© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)
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Die Stadt Saarheim führt eine Stadtbibliothek im ehemaligen Dominikanerkloster hinter der St.-Hildebold-Kirche als unselbständige Anstalt des öffentlichen Rechts. Zweck der Bibliothek ist nach § 1 der vom Stadtrat der Stadt Saarheim erlassenen Bibliothekssatzung die Förderung des Lesens und der Liebe zur Literatur in der Saarheimer Bevölkerung. Hauptaufgabe der Bibliothek ist insoweit nach § 2 der Satzung der Betrieb einer Leihbibliothek: So werden Romane, Sachbücher für Erwachsene, aber auch Bilder-, Kinder- und Jugendbücher zur Ausleihe bereitgestellt. Um die Attraktivität der Bibliothek zu erhöhen, werden jedoch im ehemaligen Kapitelsaal des Klosters auch zahlreiche Veranstaltungen "rund um das Buch" unter dem gemeinsamen Obertitel "Kapitelreise" durchgeführt. Wann welche "Kapitelreise" stattfindet, lässt sich dem Bibliotheksveranstaltungskalender "Literarisches Quartal" entnehmen, der im Internet veröffentlicht, als Faltblatt vierteljährlich dem Saarheimer Mitteilungsblatt "Saarheim InForm" beigefügt und im Übrigen in der Bibliothek zur Mitnahme ausgelegt wird.
Durchgeführt werden die Veranstaltungen teilweise von den Mitarbeitern der Bibliothek, weit öfter jedoch "ehrenamtlich" von "Bibliotheksexternen", so etwa von Verlagen, der katholischen Kirchengemeinde St. Hildebold (Literaturdiskussionsabende), aber auch etwa dem Saarheimer Heimatdichter Werner Schultheiß, der dort seine im Selbstverlag vertriebenen Gedichte vorliest und sofern er Käufer findet auch verkauft. Die Stadtbibliothek ist insoweit immer für Anregungen offen: Soweit jemand etwas zu der Veranstaltungsreihe beitragen will, kann er sich mit seinem Vorschlag an den Direktor der Saarheimer Stadtbibliothek, Suitbert Schirra, wenden. Dieser prüft dann, ob eine ihm vorgeschlagene Veranstaltung den Interessen und der Zweckbestimmung der Saarheimer Stadtbibliothek entspricht, und setzt dann die Veranstaltung "verbindlich" zu einem bestimmten Termin fest. Für Aufwendungen, die dem Veranstalter entstehen, werden pauschal 10,- Euro pro Veranstaltung aus den der Stadtbibliothek hierfür haushaltsrechtlich zugewiesenen Mitteln erstattet.
Eines Tages meldet sich bei Schirra die 78jährige Annerose Eisenbeißer: Sie möge kleine Kinder so gern und habe ihnen immer gern etwas vorgelesen. Ihre Enkel seien hierfür jetzt aber zu groß. Ob sie nicht in der Stadtbibliothek einen Vorlesenachmittag für die Kleinen veranstalten könne. Schirra, dem Frau Eisenbeißer als eifrige Leserin schon lange bekannt ist und der sich sehr gut vorstellen kann, dass sie eine gute Vorleserin ist, ist hiermit sofort einverstanden. Damit alles seine Ordnung hat, schickt er ihr einen Brief, welcher lautet:
"Stadt Saarheim
Der Oberbürgermeister
Stadtbibliothek SaarheimSehr geehrte Frau Eisenbeißer,
ich freue mich, dass sie sich bereiterklärt haben, ehrenamtlich alle zwei Wochen eine Vorlesestunde für Kinder im Alter zwischen 4 und 6 Jahren im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe "Kapitelreise" im Kapitelsaal der Bibliothek durchzuführen. Wie abgesprochen, setze ich den entsprechenden Termin auf jeden zweiten Dienstag im Monat zwischen 15 und 16 Uhr fest und betraue Sie mit der Durchführung der Veranstaltung. Unter der Bezeichnung "Anneroses Märchenstunde" werde ich diese Veranstaltung in das "Literarische Quartal" aufnehmen. Als Aufwandsentschädigung setzte ich 10,- Euro je durchgeführte Veranstaltung fest. Mehr ist angesichts der angespannten Haushaltslage der Stadt leider nicht möglich. Daher bin ich Ihnen für Ihr Engagement auch besonders dankbar. Ich hoffe daher, dass Ihre Veranstaltung ein großer Erfolg wird.
Mit freundlichen Grüßen i. A. Suitbert Schirra (Direktor der Stadtbibliothek)"
Tatsächlich erfreut sich "Anneroses Märchenstunde" in der Folgezeit regen Zuspruchs: Die Eltern der Kinder sind froh, diese für eine Stunde kostenlos in der Stadtbibliothek abliefern zu können und diese Stunde für Besorgungen in der Innenstadt nutzen zu können.
Nach einiger Zeit häufen sich aber gewisse Irritationen: Die Kinder verlassen die Märchenstunde teilweise weinend, teilweise verstört und irritiert. Einige Eltern beschweren sich zudem darüber, dass Frau Eisenbeißer den Kleinen offensichtlich Schauermärchen vorlese. Da sich Schirra dies nicht vorstellen kann, er aber auch den Verdacht nicht los wird, dass da irgend etwas nicht stimmt, setzt er sich beim nächsten Mal dazu. Da traut er seinen Ohren kaum: Annerose Eisenbeißer liest den Kindern Grimms Märchen im Original vor und malt mit entsprechender Gestik insbesondere die grausamen Szenen genüsslich aus. So wundert es ihn nicht, dass die Kinder zu weinen anfangen, wenn Frau Eisenbeißer schildert, wie die Hexe von Gretel in den Ofen geschoben wird, und das Märchen mit den Worten beendet: "Stellt Euch mal vor, wie weh das tut...."
Schirra ist nun in einer misslichen Lage. Er will die Märchenstunde zwar als erfolgreiche Veranstaltung beibehalten, hat aber nunmehr ganz erhebliche Zweifel daran, ob Frau Eisenbeißer zu ihrer Durchführung geeignet ist. Er bittet sie daher zu einem Gespräch, in dem er ihr seine Bedenken gegen die Literaturauswahl und die Art ihres Vorlesens auseinander setzt. Frau Eisenbeißer ist hierüber empört: Sie könne nur so lesen, wie sie es tue. So habe sie ihren Kindern und Enkelkindern vorgelesen, und es habe ihnen nicht geschadet. Die Durchführung der Vorlesenachmittage sei ihr einziger Lebensinhalt geworden den dürfe ihr Schirra nicht wegnehmen. Es gehe ihn auch überhaupt nichts an, was sie vorlese, wenn er insoweit Einfluss nehmen wolle, sei dies Zensur und nach Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG verboten.
Von den Grundrechtskenntnissen von Frau Eisenbeißer verunsichert, fragt Schirra selbst kein Jurist beim Rechtsamt der Stadt Saarheim an, was er jetzt tun solle: Über den Inhalt der Vorlesenachmittage würde vermehrt schlecht geredet. Jedoch poche Frau Eisenbeißer darauf, ein Recht zur Durchführung der Märchenstunde im Kapitelsaal zu haben, das man ihr nicht einfach wegnehmen könne. Zudem habe ihm die Angelegenheit bewusst gemacht, dass es keinerlei nähere gesetzliche oder satzungsrechtliche Regelung über die Verwendung des Kapitelsaals gebe, so dass er sich frage, ob die Frau Eisenbeißer erteilte Erlaubnis nicht schon deshalb rechtswidrig sei. Dürfe und könne er deshalb und wegen des Verhaltens von Frau Eisenbeißer die ihr gegebene Erlaubnis, die Vorlesenachmittage abzuhalten, "kündigen" oder sei sie ohnehin (wegen Rechtswidrigkeit?) gegenstandslos? Sei er oder der Oberbürgermeister der Stadt Saarheim, Oskar Obenauf hierfür zuständig? Welche Verfahrensschritte seien hierbei zu beachten?
Bitte bereiten Sie in einem Gutachten die Antwort des Rechtsamts vor.
Beachten Sie bei der Bearbeitung § 29 und § 59 KSVG und gehen sie davon aus, dass der Betrieb der Stadtbibliothek grundsätzlich in die gemeindliche Zuständigkeit fällt (vgl. § 5 Abs. 2 KSVG) und dass § 19 KSVG für die Falllösung keine Rolle spielt.Zur "Hörbuchvariante" des Falles von Sebastian Baur und Kourosh Semnani unter Mitwirkung von Holger Mühlenkamp und Ulrich Stelkens : https://open.spotify.com/episode/2CbsHrnwfkgznAKnp6YJEr