(Stand der Bearbeitung: 18. März 2020)
© Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)
mit freundlicher Unterstützung der jurmatiX GbR, Ottweiler
Im Folgenden wird im Übrigen nicht die besondere Konstellation in den Blick genommen, dass der Beschwerdeführer zulässigerweise (nicht nur deutsche Grundrechte sondern auch) Unionsgrundrechte mit seiner Verfassungsbeschwerde geltend macht (zu dieser Konstellation siehe diesen Hinweis bei C III).
Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig (siehe hierzu diesen Hinweis), wird in der Begründetheitsprüfung geprüft, ob der Beschwerdeführer tatsächlich durch den Akt der öffentlichen Gewalt, gegen den sich die Verfassungsbeschwerde richtet, in seinen Grundrechten verletzt wird. Dies bedeutet, dass hier nur der Akt überprüft werden kann, der in der Zulässigkeit als Beschwerdegegenstand, also als angegriffener "Akt der öffentlichen Gewalt" i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG herausgearbeitet worden ist. Typischerweise ist dies entweder ein Gesetz oder eine (oder mehrere) Gerichtsentscheidung(-en), denen u.U. noch Exekutivmaßnahmen vorgeschaltet sind.
Die Prüfung der Begründetheit von gegen (Verwaltungs- und) Gerichtsentscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerden (zur Prüfung der Begründetheit von Verfassungsbeschwerden, die sich unmittelbar gegen Gesetze richten, siehe diesen Hinweis) wirft Schwierigkeiten auf, wenn mehrere Entscheidungen in derselben Sache ergangen sind: Hier ist zunächst wichtig, dass schon bei der Zulässigkeitsprüfung herausgearbeitet wird, gegen welche der Entscheidungen sich der Beschwerdeführer eigentlich wehrt und worin er die ihm durch diese Entscheidungen zugefügte Grundrechtsverletzung sieht. Sind mehrere Gerichts- (und/oder Verwaltungs-)Entscheidungen Gegenstand der Begründetheitsprüfung, so sollte die Prüfung zweckmäßigerweise insoweit einheitlich erfolgen, als der Beschwerdeführer annimmt, dass die verschiedenen Entscheidungen ihm dieselbe Grundrechtsverletzung zugefügt haben (siehe hierzu genauer diesen Hinweis).B) Prüfungsaufbau
Die Verfassungsbeschwerde gegen Verwaltungs- und/oder Gerichtsentscheidungen ist begründet, wenn der Beschwerdeführer entweder durch das Entscheidungsergebnis (also durch das Verhaltensverbot/-gebot der sich mit der Hauptsache befassenden Entscheidung[-en]) und/oder durch das Entscheidungsverfahren tatsächlich in seinen Grundrechten verletzt wird.
Ein Grundrecht wird durch die Gerichts- bzw. Verwaltungsentscheidung(-en) verletzt, wenn dasjenige Verhalten bzw. Unterlassen, an dem sich der Beschwerdeführer durch das Verhaltensverbot/-gebot der Entscheidung(-en) gehindert bzw. zu dem er sich gezwungen sieht, in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, das Verhaltensverbot/-gebot in dieses Grundrecht eingreift und dieser Eingriff nicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist.
Ein Urteil kann auch gegen die verfassungsrechtlichen Gleichheitssätze verstoßen. Dann ist nach der Prüfung der Verletzung von Freiheitsrechten zu untersuchen, ob das Urteil eine Ungleichbehandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte begründet und ob diese Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, siehe hierzu den Strickliesel-Fall. Besonderheiten gelten schließlich bei der Rüge der Verletzung staatlicher Schutz- und sonstiger Leistungspflichten, siehe hierzu den Freigesetzt-Fall.
1. Fällt das Verhalten, an dem sich der Beschwerdeführer durch die Entscheidung(-en) gehindert sieht, in den Anwendungsbereich eines Grundrechts?
Diese Prüfung setzt voraus, dass man sich darüber Gedanken macht, was der Beschwerdeführer eigentlich will. Wenn der Schutzbereich eines Grundrechts als einschlägig erkannt wurde, sind allgemeinere Grundrechte (z.B. Art. 2 Abs. 1 GG) nicht mehr zu prüfen. Ist der Schutzbereich keines Grundrechts betroffen, ist die Prüfung beendet und die Verfassungsbeschwerde unbegründet.
2. Greift das Verhaltensverbot/-gebot der Entscheidung(-en) in dieses Grundrecht ein?
Das grundrechtlich geschützte Verhalten/Unterlassen muss tatsächlich aufgrund des Verhaltensverbotes/-gebotes der Entscheidung(-en) verboten oder sonst wie beeinträchtigt werden.
3. Ist dieser Grundrechtseingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt?
Der Eingriff durch die Entscheidung(-en) ist verfassungswidrig, wenn sie entweder auf eine verfassungswidrige Rechtsgrundlage gestützt wurde(-n) und/oder in Auslegung eines verfassungsmäßigen Gesetzes ein Rechtssatz aufgestellt wurde, der, wäre er vom Gesetzgeber erlassen worden, seinerseits verfassungswidrig wäre und/oder wenn die Entscheidung(-en) objektiv willkürlich ist (sind).
An sich ist wegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt jedes (belastende) Urteil verfassungswidrig, das einfaches Recht falsch auslegt. Dies würde jedoch dazu führen, dass praktisch jede Streitigkeit über die Auslegung einfachen Rechts vor das BVerfG gebracht werden könnte - es würde zur Superrevisionsinstanz. Deshalb prüft das BVerfG nur, ob das Gericht spezifisches Verfassungsrecht verletzt hat. Zu beachten ist, dass nicht bei jeder Urteilsverfassungsbeschwerde das gesamte "Prüfprogramm" durchgeführt oder nur angesprochen werden müsste. Teilweise sind z.B. gesetzliche Vorschriften so eindeutig, dass die Aufstellung eines eigenen Rechtssatzes in ihrer Auslegung als ausgeschlossen erscheint. In diesen Fällen ist die Untersuchung auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm zu beschränken, auf die das (Fach-)Gericht seine Entscheidung stützt (siehe hierzu den Strickliesel-Fall und den Todesstrafe-Fall). Teilweise ist dagegen eindeutig, dass keine formal-gesetzliche Grundlage für die Entscheidung besteht. Dann kann sie nur auf Willkür hin überprüft werden (siehe hierzu den Rechtschreibreform-Fall).
Beruht die Entscheidung auf einem verfassungswidrigen Gesetz? Das Gesetz muss in jeder Hinsicht formell und materiell verfassungsmäßig sein. Bei der Prüfung ist nicht (nur) auf den zu entscheidenden Einzelfall einzugehen, sondern es ist die Verfassungskonformität des Gesetzes schlechthin zu prüfen. Im Regelfall wird hier aber in formeller Hinsicht allenfalls die Gesetzgebungskompetenz, in materieller Hinsicht die Grundrechtskonformität des Gesetzes im Hinblick auf das vom Beschwerdeführer gerügte Grundrecht zu prüfen sein (siehe hierzu den Peepshow-Fall und den Todesstrafe-Fall).
Stellt die Entscheidung einen Rechtssatz auf, der verfassungswidrig wäre, wäre er vom Gesetzgeber erlassen worden? Geprüft wird hier nicht, ob das einfache Recht richtig angewendet wurde, sondern nur, ob das Gericht bei der Auslegung des Gesetzes die Bedeutung der Grundrechte verkannt hat. Dies ist dann der Fall, wenn der Gesetzgeber den Rechtssatz, den das Gericht/die Verwaltungsbehörde in Auslegung eines an sich verfassungsmäßigen Gesetzes aufgestellt hat, so nicht hätte erlassen dürfen. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des aufgestellten Rechtssatzes erfolgt grundsätzlich nach demselben Prinzip wie die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Die formelle Verfassungsmäßigkeit wird allerdings (natürlich) nicht geprüft (siehe hierzu den Peepshow-Fall und den Geschlossene-Gesellschaft-Fall).
Ist die Entscheidung willkürlich? Dies ist etwa zu bejahen, wenn der Entscheidung offensichtlich ein falscher Sachverhalt zugrunde gelegt wird oder wenn sie offensichtlich ohne jegliche Rechtsgrundlage ergangen ist, etwa weil verkannt wird, dass bestimmte Maßnahmen Grundrechtseingriffe darstellen, für die eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage benötigt wird (siehe hierzu den Rechtschreibreform-Fall). Ein Fall der Willkür liegt zudem auch vor, wenn die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung überschritten werden, also eine Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG gerügt wird (siehe hierzu den Geschlossene-Gesellschaft-Fall).
- Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs.1 GG), siehe hierzu den Peepshow-Fall;
- Verletzung des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), siehe hierzu den Freigesetzt-Fall; Geschlossene-Gesellschaft-Fall und den Wem-die-Stunde-schlägt-Fall;
- Ausgestaltung des Verfahrens in einer letztlich rechtsverweigernden Weise (Verstoß gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes), siehe hierzu den Piätsch-Affaire-Fall;
- Beleidigung eines Verfahrensbeteiligten, siehe hierzu den Peepshow-Fall.