Rechtschreibreform

© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)

mit freundlicher Unterstützung der jurmatix Legal Intelligence UG (haftungsbeschränkt), Gersheim

Liebes Tagebuch, heute erzähle ich Dir folgende Geschichte:

Am 1. Dezember 1995 haben die Kultusminister der Länder beschlossen:

"1. [...].

2. Die Kultusminister verständigen sich darauf, den überarbeiteten Neuregelungsvorschlag `Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis` mit den Änderungen der Beilage 1 ab dem 1. August 1998 [...] als verbindliche Grundlagen in allen Schulen einzuführen.

3. Die Kultusministerkonferenz ermächtigt die Präsidentin [...], die zwischen den deutschsprachigen Ländern abzustimmende gemeinsame Erklärung zur Neuregelung der Deutschen Rechtschreibung zu unterzeichnen. [...].

4. Die Neuregelung tritt am 1. August 1998 mit folgenden Maßgaben in Kraft:

a) [...];

b) Weitere Übergangsregelungen für die Zeit bis zum 1. August 1998 [...] treffen die Länder in eigener Zuständigkeit;

c) bis zum 31. Juli 2005 werden bisherige Schreibweisen nicht als falsch, sondern als überholt gekennzeichnet und bei Korrekturen durch neue Schreibweisen ergänzt. [...]. Sollte sich herausstellen, daß die Übergangszeit zu großzügig oder zu eng bemessen ist, wird eine Veränderung der Frist durch die Kultusministerkonferenz in Aussicht genommen.

5. In Zweifelsfällen der Rechtschreibung sind ab dem 1. August 1998 Wörterbücher zugrunde zu legen, die nach der Erklärung des jeweiligen Verlages der Neuregelung in der jeweils gültigen Fassung in vollem Umfang entsprechen.

[...]."

Am 1. Juli 1996 wurde von Vertretern der Bundesrepublik Deutschland (Vertreter des Bundesministeriums des Innern, Präsidentin der Kultusministerkonferenz) und den Vertretern der übrigen deutschsprachigen Länder die sog. "Wiener Absichtserklärung" unterzeichnet, nach deren Art. 2 die Unterzeichner beabsichtigen, sich innerhalb ihres Wirkungsbereichs für die Umsetzung der Reform einzusetzen. In Ausführung dieser Absichtserklärung hat das Saarländische Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft am 14. August 1996 einen "Erlaß über die Neuregelung der Rechtschreibung" erlassen (GMBl. Saar, S. 228). Hiernach tritt die Neuregelung für die Grundschulen im Schuljahr 1996/97, für die Klassenstufe 5 der weiterführenden Schulen mit Beginn des Schuljahres 1997/98 und für die übrigen Klassenstufen der allgemein bildenden und beruflichen Schulen mit Beginn des Schuljahres 1998/99 in Kraft. Durch "Erlaß zur Einführung der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung - Regelung für die amtliche Rechtschreibung in der Landesverwaltung" des Saarländischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 21. Juli 1997 (GMBl. Saar, S. 210) wird darüber hinaus die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ab dem 1. August 1998 in der Landesverwaltung angewendet, wobei bei der Umsetzung (nur) aus Kostengründen (Weiterverwendung vorhandener Vordrucke und Software) Übergangslösungen bis zum Jahr 2005 zugelassen sind.

Die Eltern der Jessica Jochum, die im Schuljahr 1997/98 die 5. Klasse des Saarheimer Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums besucht, sind über die Rechtschreibreform entsetzt: Sie sehen hierin einen unzulässigen Eingriff sowohl in ihre Grundrechte als Eltern, als auch in die Grundrechte ihres Kindes: Nach Art. 26 Abs. 1 der Saarländischen Verfassung hätten Unterricht und Erziehung das Ziel, den jungen Menschen so heranzubilden, dass er seine Aufgaben in Familie und Gemeinschaft erfüllen könne. Nach Art. 30 SVerf sei die Jugend u.a. zu beruflicher und sozialer Bewährung zu erziehen. Dem entspreche § 1 Abs. 2 des Saarländischen Schulordnungsgesetzes (SchoG): Hiernach habe die Schule durch Erziehung und Unterricht den Schüler zur Erfüllung seiner Pflichten in Familie, Beruf und der ihn umgebenden Gemeinschaft hinzuführen. § 1 Abs. 4 SchoG stelle klar, dass die für den Unterricht erforderlichen Richtlinien diesem Unterrichtsauftrag entsprechen müssten. Der Erlass vom 14. August 1996 trage dem aber gerade nicht Rechnung: Die Schule dürfe nicht irgendeine Rechtschreibung unterrichten, sondern nur eine solche, die in der sozialen Wirklichkeit ihre Entsprechung finde. Im übrigen treffe die Regelung ihre Jessica besonders hart: Ginge alles gut, würde sie im Jahre 2005 Abitur machen, also nach dem Termin, in dem die neue Rechtschreibung verbindlich geworden sei, die alte Schreibung, die sie noch in der Grundschule gelernt und daher besonders verinnerlicht habe, also nicht mehr nur als "überholt", sondern sogar als "falsch" bewertet werden müsse. Schließlich entfremde die neue Rechtschreibung Jessica auch von ihren Eltern, da sie sich nun unterschiedlicher Schriftsprache bedienten. Auch würde Jessica vom Kulturleben in der Bundesrepublik ausgeschlossen, da viele namhafte Schriftsteller, Verlage und Zeitschriften bereits erklärt hätten, dass sie die Rechtschreibreform nicht nachvollziehen wollten. Solche weit reichenden Eingriffe hätten allenfalls aufgrund eines Gesetzes erfolgen dürfen.

Dementsprechend beantragt das Ehepaar Jochum im eigenen und Jessicas Namen bei Oberstudiendirektor Sebastian Schuriegel, dem Schulleiter des Saarheimer Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums, Jessica nur Unterricht in der herkömmlichen Rechtschreibung zu geben und ihre schriftlichen Arbeiten nur am Maßstab der herkömmlichen Rechtsschreibungsregeln zu korrigieren. Schuriegel lehnt dies unter Hinweis auf die Bindung des Lehrkörpers an den Erlass vom 14. August 1996 ab. Nach erfolglosem Widerspruch beantragt das Ehepaar Jochum im eigenen und im Namen Jessicas den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO, durch die gesichert werden solle, dass Jessica nur in der herkömmlichen Rechtschreibung unterrichtet werde und ihre schriftlichen Arbeiten nur an dem Maßstab der herkömmlichen Rechtschreibung korrigiert werden. Das Verwaltungsgericht lehnt den Erlass der Anordnung jedoch ab, weil unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ein Anspruch der Antragsteller auf "Aussetzung der Rechtschreibreform gegenüber Jessica" bestehen könne. Die Einführung der Rechtschreibreform durch bloße Verwaltungsvorschrift stelle sich als zulässige Konkretisierung des - für alle Regelschulformen i.S.d. § 3, § 3 a SchoG vorgesehenen - Pflichtfaches Deutsch dar: Hierdurch würde nicht das Fach Deutsch "gestaltend" verändert, sondern einer auf anderer Grundlage mit Wirkung für die Zukunft normierten Sprachänderung angepasst, wobei die dem zugrunde liegende Prognose, die Rechtschreibreform werde sich in Zukunft allgemein durchsetzen, nicht zu beanstanden sei. Gerade deshalb entspräche es auch den Erziehungszielen des Art. 26 Abs. 1 SVerf und des § 1 Abs. 2 SchoG, die Rechtschreibreform bereits jetzt einzuführen, da schulische Ausbildung notwendigerweise zukunftsgerichtet sei. Die gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts gerichtete Beschwerde wird vom Oberverwaltungsgericht unter Berufung auf die zutreffenden Gründe des Verwaltungsgerichts als unbegründet zurückgewiesen.

Daraufhin erhebt das Ehepaar Jochum formgerecht im eigenen und Jessicas Namen Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes, welche sie in ihrem Elternrecht und Jessica in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht sowie in ihrem Recht auf Chancengleichheit bei der Abiturprüfung verletzen, weil für die Jahrgangsstufe Jessicas insoweit andere Prüfungsmaßstäbe gelten werden als für die vorhergehenden Jahrgangsstufen, obwohl sie - wie die vorgehenden Jahrgangsstufen - noch in der Grundschule in der alten Rechtschreibung unterrichtet worden war. Dass vor Durchführung des Hauptsacheverfahrens Verfassungsbeschwerde erhoben wird, wird damit begründet, dass der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren jedenfalls zu spät komme: Dann sei Jessica von den neuen Schreibweisen schon "angesteckt". Wegen der divergierenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zu der Frage, ob "die Rechtschreibreform" verfassungswidrig sei, komme ihrer Verfassungsbeschwerde auch allgemeine Bedeutung zu.

Trotz seiner Unnachgiebigkeit im Dienst ist privat auch Oberstudiendirektor Schuriegel mit der Rechtschreibreform nicht einverstanden: Er werde durch die Erlasse vom 14. August 1996 und vom 21. Juli 1997 gezwungen, sich mit einer für ihn – als Lehrer für Englisch und Geschichte – völlig fachfremden Materie auseinanderzusetzen, da er die neue Rechtschreibung den Korrekturen schriftlicher Arbeiten, aber auch den Tafelbildern und sonstigen schriftlichen Unterlagen des Unterrichts und schließlich auch sämtlichem Schriftverkehr zugrunde zu legen habe, den er für das Gymnasium in seiner Funktion als Schulleiter abwickeln müsse. Er müsse sich deshalb neue Kenntnisse aneignen, auf deren Beherrschung er wenig Wert lege und die zu einem ständigen Umdenken in einem Bereich führten, den er bisher ohne größeres Nachdenken, allein aufgrund jahrelanger Routine im wesentlichen beherrscht habe. Die neue Schreibweise werde zwangsläufig auch zu einer Änderung der Schreibweise in seinem privaten Schriftverkehr führen, obwohl er die durch die Rechtschreibreform eingeführten Neuregelungen für schlichten Blödsinn halte. Eine solche Anpassung seines privaten Schriftverkehrs sei auch notwendig, da Schreibfehler in der Bevölkerung häufig als Zeichen mangelnder Intelligenz gewertet würden. Auch er klagt daher nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchsverfahrens gegen den Erlass vom 22. Juli 1997 auf "Aussetzung der Rechtschreibreform" vor dem Verwaltungsgericht des Saarlandes. Die Klage wird jedoch vom Verwaltungsgericht des Saarlandes wegen fehlender Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO als unzulässig verworfen, das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes weist die Berufung, das BVerwG die hiergegen eingelegte Revision als unbegründet zurück.

Dementsprechend erhebt Schuriegel nunmehr form- und fristgerecht gegen das Urteil des BVerwG Verfassungsbeschwerde beim BVerfG. Er sieht sich durch diese Entscheidung in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3, Art. 33 Abs. 5 und Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.

Was meinst Du, haben die Verfassungsbeschwerden der Jochums und Svhuriegels Sussicht auf Erfolg?

Bitte unterstelle bei der Fallbearbeitung, dass noch keine Entscheidung des BVerfG zur Frage der Zulässigkeit der Einführung der Rechtschreibreform ergangen ist.

Lösungsvorschlag zu den Verfassungsbeschwerden der Jochums

Lösungsvorschlag zu der Verfassungsbeschwerde Schuriegels

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