Nach langem Ringen zwischen der Europäischen Kommission, der französischen und polnischen Regierung, der französischen Staatsbahn SNCF, dem Bundesministerium
für Digitales und Verkehr und der Deutschen Bahn AG konnte endlich Einigkeit erzielt werden über die "europaverbindende" Streckenführung des neuen französisch-deutsch-polnischen Hochgeschwindigkeitszuges EUROFLÈCHE von Paris über Frankfurt am Main und Berlin nach Warschau. Ausgebaut werden sollte auf dem Streckenabschnitt Paris/Frankfurt a.M. die alte Trasse über Metz, Saarbrücken, Homburg (Saar) und Mannheim. Eine solche Streckenführung, insbesondere den vorgesehenen Halt in Saarbrücken, hält die Bundesregierung für zwingend geboten, um auch das Saarland europäisch zu "vernetzen", dadurch den Wirtschaftsstandort Saarland attraktiver zu machen und auf diese Weise die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet zu fördern. Der Ausbau zwischen Paris und Mannheim ist auch weithin unproblematisch, allein die Streckenführung durch Saarheim erweist sich als schwierig: Es zeigt sich, dass es unmöglich ist, den EUROFLÈCHE durch den denkmalgeschützten Saarheimer Bahnhof zu leiten; dies wird auch gar nicht als wünschenswert angesehen, da die "Saarheimer Kurve" bei der Streckenführung zwischen St. Ingbert und Homburg den EUROFLÈCHE zu einer erheblichen Minderung seiner Geschwindigkeit zwingen würde, was zu einer Reiseverzögerung von 2:40 Minuten auf der Gesamtstrecke führen würde. Dies sieht zumindest die französische Staatsbahn SNCF als den Reisenden nicht zumutbar an: Wenn Saarheim nicht südlich umfahren werden könne, würden sie von dem Projekt Abstand nehmen.
Die Stadt Saarheim kündigte allerdings gegen den Bau einer Südumfahrung erheblichen Widerstand an: Aufgrund ihrer geographischen Lage komme allein eine Ausdehnung der Stadt nach Süden hin in Betracht. Die bisher in Aussicht genommene Streckenführung für die "Südumfahrung" führe jedoch über ihr Gemeindegebiet südlich an den Ortsteilen St. Louis und Quierbrück, nördlich der A 6 vorbei. Der Bau eines neuen Bahndamms nördlich der A 6 teilweise nur 1 km von der südlichsten Bebauung der genannten Ortsteile entfernt möglich würde die städtebauliche Entwicklung der Stadt nach Süden hin ausschließen. Auch zahlreiche Eigentümer des im Süden Quierbrücks gelegenen Obstbaumgeländes kündigten Widerstand gegen die mit dem Bau einer Südumfahrung notwendigerweise verbundenen Enteignungen ihrer Grundstücke an, ebenso einige Umweltverbände, die um den Erhalt des zur Zeit noch mikrobiologisch intakten Gebietes der "Quierau" fürchteten. Schon bevor also überhaupt mit einem herkömmlichen Planfeststellungsverfahren nach §§ 18 ff. AEG begonnen werden konnte, zeichnete sich dessen überaus lange Dauer ab.
Dies veranlasste wiederum die französische Regierung und die SNCF zu einer Stellungnahme gegenüber Bundesverkehrsminister Weisnicht, wonach von dem Projekt Abstand genommen werde, wenn mit dem Bau der Südumfahrung Saarheim nicht spätestens in 12 Monaten begonnen werden könne, weil nur dann gewährleistet sei, dass der EUROFLÈCHE zum vorgesehenen Zeitpunkt in Betrieb genommen werden könne, da die Europäische Kommission hiervon die Gewährung erheblicher Finanzhilfen für das Projekt abhängig mache.
Daraufhin beauftragte der Bundesverkehrsminister die private Planungsgesellschaft Urbanplan GmbH mit der detaillierten Planung einer Südumfahrung Saarheim unter Berücksichtigung der von den Betroffenen geltend gemachten öffentlichen und privaten Belange. Nachdem die Urbanplan ihr Gutachten vorgelegt hatte, ließ der Bundesverkehrsminister auf dieser Grundlage einen Entwurf zu einem "Gesetz über den Bau der Südumfahrung Saarheim" erarbeiten. Der Entwurf lautete in seinen wesentlichen Teilen:
§ 1 Zulassung des Baus
(1) Zur Sicherung gutnachbarlicher deutsch-französisch-polnischer Beziehungen und des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist die Südumfahrung Saarheim einschließlich der für den Betrieb dieses Verkehrsweges notwendigen Anlagen zu bauen. Der Bau erfolgt nach dem Plan, der diesem Gesetz als Anlagen 1 bis 12 beigefügt ist.
(2) Durch dieses Gesetz ist die Zulässigkeit des Vorhabens einschließlich der notwendigen Folgemaßnahmen an anderen Anlagen im Hinblick auf alle von ihm berührten öffentlichen Belange festgestellt. Weitere behördliche Entscheidungen, insbesondere öffentlich-rechtliche Genehmigungen, Verleihungen, Erlaubnisse, Bewilligungen, Zustimmungen und Planfeststellungen sind nicht erforderlich. Mit diesem Gesetz werden alle öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen dem Bund als Träger des Vorhabens und den durch den Plan Betroffenen rechtsgestaltend geregelt.
§ 2 Enteignungen
(1) Das Eigentum und sämtliche dinglichen Rechte an den in der Anlage 12 rot bezeichneten Grundstücken gehen drei Monate nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes auf den Bund über. Die Verpflichtung des Besitzers, diese Grundstücke zu räumen, kann durch das Bundesministerium
für Digitales und Verkehr durch Verwaltungsakt festgesetzt werden. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid haben keine aufschiebende Wirkung.
(2) Soweit sich herausstellt, dass die in Absatz 1 Satz 1 bezeichneten Grundstücke oder Teile hiervon für den Bau der Südumfahrung Saarheim nicht benötigt werden, sind sie mit ihrer Zustimmung an die früheren Eigentümer zurück zu übertragen. Soweit für die Teilung eines Grundstücks öffentlich-rechtliche Genehmigungen erforderlich sind, gelten diese als erteilt.
(3) Für die Enteignungsentschädigung gelten die §§ 93 bis 103 des Baugesetzbuches entsprechend. Sie wird von der Enteignungsbehörde i.S.d. § 104 Abs. 1 des Baugesetzbuches festgesetzt. Für das gerichtliche Verfahren zur Überprüfung der Entschädigungsfestsetzungen gelten die §§ 217 bis 232 des Baugesetzbuches entsprechend.
§ 3 Übertragung auf die DB Netz Aktiengesellschaft
Nach Fertigstellung der Südumfahrung Saarheim sind die für ihre Nutzung bahnnotwendigen Liegenschaften auf die DB Netz Aktiengesellschaft zu übertragen. §§ 21 und 23 des Gesetzes zur Zusammenführung und Neugliederung der Bundeseisenbahnen
(Bundeseisenbahnneugliederungsgesetz - BEZNG) sind entsprechend anzuwenden.
Nachdem dieser Gesetzesentwurf vom Kabinett gebilligt worden ist, wird er nach Anhörung des Bundesrates ordnungsgemäß von der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht. In der Entwurfsbegründung war ein vollständiger Abdruck des Gutachtens der Urbanplan GmbH sowie eine Stellungnahme des Bundesministeriums
für Digitales und Verkehr enthalten. Nach grundsätzlicher Billigung des Vorhabens in der ersten Lesung wurde der Entwurf an den
Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages überwiesen, der einen Erörterungstermin mit den Betroffenen ansetzte und eine halbtägige Ortsbesichtigung durchführte. Der Ausschussbericht sah keine Änderungsvorschläge vor. Dementsprechend wurde das Gesetz schließlich im Bundestag ohne Änderungen beschlossen, der Bundesrat stimmte zu.
Im Stadtrat der Stadt Saarheim herrscht über dieses Gesetz Empörung. Die Belange der Stadt seien vom Bundestag "mit Füßen getreten" worden. Ihr würde jegliche Entwicklungsmöglichkeit genommen; darüber hinaus würden auch noch einige für die Gemeindefinanzen sehr wertvollen Grundstücke des gemeindeeigenen Obstbaumgeländes enteignet und dies alles, ohne dass die Stadt Saarheim ordnungsgemäß in einem Planungsverfahren beteiligt worden wäre. Auf Grund eines entsprechenden Auftrags des Stadtrats erhebt daher der Oberbürgermeister der Stadt Saarheim, Oskar Obenauf, im Namen der Stadt form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde gegen das "Gesetz über den Bau der Südumfahrung Saarheim", weil sowohl ihr Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG als auch ihre durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Planungshoheit verletzt seien. Dies sei um so ungerechter, als von Anfang an selbst auf der Hand liegende Planungsalternativen nicht in die Überlegungen mit einbezogen worden seien, so zum Beispiel die Möglichkeit, die Südumfahrung südlich der A 6 durch den Staatsforst Krötenbruch zu führen hierfür hätten wesentlich weniger private Grundstücke enteignet werden müssen als für die nördlichere Variante der Südumfahrung. Das Anhörungsverfahren beim Bundestagsausschuss habe insgesamt nur einen Tag gedauert über die angesprochene Alternative habe man gar nicht reden wollen, da das Gutachten der Urbanplan hierauf nicht eingegangen sei. Schon dies zeige, dass Bundestag und Bundesrat der für eine Planungsentscheidung notwendige Sachverstand fehle. Nicht umsonst sei deshalb im Normalfall die eisenbahnrechtliche Planfeststellung nach §§ 18 ff. AEG für den Bau von Schienenwegen dem Eisenbahn-Bundesamt (vgl. § 3 Nr. 1 BEVVG) und damit einer Verwaltungsbehörde zugewiesen. Es sei daher mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung nicht vereinbar, dass das Parlament Planungsentscheidungen an sich ziehe. Ohnehin habe dem Bund für den Erlass des Gesetzes die Gesetzgebungskompetenz gefehlt. Außerdem verstoße das Gesetz auch gegen die Grundrechte der übrigen durch das Gesetz enteigneten Grundstückseigentümer und das Verbot des Einzelfallgesetzes und könne schon deshalb keine taugliche Grundlage für Eingriffe in die ihr aus Art. 28 Abs. 2 GG gewährten Rechte darstellen.
Empört ist aber auch Karl Knupper, Eigentümer eines der in Anlage 12 des Gesetzes rot bezeichneten Grundstücke. Auch seine Interessen seien bei Erlass des Planungsgesetzes nicht ansatzweise berücksichtigt worden. Die Enteignung von Teilen seines Obstbaugeländes würde für ihn den wirtschaftlichen Ruin bedeuten, da gerade dort, wo der Bahndamm hin solle, seine fruchtbringendsten Bäume stünden. Eine solche Enteignung sei unzulässig, da sie nicht im öffentlichen Interesse erfolge - Begünstigter sei schließlich die DB Netz AG, eine Konzerntochter der Deutschen Bahn AG, die ein privates Wirtschaftsunternehmen sei. Durch das Gesetz werde ihm zudem jeglicher Rechtsschutz gegen die Enteignung abgeschnitten, so dass hierdurch nicht nur sein Grundrecht aus Art. 14 GG, sondern auch aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt werde. Auch sonst verletze das Gesetz die Verfassung: Es verstoße - wie die Stadt Saarheim in ihrem Antrag zutreffend ausgeführt habe - gegen Art. 70 ff. GG, das Gewaltenteilungsprinzip, gegen Art. 28 Abs. 2 GG und gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes.
Auch Knupper erhebt daher formgemäß unmittelbar nach seinem In-Kraft-Treten Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz über den Bau der Südumfahrung Saarheim.
Haben die Verfassungsbeschwerden Aussicht auf Erfolg?
Bearbeitervermerk: Auf Fragen der (Un-)Vereinbarkeit des Gesetzes über den
Bau der Südumfahrung Saarheim mit dem Unionsrecht und der Aarhus Konvention
ist nicht einzugehen.
Lösungsvorschlag zu der Verfassungsbeschwerde der Stadt Saarheim
Lösungsvorschlag zu der Verfassungsbeschwerde Knuppers Zurück zum Inhaltsverzeichnis
Zurück zum Stadtplan
Teilnehmer der Rathausführung: Nach Bearbeitung hier lang!