Stand der Bearbeitung: 14. April 2023
© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)
mit freundlicher Unterstützung der jurmatix Legal Intelligence UG (haftungsbeschränkt), Gersheim
Siehe hierzu
Freudinger, SächsVBl. 2019, 61 ff.; Schemmel, NVwZ 2018, 105 ff.; Schmidt, DVBl. 2022, 133 ff.
die Fallbearbeitung bei Kisker, Fälle zum Staatsorganisationsrecht, 1. Aufl. 1985, S. 158 ff. (der Fall [Fall 16 mit dem Titel "Nordatlantik"] ist in dieser Fallsammlung seit ihrer 2. Aufl. [aktuell: Höfling/Rixen, Fälle zum Staatsorganisationsrecht, 6. Aufl. 2019] nicht mehr enthalten)
A) Frage 1
Gräfin von Eisen wurde nicht rechtmäßig mit der Funktion der geschäftsführenden Bundeskanzlerin betraut, wenn der Bundespräsident im Fall des Todes des Bundeskanzlers ohnehin keinen geschäftsführenden Bundeskanzler ernennen darf oder wenn er nicht gerade Gräfin von Eisen zur geschäftsführenden Bundeskanzlerin ernennen durfte.
I. Fehlen einer ausdrücklichen Regelung im Grundgesetz
Einen geschäftsführenden Bundeskanzler durch den Bundespräsidenten einzusetzen, wäre jedenfalls schon dann verfassungswidrig, wenn es einer solchen Maßnahme gar nicht bedürfte, weil das Grundgesetz selbst bereits für den Fall des Todes des Bundeskanzlers eine Regelung enthält. Eine solche könnte jedoch allenfalls Art. 69 Abs. 1 GG entnommen werden, nach dem der Bundeskanzler einen Bundesminister zum Stellvertreter zu ernennen hat. Hieraus könnte man schließen, dass automatisch der Stellvertreter das Amt des Bundeskanzlers wahrzunehmen hat, wenn dieser stirbt. Jedoch zeigt Art. 69 Abs. 2 GG, dass eine solche Argumentation nicht zutrifft: Nach dieser Bestimmung endet das Amt eines Bundesministers (und damit auch das des Stellvertreters, der ja Bundesminister sein muss) mit jeder Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers. Den Tod des Bundeskanzlers wird man als - wohl eindeutigste - Form der Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers ansehen müssen.
Anmerkung: Siehe hierzu Epping, in: Huber/Voßkuhle, Art. 69 Rn. 17; Schmidt, DVBl. 2022, 133, 136.
Somit existiert mit dem Tod des Bundeskanzlers keine Bundesregierung mehr.
II. Anwendbarkeit des Art. 69 Abs. 3 GG?
Der Bundespräsident könnte allerdings nach Art. 69 Abs. 3 GG berechtigt sein, eine geschäftsführende Bundesregierung zu ernennen. Hiernach ist auf Ersuchen des Bundespräsidenten der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen. Diese Vorschrift weist jedoch keine Bestimmung darüber auf, was bei dem Tode des Bundeskanzlers geschehen kann und soll, sondern betrifft lediglich den Fall, dass der bisherige Bundeskanzler sein Amt aufgrund des Zusammentritts eines neuen Bundestages (Art. 69 Abs. 2 GG) oder durch Rücktritt verloren hat.
Auch die Fälle des Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG und des Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG sind von Art. 69 Abs. 3 GG nicht erfasst. Denn in diesen Fällen ist der Amtsverlust verbunden mit der gleichzeitigen Wahl eines neuen Bundeskanzlers, den der Bundespräsident ernennen muss. Der Bundespräsident ist also lediglich in den genannten Fällen der Amtsbeendigung durch Rücktritt oder durch Zusammentritt eines neuen Bundestages berechtigt, den bisherigen Bundeskanzler zu ersuchen, die Geschäfte weiterzuführen. Dabei ist strittig, ob eine derartige Verpflichtung des Bundespräsidenten besteht, doch dürfte sie angesichts der Notwendigkeit, dass eine Bundesregierung zur Führung der Geschäfte im Amt sein muss - mit dem Amt des Bundeskanzlers endet ja auch das der Bundesminister -, zu bejahen sein. Andernfalls käme, um unaufschiebbare Maßnahmen zu treffen, bei Fehlen einer Bundesregierung einzig der Bundespräsident in Betracht, d.h. ein dem Parlament nicht verantwortliches Staatsorgan. Dies wäre mit dem parlamentarischen Regierungssystem nur schwerlich vereinbar.
Dieselbe Problematik entsteht aber - wie gezeigt -, wenn der Bundeskanzler stirbt. Dürfte der Bundespräsident in einem solchen Fall keine geschäftsführende Bundesregierung ernennen, müsste er selbst - wer sonst? - unaufschiebbare Maßnahmen treffen und die Geschäfte der laufenden Verwaltung übernehmen, bis ein neuer Bundeskanzler gewählt ist (was nach der Regelung des Art. 63 GG lange dauern kann). Dass dies vom Grundgesetz nicht gewollt ist, zeigt auch Art. 55 Abs. 1 GG, nach dem der Bundespräsident nicht der Regierung des Bundes angehören darf. Hier wird deutlich, dass das Grundgesetz für den Fall des Todes des Bundeskanzlers eine Regelungslücke enthält.
Anmerkung: Siehe hierzu Schemmel, NVwZ 2018, 105, 106.
Diese Regelungslücke kann sachgemäß nur durch eine analoge Anwendung des Art. 69 Abs. 3 GG geschlossen werden: Auch beim Tode des Bundeskanzlers muss wieder eine parlamentarisch verantwortliche Regierung eingesetzt werden. Wenn der Bundestag nicht in der Lage ist, einen neuen Bundeskanzler zu wählen, muss deshalb - entsprechend den organisatorischen Grundstrukturen der Verfassung - dem Bundespräsidenten eine außerordentliche Ernennungsbefugnis zuerkannt werden, die sich an die Regelung des Art. 69 Abs. 3 GG anlehnt.
Anmerkung: So die überwiegende Meinung in der Literatur, vgl. z.B. Freudinger, SächsVBl. 2019, 61, 63; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 69 Rn. 59; Kämmerer, in: von Münch/Kunig, Art. 69 Rn. 35; von Mangoldt/Klein, Art. 69 Anm. V 7 b; Schemmel, NVwZ 2018, 105, 106; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 69 Rn. 119 (Bearbeitung 2020).
Da es dem Bundestag möglich ist, gemäß Art. 63 GG binnen kürzester Frist einen von ihm gewählten Bundeskanzler einzusetzen, verstößt die außerordentliche Ernennungsbefugnis des Bundespräsidenten nicht gegen die Kreationsfunktion des Bundestages.
III. Beschränkung der Auswahlmöglichkeit des Bundespräsidenten
Allerdings steht dem Bundespräsidenten nach wohl herrschender Auffassung bei der Ausübung der ihm eingeräumten Befugnis nach h.M. in der Regel kein Ermessen zu.
Anmerkung: Vgl. z.B. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 69 Rn. 59; Kämmerer, in: von Münch/Kunig, Art. 69 Rn. 35; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 69 Rn. 120 f. (Bearbeitung 2020).
Dies ergibt sich daraus, dass das Grundgesetz - wie etwa Art. 63, Art. 64 GG deutlich zeigen - dem Bundespräsidenten nur einen sehr bescheidenen Einfluss auf die Zusammensetzung der Bundesregierung zugesteht: Er ist hinsichtlich der Person des Bundeskanzlers auf ein Vorschlagsrecht beschränkt (Art. 63 Abs. 1 GG), das sich mit der Verwerfung des Vorschlags durch den Bundestag erledigt; die anderen Mitglieder der Bundesregierung schlägt der Bundeskanzler vor, und der Bundespräsident ist grundsätzlich verpflichtet, den Vorschlägen zu folgen. Wenn auch der Bundespräsident im Rahmen des Art. 68 GG beispielsweise eine politische Leitentscheidung zu treffen hat, die in seinem pflichtgemäßen Ermessen steht und er nicht auf die Funktion eines Staatsnotars beschränkt ist, so wäre ein Ermessen dahingehend, dass er den Bundeskanzler nach seinen Vorstellungen auswählen könnte, mit der ihm von der Verfassung zugewiesenen Stellung nicht vereinbar.
Anmerkung: Siehe zur Rolle des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung den Chefsache-II-Fall; zur Rolle des Bundespräsidenten im Rahmen des Art. 68 GG den Chefsache-II-Fall.
Vielmehr wird davon auszugehen sein, dass seine Auswahlmöglichkeit im Regelfall auf die Person des Stellvertreters des Bundeskanzlers beschränkt ist.
Anmerkung: Siehe hierzu Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 69 Rn. 59; Kämmerer, in: von Münch/Kunig, Art. 69 Rn. 35; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 69 Rn. 120 (Bearbeitung 2020).
Dies ist gerechtfertigt, weil Art. 69 Abs. 3 GG sich bei der Auswahl der Mitglieder einer geschäftsführenden Bundesregierung an der politischen Legitimation orientiert, die die Betreffenden zuvor innegehabt haben. Nach Art. 69 Abs. 1 GG ernennt der Bundeskanzler einen der Bundesminister zu seinem Stellvertreter.
Anmerkung: Zur Ernennung und zu den Aufgaben des Vizekanzlers Schmidt, DVBl. 2022, 133 ff. Nach h. M. darf der Bundeskanzler insoweit nur einen, nicht mehrere Minister zu Stellvertretern ernennen, siehe hierzu m.w.N. (und eine andere Ansicht vertretend) Beckermann, DÖV 2018, 369 ff.
Auch wenn die Stellvertretung mit dem Tod des Bundeskanzlers erlischt, so ist doch zu berücksichtigen, dass der Stellvertreter in der alten Bundesregierung zur (vertretenden) Wahrnehmung der Geschäfte des Bundeskanzlers befugt war. Das weist den Stellvertreter von seiner Legitimation her als denjenigen aus, der dem Amt eines geschäftsführenden Bundeskanzlers am nächsten steht.
Anmerkung: Siehe hierzu Epping, in: Huber/Voßkuhle, Art. 69 Rn. 39; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 69 Rn. 120 (Bearbeitung 2020).
Die persönliche Eignung für das Amt eines Stellvertreters des Bundeskanzlers mag insbesondere in einer Koalitionsregierung nicht immer ausschlaggebend für die Bestellung des Betreffenden sein. Hierauf kommt es jedoch nicht an, sondern nach der Verfassung ist der Stellvertreter schlechthin zur Vertretung des Bundeskanzlers geeignet und deshalb auch der geeignete geschäftsführende Bundeskanzler. Der Bundespräsident hat über die Eignung im Regelfall nicht mehr zu befinden, weil darüber gemäß Art. 69 Abs. 1 GG durch den bisher amtierenden Bundeskanzler entschieden worden ist. Im Übrigen bleibt zu berücksichtigen, dass auch dann, wenn der gewählte Bundeskanzler noch im Amt ist, aber an der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte auf längere Zeit - etwa durch Krankheit - gehindert ist, der Stellvertreter unabhängig von seiner Eignung die Geschäfte zu führen hat.
Anmerkung: Teilweise wird jedoch auch angenommen, der Bundespräsident könne sein Ersuchen an jedes der bisherigen Kabinettsmitglieder richten und ihm stehe insoweit ein weitreichendes politisches Ermessen zu. Die Person des Ersuchten solle einer an den Umständen des Einzelfalls orientierten Entscheidung des Staatsoberhauptes überlassen bleiben und nicht anhand abstrakter und damit notwendig holzschnittartiger Erwägungen vorweggenommen werden (so Schemmel, NVwZ 2018, 105, 106 f.; dem folgend Freudinger, SächsVBl. 2019, 61, 63; Schmidt, DVBl. 2022, 133, 137). Diese Auffassung ist natürlich ebenfalls vertretbar. Jedoch spricht gegen sie wohl v. a. die Überlegung, dass auch in den übrigen Fällen, in denen der Bundespräsident in die Kreation der (geschäftsführenden) Bundesregierung bzw. zur Bewältigung von Regierungskrisen eingebunden ist (Art. 63 Abs. 1 und 4 Satz 3, Art. 68 Abs. 1 Satz 1, Art. 69 Abs. 3 GG), das Entscheidungsermessen des Bundespräsidenten auf die Wahl zwischen zwei Alternativen beschränkt und ihm damit insoweit gerade kein umfassendes Entscheidungsermessen zusteht.
IV. Ergebnis zu A
Da hiernach der Bundespräsident beim Tode des Bundeskanzlers in der Auswahl des geschäftsführenden Bundeskanzlers regelmäßig darauf beschränkt ist, den früheren Stellvertreter zu ernennen, und sich dem Sachverhalt keine gewichtigen Gründe für eine Abweichung von der Regel entnehmen lassen (denn das politische Durchsetzungsvermögen ist kein maßgebliches Kriterium), war die Ernennung Gräfin von Eisens verfassungswidrig. Gräfin von Eisen ist somit nicht rechtmäßig mit der Funktion der Bundeskanzlerin betraut worden.
Weil die Ernennung Gräfin von Eisens zur Bundeskanzlerin verfassungswidrig war, könnte hieraus folgen, dass alle Maßnahmen der von Gräfin von Eisen geleiteten Bundesregierung nichtig sind. Dies wird man aber nur annehmen können, wenn die Ernennung Gräfin von Eisens (und hierauf aufbauend auch die Ernennung der Bundesminister) selbst als nichtig, d.h. als rechtlich nicht geschehen anzusehen ist, mit der Folge, dass für den Zeitraum, in der diese Regierung "im Amt" ist, tatsächlich keine Bundesregierung bestand.
I. Nichtigkeit der Ernennung Gräfin von Eisens
Ob aus der Verfassungswidrigkeit der Ernennung Gräfin von Eisens schon deren Nichtigkeit folgt, ist jedoch zweifelhaft. Eine ausdrückliche Regelung fehlt insoweit. Auch sind die Konsequenzen der Fehlerhaftigkeit eines Staatsaktes höchst unterschiedlich: Es ist sowohl möglich, dass ein Rechtsfehler keinerlei Folgen für die Wirksamkeit und Gültigkeit des Staatsaktes hat als auch dass der Rechtsfehler den Staatsakt bloß aufhebbar macht oder gar zur Nichtigkeit des Staatsaktes führt. Eindeutige Vorschriften, die sich mit der Fehlerhaftigkeit von Staatsakten allgemein befassen, existieren jedoch nicht. Es gibt jedoch Einzelregelungen für bestimmte staatliche Handlungsformen: So gehen §§ 78, 95 Abs. 3 BVerfGG und § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO davon aus, dass fehlerhafte Parlamentsgesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen regelmäßig nichtig sind (sog. Nichtigkeitsdogma).
Anmerkung: Hierzu und zu den zahlreichen Durchbrechungen dieses Grundsatzes: Zimmermann, JA 2018, 249 ff.; zu Ausnahmen von der Nichtigkeitsfolge bei fehlerhaften Rechtsnormen siehe auch den Strickliesel-Fall.
§§ 43 ff. VwVfG ordnet demgegenüber an, dass fehlerhafte Verwaltungsakte i.S.d. § 35 VwVfG grundsätzlich wirksam, jedoch aufhebbar sind.
Anmerkung: Siehe hierzu etwa den Sammlerstücke-Fall und den Wahlverwandtschaften-Fall.
Eine mit den §§ 43 ff. VwVfG vergleichbare Konzeption liegt auch den §§ 578 ff. ZPO in Bezug auf fehlerhafte Gerichtsurteile zugrunde. Dem wird man entnehmen können, dass die deutsche Rechtsordnung im Grundsatz davon ausgeht, dass abstrakt-generelle Staatsakte (wie Parlamentsgesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen) bei Fehlerhaftigkeit typischerweise als nichtig anzusehen sind, während fehlerhafte Einzelfallregelungen (wie Verwaltungsakte und Gerichtsurteile) typischerweise als wirksam, jedoch als aufhebbar anzusehen sind. Insofern wird man von einem allgemeinen Rechtsgedanken ausgehen können, mit dessen Hilfe sich grundsätzlich auch die Wirkungen solcher fehlerhafter Staatsakte bestimmen lassen, deren Fehlerfolgen nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt sind.
Anmerkung: Ablehnend wohl BVerwG, 6 P 12/04 v. 4.10.2005, Abs. 14 = NVwZ-RR 2006, 335 (betreffend Personalratsbeschluss); differenzierend Spitzlei, DÖV 2022, 659, 663 ff. (betreffend Gemeinderatsbeschlüsse).
Hier spricht daher einiges dafür, die Rechtsfolgen der fehlerhaften Ernennung des Bundeskanzlers und der Bundesminister zumindest in Anlehnung an die §§ 43 ff. VwVfG zu bestimmen, obwohl es sich hierbei nicht um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG, sondern um einen "Regierungsakt" handelt.
Anmerkung: Siehe zur Rechtsnatur von Regierungsakten auch den Piätsch-Affaire-Fall und zur Übertragbarkeit der Rechtsgedanken der §§ 43 ff. VwVfG auf Nicht-Verwaltungsakte den Kraftprobe-Fall.
Dementsprechend dürften nach dem Rechtsgedanken des § 44 Abs. 1 VwVfG nur diejenigen verfassungswidrigen Regierungsakte, die mit einem offensichtlichen und schwerwiegenden Fehler behaftet sind, als nichtig zu bezeichnen sein, während andere Staatsakte, die gegen die Verfassung verstoßen, zwar als rechtswidrig, aber lediglich aufhebbar einzustufen sein dürften. Eine derartige Differenzierung ist insbesondere im Hinblick auf die weiteren Konsequenzen der Einordnung sowie um der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit willen geboten, wenn keine entgegenstehenden Vorschriften bestehen.
Im vorliegenden Fall erscheint es unter Berücksichtigung dieser Erwägungen höchst zweifelhaft, ob die Ernennung Gräfin von Eisens zur geschäftsführenden Bundeskanzlerin so offenkundig fehlerhaft ist, dass ihre Nichtigkeit angenommen werden muss (wohingegen die Schwere des Fehlers wohl zu bejahen ist, aber allein nicht genügt). Da das Grundgesetz für den Fall des Todes des Bundeskanzlers keine Regelungen enthält, drängt es sich nicht auf, dass die Ernennung Gräfin von Eisens wegen der Nichtberücksichtigung Stinkels verfassungswidrig ist - angesichts der Verfassungslücke liegt keine Offenkundigkeit des Fehlers vor, zumal die vom Bundespräsidenten gewählte Lösung politisch durchaus sinnvoll ist. Deshalb wird die Ernennung Gräfin von Eisens lediglich als rechtswidrig und aufhebbar, nicht aber als nichtig zu beurteilen sein.
II. Nichtigkeit der von der Regierung getroffenen Maßnahmen
Da somit Gräfin von Eisen wirksam zur Bundeskanzlerin ernannt wurde, ist sie - bis zur Aufhebung oder sonstigen Beendigung dieser Ernennung - als Bundeskanzlerin i.S.d. Grundgesetzes anzusehen. Folglich ist auch die - auf dieser Ernennung aufbauende - Betrauung der Bundesminister mit der Fortführung der Geschäfte nach Art. 69 Abs. 3 GG wirksam. Damit steht auch der Wirksamkeit aller Maßnahmen, die die so ernannte Bundesregierung in der Folgezeit getroffen hat, nicht die Rechtswidrigkeit der Ernennung Gräfin von Eisens entgegen.
Hierfür spricht zudem auch der Rechtsgedanke des § 15 Satz 3 BBG, der zwar nicht in das BeamtStG, jedoch in alle Landesgesetze (siehe beispielsweise § 8 Abs. 2 SBG) aufgenommen wurde. Diese Bestimmung ordnet im Interesse der Rechtssicherheit an, dass selbst bei Nichtigkeit einer Beamtenernennung die von dem nicht ordnungsgemäß ernannten Beamten vorgenommenen Amtshandlungen in gleicher Weise gültig sind, als wenn sie ein Beamter vorgenommen hätte. Diese Bestimmung wird man auf den Fall des nicht ordnungsgemäß ernannten Regierungsmitgliedes analog anwenden können: Zwar wird das Ministerverhältnis seit 1918 nicht mehr als Beamtenverhältnis, sondern als öffentlich-rechtliches Amtsverhältnis eigener Art gesehen (§ 1 Bundesministergesetz). Dem steht jedoch nicht entgegen, einzelne für das Beamtenverhältnis geltende Bestimmungen auf das Ministerverhältnis analog anzuwenden, sofern das Bundesministergesetz lückenhaft ist und die Besonderheiten des Ministerverhältnisses dem nicht entgegenstehen.
Anmerkung: Siehe hierzu in anderen Zusammenhängen OVG Magdeburg, A 3 S 6/96 v. 3.12.1997, Abs. 61 f. (juris); VG Weimar, 8 K 1196/13 v. 29.10.2015, S. 7 f. = ThürVBl. 2016, 127, 128 (für Befugnis zum Erlass von Leistungsbescheiden bei Rückforderung der Überzahlung von Amtsbezügen); U. Stelkens, DVBl. 1998, 300, 305 (für Schadensersatzhaftung).
Hier ist nicht erkennbar, welche Besonderheiten des Ministerverhältnisses einer analogen Anwendung des § 15 Satz 3 BBG in der vorliegenden Konstellation entgegenstehen könnten. Damit sind auch aus diesem Grund die von der Regierung Gräfin von Eisen getroffenen Maßnahmen nicht als nichtig anzusehen.
III. Ergebnis zu B
Aus der Verfassungswidrigkeit der Ernennung Gräfin von Eisens folgt somit nicht, dass alle Maßnahmen der von Gräfin von Eisen geleiteten Regierung nichtig sind.
C) Frage 3
Das Recht der Bundesregierung, ein Gesetz (und damit auch das Gesetz zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts) in den Bundestag einzubringen, ergibt sich grundsätzlich aus Art. 76 Abs. 1 GG.
I. (Keine) Relevanz der Rechtswidrigkeit der Berufung Gräfin von Eisens zur geschäftsführenden Bundeskanzlerin
Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht aus dem Umstand, dass Gräfin von Eisen unter Verstoß gegen die Verfassung zur geschäftsführenden Bundeskanzlerin berufen wurde (s.o. A III), denn die Verfassungswidrigkeit der Ernennung führt nicht zur Nichtigkeit der anschließend getroffenen Entscheidungen (s.o. B). Solange die Bestellung Gräfin von Eisens zur geschäftsführenden Bundeskanzlerin nicht aufgehoben oder in sonstiger Weise beendet ist, bleibt sie wirksam. Dies gilt auch für die anderen Bundesminister, so dass die geschäftsführende Bundesregierung in der Lage ist, ihre Kompetenzen wahrzunehmen.
II. Beschränkungen geschäftsführender Bundesregierungen auf "Geschäfte laufender Verwaltung"?
Jedoch könnte das Recht aus Art. 76 Abs. 1 GG im vorliegenden Fall beschränkt sein, da es sich bei der von Gräfin von Eisen geleiteten Bundesregierung nur um eine geschäftsführende Bundesregierung handelt und es sich bei der Einbringung des Gesetzes um eine politische Leitentscheidung handelt. Aus Art. 69 Abs. 3 GG lassen sich jedoch - ebenso wie aus anderen Bestimmungen der Verfassung - keine Einschränkungen der Befugnisse einer geschäftsführenden Bundesregierung herleiten.
Anmerkung: Dies gilt auch für den Stellvertreter des Bundeskanzlers, wenn der Bundeskanzler länger (z. B. wegen Krankheit) verhindert ist, siehe hierzu Schmidt, DVBl. 2022, 133, 235 f. Nur für den geschäftsführenden Bundeskanzler ergeben sich - hier nicht einschlägige - Beschränkungen bei der Ausübung von Befugnissen nach Art. 68 GG; und ihm kann auch nicht gemäß Art. 67 GG das Misstrauen ausgesprochen werden: Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 69 Rn. 61; Kämmerer, in: von Münch/Kunig, Art. 69 Rn. 42; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 69 Rn. 125 (Bearbeitung 2020).
Zwar hat eine geschäftsführende Bundesregierung lediglich eine "Platzhalterfunktion" für die nach den Art. 63 und 64 GG zu bestellende Bundesregierung, aber der vom Parlament nicht (mehr) legitimierte "Platzhalter" ist nicht auf die Vornahme unumgänglicher Maßnahmen beschränkt. Es mag (verfassungs-)politisch wünschenswert sein, dass eine geschäftsführende Bundesregierung allein solche Entscheidungen trifft, die für den Fortgang der Geschäfte unabdingbar sind, und politische Leitentscheidungen einer parlamentarisch legitimierten Bundesregierung überlässt; jedoch stehen ihr grundsätzlich nicht weniger Befugnisse zu als der Regierung eines vom Bundestag gewählten Bundeskanzlers, und sie ist nicht auf die Erfüllung unverzüglich zu erledigender Angelegenheiten beschränkt. Im Interesse der Funktionsfähigkeit des Staates muss vielmehr auch eine geschäftsführende Bundesregierung mit denselben Handlungsbefugnissen ausgestattet sein wie eine Bundesregierung, die von einem parlamentarisch berufenen Bundeskanzler geleitet wird.
Anmerkung: Siehe hierzu Freudinger, SächsVBl. 2019, 61, 64; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 69 Rn. 60; Kämmerer, in: von Münch/Kunig, Art. 69 Rn. 41; Schemmel, NVwZ 2018, 105, 108 f.; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 69 Rn. 123 (Bearbeitung 2020).
Dieses Ergebnis führt auch nicht zu einer verfassungswidrigen Verkürzung der Rechte des Bundestags. Dem Bundestag steht es frei, gemäß Art. 63 GG, d.h. also gegebenenfalls auch nach Abs. 4 dieser Vorschrift, durch Wahl eines Minderheitskanzlers seine Rechte wahrzunehmen. Kann sich der Bundestag nicht auf die Wahl eines Bundeskanzlers einigen, so ist es im Interesse des Gemeinwesens erforderlich, dass durch die im Amt befindliche - wenngleich nur geschäftsführende - Bundesregierung die notwendigen Entscheidungen getroffen werden, für die die Regierung generell die Kompetenz besitzt, z.B. außenpolitische Entscheidungen oder auch die Beschlussfassung über Vorschläge zu Gesetzesänderungen und die Einbringung dieser Vorschläge im Parlament. Einer Einengung der Regierungsbefugnisse zum Schutze parlamentarischer Rechte bedarf es nicht.
III. Ergebnis zu C
Die von Gräfin von Eisen geleitete Bundesregierung konnte damit wirksam auch das Gesetz zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts einbringen.
Fragen und Anregungen zur Lösung? stelkens@uni-speyer.de