUV wirkt im vorliegenden Fall auch so schwer, dass zugleich eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzunehmen ist: Die Annahme, die Richtlinie 2000/78/EG diene nur dem Schutz von Minderheiten, ist letztlich angesichts der weiten Formulierungen und des Schutzzweckes der Richtlinie derart fernliegend, dass die Annahme, die Richtlinie schütze vor jeglicher Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung der Auslegung des BAG im vorliegenden Fall eindeutig vorzuziehen ist. Es ist schlichtweg kein Grund erkennbar, weshalb die Richtlinie 2000/78/EG eine Diskriminierung Heterosexueller erlauben sollte.

Anmerkung: Hierbei handelt es sich letztlich um eine reine Wertungsfrage, so dass man im vorliegenden Fall mit entsprechender Argumentation auch annehmen kann, ein Eingriff in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch das BAG i.S. einer willkürlichen Nichtvorlage nach Art. 267 AEUV liege noch nicht vor.

cc) Ergebnis zu b)

Das BAG hat somit durch die Nichtvorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV im vorliegenden Rechtsstreit den Parteien ihren gesetzlichen Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen.

c) Ergebnis zu 1

Eingriffe in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG können nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

Anmerkung: Siehe hierzu Otto, JuS 2012, 21, 26.

Daher hat das BAG somit auch dieses grundrechtsgleiche Recht des Rosahl verletzt.

2. Verletzung des Art. 47 Abs. 2 GRCh wegen unzureichender Begründung der Nichtvorlage zum EuGH

Ferner könnte das BAG auch Rosahls Recht aus Art. 47 Abs. 2 GRCh verletzt haben, weil das BAG das Absehen von der Vorlage nach Art. 267 AEUV nur unzureichend begründet hat. Insoweit ergibt sich aus dem oben Gesagten (A III 3 c), dass aus Art. 47 Abs. 2 GRCh ein Recht jedes Prozessbeteiligten folgt, dass ein letztinstanzliches Gericht i.S.d. Art. 267 Abs. 3 AEUV die Ablehnung einer von einem Prozessbeteiligen angeregten Richtervorlage nach Art. 267 Abs. 1 AEUV hinreichend begründet. Diese Auslegung des Art. 47 Abs. 2 GRCh erfolgt letztlich im Lichte der zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangenen Rechtsprechung des EGMR, der nach Art. 52 Abs. 3 GRCh bei der Auslegung des Art. 47 Abs. 2 GRCh Rechnung zu tragen ist.

Hinsichtlich des Umfangs der Begründungspflicht hat der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, ihre Weigerung, die Frage dem EuGH nach Art. 267 AEUV in Anbetracht der Ausnahmen zu begründen, die in der Rechtsprechung des EuGH zu den Grenzen der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV anerkannt sind. Insbesondere hätten die nationalen Gerichte zu begründen, warum von einer Vorlage nach der "acte-clair-Doktrin" (A III 1 b ee) abgesehen werden könne. Jedoch prüft der EGMR insoweit nur, ob überhaupt eine Begründung in diesem Sinne formell vorliegt, nicht ob diese Begründung im konkreten Fall zutreffend ist und im konkreten Fall den Anforderungen der Rechtsprechung des EuGH zu den Ausnahmen von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wirklich stand hält. Denn die Richtigkeit der Anwendung des nationalen Rechts oder des Unionsrechts zu überprüfen sein nicht Aufgabe des EGMR.

Anmerkung: So EGMR, 3989/07 and 38353/07 v. 20.9.2011, Abs. 54 ff. - Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien; EGMR, 4832/04 v. 10.4.2012, Abs. 87 ff. - Vergauwen ./. Belgien; EGMR, 171209/09 v. 8.4.2014, Abs. 31 ff. - Dhabi ./. Italien (deutsche Übersetzung: NVwZ-RR 2015, 546 ff.); EGMR, 38369/09 v. 21.7.2015, Abs. 69 ff. - Schipani u. a. ./. Italien; EGMR, 50053/16 v. 11.4.2019, Abs. 33 ff. - Harisch ./. Deutschland (deutsche Übersetzung: NJW 2020, 1943 ff.).

Der EuGH hat mittlerweile diese Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Art. 47 Abs. 2 GRCh übertragen (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh): Wenn das letztinstanzliche Gericht annehme, nach der "acte-clair-Doktrin" von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV befreit zu sein, sei nach Art. 47 Abs. 2 GRCh eine Begründung erforderlich, die erkennen lasse, dass die aufgeworfene unionsrechtliche Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erheblich sei oder dass sich die Auslegung der betreffenden Unionsrechtsvorschrift auf die Rechtsprechung des EuGH stützte oder – wenn es keine solche Rechtsprechung gebe – dass die Auslegung des Unionsrechts für das in letzter Instanz entscheidende Gericht derart offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibe.

Anmerkung: So EuGH (GK), C-561/19 v. 6.10.2021, Abs. 51 - Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi; hierzu Böttcher, NVwZ 2021, 1771, 1773; Hilpold, NJW 2021, 3290, 3292 f.; Palmstorfer/Kreuzhuber, EuR 2022, 239, 244 ff.

Nach diesen Grundsätzen hat das BAG Art. 47 Abs. 2 GRCh im vorliegenden Fall jedoch nicht verletzt . Denn das BAG hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die "acte-clair-Rechtsprechung" des EuGH begründet, warum es davon ausgeht, dass die Richtlinie 2000/78/EG eindeutig allein auf Minderheitenschutz ausgerichtet sei und daher Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie eine Diskriminierung wegen Heterosexualität nicht erfassen würde und diese damit nach Art. 16 der Richtlinie auch nach mitgliedstaatlichem Recht nicht verboten werden müsste. Dass diese Ausführungen in materieller Hinsicht offensichtlich falsch sind (s. o. B II 1 b bb), ändert nichts daran, dass sie eine formelle Begründung entsprechend der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK und des EuGH zu Art. 47 Abs. 2 GRCh darstellen. Damit hätte das BAG Art. 47 Abs. 2 GRCh hier nicht verletzt.

Anmerkung: Siehe hierzu Krommendijk, ELRev. (42) 2017, 46, 55 ff. Hier werden im folgenden aber auch gute Gründe dafür angegeben, weshalb im Rahmen des Art. 47 Abs. 2 GRCh eine auch inhaltliche Kontrolle der von dem vorliegenden Gericht gegebenen Begründung anhand der vom EuGH entwickelten Grundsätze zur Ausnahme von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV erfolgen sollte. Natürlich wäre auch diese Auffassung vertretbar.

3. Ergebnis zu II

Damit hat das BAG auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, weil es entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV in nicht nachvollziehbarer Weise von einer Vorlage zum EuGH abgesehen hat. Da es die Nichtvorlage jedoch in formeller Hinsicht in ausreichender Weise begründet hat, ist insoweit nicht zugleich auf Art. 47 Abs. 2 GRCh verletzt.

III. Ergebnis zu B

Das BAG ist somit seiner Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht nachgekommen und hat das das aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh herzuleitenden Unionsgrundrecht auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen missachtet. Zudem hat das BAG gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen. Damit hat das BAG Grundrechte und Unionsgrundrechte Rosahls verletzt, so dass die Verfassungsbeschwerde begründet ist.

C) Gesamtergebnis

Rosahls Verfassungsbeschwerde ist damit zulässig und begründet und hat somit Aussicht auf Erfolg. Das BVerfG wird dementsprechend nach § 95 Abs. 1 BVerfGG feststellen, dass das angegriffene Urteil des BAG gegen Art. 12 Abs. 1 GG, und gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen hat. Zudem wird es nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG analog feststellen, dass das Urteil des BAG auch das Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh herzuleitende Unionsgrundrecht auf Schutz vor diskriminierenden Kündigungen verletzt hat.

Anmerkung: Zur Notwendigkeit einer analogen Anwendung des § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG in Bezug auf die Feststellung der Verletzung von Unionsgrundrechten siehe C III 1 (a. E.) dieserAnmerkung. Der 2. Senat des BVerfG wendet dagegen § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG in dieser Konstellation unmittelbar an. So stellt er etwa fest: "Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer [...] durch den Beschluss des Kammergerichts [...] in seinem Grundrecht aus Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden ist, soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde (BVerfG, 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 v. 1.12.2020, Abs. 83 = BVerfGE 156, 182, 220 - Europäischer Haftbefehl III). ähnlich auch der jeweilige Tenor Nr. 1 von BVerfG (K), 2 BvR 208/21 v. 18.8.2021 und BVerfG (K), 2 BvR 1214/21 v. 27.1.2022. Generell für unzulässig hält die Analogie zu § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG in dieser Konstellation Detterbeck, JZ 2021, 593, 598.

Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG wird es zudem das Urteil des BAG aufheben. Obwohl die Urteile des Arbeitsgerichtes und des Landesarbeitsgerichtes - auf denen die Entscheidung des BAG beruht - ebenfalls jedenfalls (Unions-)Grundrechte Rosahls aus Art. 12 Abs. 1 GG und aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 GRCh in derselben Weise verletzt haben, kann das BVerfG diese Urteile nicht aufheben, da Rosahl Verfassungsbeschwerde ausdrücklich nur gegen das Urteil des BAG erhoben hat.

Anmerkung: Vgl. BVerfG, 1 BvR 572/52 v. 20.10.1954 = BVerfGE 4, 52, 56; BVerfG, 2 BvR 1533/94 v. 10.11.1999, Abs. 82 ff. und Abs. 126 = BVerfGE 101, 275, 284 ff. und 297; U. Stelkens, DVBl. 2004, 403, 404.

Das BVerfG wird dementsprechend nach § 95 Abs. 2 BVerfGG die Sache an das BAG zurückverweisen, das dann seinerseits gehalten ist, das Urteil des Landesarbeitsgerichtes nach § 72 Abs. 5 ArbGG i.V.m. § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und nach § 72 Abs. 5 ArbGG i.V.m. § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden.

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