Anmerkung zur Bedeutung des § 78 Abs. 1 VwGO

(Stand der Bearbeitung: 21. Januar 2022)

© Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)

mit freundlicher Unterstützung der jurmatix Legal Intelligence UG (haftungsbeschränkt), Gersheim

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Inhaltsübersicht

   
I. Entstehungsgeschichte des § 78 VwGO und des § 61 Nr. 3 VwGO
   
II. Der Meinungsstreit zum Regelungsgehalt des § 78 VwGO
   
III Konsequenzen des Meinungsstreits für den Prüfungsaufbau
   
IV. Anwendungsbereich des § 78 Abs. 1 VwGO
   
V. Rechtsfolgen bei Geltung des Behördenprinzips nach § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO
   

Die Vorschrift des § 78 VwGO bereitet Studenten (aber nicht nur denen) oftmals Verständnisschwierigkeiten, weil es sich hierbei einmal um eine Regelung des (ungeliebten) Verwaltungsprozessrechts handelt und sie sich darüber hinaus noch auf das (soweit möglich oft noch unbeliebtere) Verwaltungsorganisationsrecht bezieht. Erschwert wird dieses Verständnis noch von einem Meinungsstreit, der als Dauerbrenner bezeichnet werden kann, bei dem unklar ist, was herrschende und was Mindermeinung ist, und zu dem man trotzdem zwangsläufig (zumindest implizit) Stellung nehmen muss, da er vor allem Konsequenzen für den Aufbau hat

Anmerkung: Siehe hierzu auch Rozek, JuS 2007, 601 ff.

Um die Regelung des § 78 VwGO zu verstehen, muss jedenfalls Klarheit über den § 78 VwGO (und § 61 Nr. 3 VwGO) zu Grunde liegenden verwaltungsorganisatorischen Behördenbegriff bestehen. Es sollte daher zunächst die Anmerkung zum verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff durchgearbeitet werden.

Anmerkung: In diesem Zusammenhang kann man sich auch diesen Hinweis zum zu verklagenden Rechtsträger bei Auftragsverwaltung, zwischenbehördlichem Mandat und Organleihe zu Gemüte führen.

I. Entstehungsgeschichte des § 78 VwGO und des § 61 Nr. 3 VwGO

Vor In-Kraft-Treten der VwGO galten in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Verwaltungsgerichtsordnungen, insbesondere galten in den Ländern der amerikanischen Zone (Bayern, Bremen, Hessen, Württemberg-Baden) die im Wesentlichen gleichlautenden Gesetze über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (VGG), während in den Ländern der britischen Zone (Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) die Verordnung Nr. 165 vom 15. September 1948 (Verordnungsblatt für die Britische Zone 1948, S. 111, 263), die sog. MRVO Nr. 165 galt.

Anmerkung: Die Länder der französischen Zone (Rheinland-Pfalz, Baden, Württemberg-Hohenzollern), das Saarland (kein Teil der französischen Zone!) und Westberlin hatten jeweils eigene Verwaltungsgerichtsgesetze erlassen (Fundstellen bei Schmidt-Aßmann/Schenk, in: Schoch/Schneider, Einleitung Rn. 83), auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.

Diese Gesetze gestalteten die Beteiligtenfähigkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unterschiedlich aus:

Die MRVO Nr. 165 ordnete in § 50 entsprechend § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO an, dass die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen die Behörde zu richten sei, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen oder den beantragten Verwaltungsakt abgelehnt oder sonst unterlassen hat. Hieraus wurde geschlossen, dass in diesem Fall auch Behörden - entsprechend der heutigen Regel des § 61 Nr. 3 VwGO - beteiligtenfähig sind, während man sonst grundsätzlich entsprechend § 50 Abs. 1 ZPO natürliche und juristische Personen für beteiligtenfähig hielt (§ 40 MRVO Nr. 165 regelte darüber hinaus ausdrücklich die Beteiligtenfähigkeit des nicht rechtsfähigen Vereins). Damit galt in den Ländern der Britischen Zone für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen das sog. Behördenprinzip, während alle anderen Klagen (Leistungs- und Feststellungsklagen) nicht gegen die am Streit beteiligte Behörde, sondern gegen den Behördenträger zu richten waren.

Anmerkung: Diese seltsame Differenzierung beruhte seinerseits darauf, dass das preußische Verwaltungsprozessrecht prinzipiell nur Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen kannte und der Verwaltungsprozess in gewisser Weise als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens verstanden wurde. Hieraus ergab sich wie von selbst, dass nicht der jeweilige Behördenträger im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu beteiligen war, sondern die Behörde selbst, die bisher das Verwaltungsverfahren in der Hand hatte. Erst die Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel des Art. 19 Abs. 4 GG eröffnete die Möglichkeit verwaltungsgerichtlicher Klagen, denen kein Verwaltungsverfahren vorausgegangen war, also insbesondere Feststellungsklagen und auf Realakte gerichtete Leistungsklagen. Um diese neuen Klagearten verwaltungsprozessual zu bewältigen, orientierte man sich nun eher an den entsprechenden Regelungen des Zivilprozessrechts und weniger am Verwaltungsverfahrensrecht. Daher lag insoweit eher nahe, nur eine Beteiligtenfähigkeit natürlicher und juristischer Personen anzuerkennen und nicht auf die Behörde abzustellen.

Die VGG ordneten demgegenüber in § 46 Abs. 1 an, dass die Anfechtungsklage (womit als Oberbegriff Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im heutigen Sinne gemeint war, vgl. § 35 VGG) "gegen den Staat als Anfechtungsgegner zu richten" sei. Sofern die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, aber keine staatliche Behörde war, so war "Anfechtungsgegner die Körperschaft, der diese Behörde angehört". § 46 Abs. 2 VGG bestimmte dann näher, dass die Vertretung des Klagegegners der Behörde obliege, die den Verwaltungsakt erlassen habe. Folgerichtig bestimmte § 53 VGG (i.V.m. § 86 VGG), dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nur rechtsfähige (also natürliche und juristische) Personen beteiligtenfähig waren, außerdem auch nicht rechtsfähige Personenvereinigungen. Damit war im Geltungsbereich des VGG für alle Klagearten das sog. Rechtsträgerprinzip eingeführt.

Welchem Modell die VwGO folgen sollte, war nun während ihrer Beratungen umstritten: Der Regierungsentwurf zu einer Verwaltungsgerichtsordnung (BT-Drs. 3/55) sah in § 64, der dem heutigen § 61 VwGO entspricht, nur vor, dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren beteiligtenfähig natürliche und juristische Personen und nichtrechtsfähige Personenvereinigungen seien. Eine Bestimmung über die Beteiligtenfähigkeit von Behörden fehlte. Eine dem heutigen § 78 VwGO entsprechende Vorschrift war ebenfalls nicht vorgesehen. § 79 des Entwurfs enthielt lediglich eine Bestimmung, die dem heutigen § 78 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 VwGO entspricht ("Für die Klageerhebung genügt [bei der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage] zur Bezeichnung des Beklagten die Angabe der Behörde, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen oder den beantragten Verwaltungsakt unterlassen hat"). Man folgte demnach grundsätzlich dem Rechtsträgerprinzip. Zur Begründung wurde hierzu ausgeführt (Einzelbegründung zu § 64, BT-Drs. 3/55, S. 37):

"Mit dieser Regelung wird die noch in der VO Nr. 165 anerkannte Parteifähigkeit einer Behörde beseitigt. Hierfür besteht auch kein Bedürfnis mehr. Denn ebenso wie im Zivilprozess bleibt es der Bundes- und jeder Landesregierung überlassen, auf Grund des Organisationsrechts die Stelle zu bestimmen, die ihre Vertretung im Verfahren wahrnehmen soll. So könnte z.B. auch bestimmt werden, dass jeweils die Stelle vertretungsberechtigt sein soll, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Dadurch wäre der gleiche Zustand hergestellt, wie er jetzt im Geltungsbereich der VO Nr. 165 besteht. Hiergegen kann auch nicht eingewendet werden, dass dem Staatsbürger im Allgemeinen nicht die Kenntnis solcher Organisationsverfügungen zugemutet werden könne. Denn nach § 79 genügt für die Klageerhebung in jedem Fall die Bezeichnung der Behörde, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Es ist dann u.U. Aufgabe des Gerichts, den richtigen Beklagten zu ermitteln. [Es] besteht auch kein Anlass dazu, für Behörden desselben Rechtsträgers durch die Verleihung der Parteifähigkeit die Möglichkeit zur Führung von Verwaltungsprozessen gegeneinander zu schaffen. Es fehlt in einem solchen Falle an einem wirklichen Rechtsschutzbedürfnis."

Da eine § 46 VGG (bzw. eine § 78 VwGO) entsprechende Vorschrift fehlte, wäre nach dem Regierungsentwurf allerdings nicht zwangsläufig der Rechtsträger zu verklagen gewesen, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen bzw. den beantragten Verwaltungsakt abgelehnt oder unterlassen hat. Zu verklagen wäre vielmehr der Rechtsträger gewesen, dessen Behörde für den Erlass des begehrten Verwaltungsakts zuständig ist oder der Rechtsräger, dessen Behörde für die Aufhebung des fraglichen Verwaltungsakts zuständig ist. Dies muss nicht zwangsläufig derselbe Rechtsträger sein. Dies ist etwa dann nicht der Fall,wenn ein Verwaltungsakt bei einer kommunalen Behörde beantragt wurde, für dessen Erlass aber eine Landesbehörde zuständig ist. Dies ist ebenfalls nicht der Fall, wenn z. B. eine kommunale Behörde einen Verwaltungsakt erlassen hat, für den eigentlich eine Landesbehörde zuständig gewesen wäre, da zuständige Behörde für die Aufhebung eines Verwaltungsakts diejenige Behörde ist, die auch für seinen Erlass zuständig gewesen wäre.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerwG, 7 C 42.98 v. 20.12.1999, Abs. 14 ff. = BVerwGE 110, 226, 229 ff.; BVerwG, 2 A 1/18 v. 30.10.2018, Abs. 17 = NVwZ-RR 2019, 278 Abs. 17.

Hätte man in diesen Fällen die Kommune als Rechtsträger verklagt, wäre die Klage n beiden Fällen als unbegründet abzuweisen gewesen, da ein Anspruch auf Aufhebung des erlassenen bzw. auf Erlass des beantragten Verwaltungsaktes nicht gegen die Kommune, sondern nur gegenüber dem Land besteht. Dies wäre nicht Folge des § 79 des Entwurfs gewesen, sondern einfach eine Folge des materiellen Rechts. Die Regelung des § 79 des Entwurfs hätte nur die Bedeutung gehabt, dass sie eine Abweichung vom Grundsatz des § 83 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs (= § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO) normiert hätte, in dem sie für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen nicht die Bezeichnung des verklagten Rechtsträgers fordert, sondern es ausreichen lässt, diesen Rechtsträger mittelbar durch die Nennung der Behörde zu bezeichnen, die den Verwaltungsakt erlassen bzw. abgelehnt hat (und regelmäßig auf dem angefochtenen bzw. auf dem Ablehnungsbescheid angegeben wird, vgl. § 37 Abs. 3 VwVfG, § 37 Abs. 3 SVwVfG).

Der Bundesrat schlug nun in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf in diesem Zusammenhang zwei  - voneinander grundsätzlich unabhängige - Änderungen vor (vgl. BT-Drs. 3/55, S. 56 und S. 71 f.).

Anmerkung: In der Stellungnahme wurde dies nicht ausdrücklich begründet, vgl. aber Ehlers, in: Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1985, S. 380, 385.

Anmerkung: So auch die Einschätzung von Klenke, NWVBl. 2004, 85 ff., vgl. zur Abkehr vom Behördenprinzip in Nordrhein-Westfalen durch Art. 1 und Art. 2 Nr. 28 des Gesetzes zur Modernisierung und Bereinigung von Justizgesetzen im Land Nordrhein-Westfalen, wodurch die AGVwGO NRW zum 1.1.2011 aufgehoben und durch das 3. Kapitel des Justizgesetzes NRW ersetzt wurde: Wahlhäuser, NWVBl. 2010, 466 f.

II. Der Meinungsstreit zum Regelungsgehalt des § 78 VwGO

Zur Bedeutung des § 78 VwGO werden in der Literatur nun im Wesentlichen drei Ansichten vertreten, wobei man sich zunächst zu ihrem Verständnis die Bedeutung der Begriffe Passivlegitimation, (passive) Prozessführungsbefugnis und (passive) Prozessstandschaft verdeutlichen muss.

Anmerkung: Insoweit sei hier auf die Erläuterungen bei Hufen, § 12 Rn. 28 und 29, verwiesen.

Nach der (außerhalb Bayerns wohl nur) früher herrschenden Meinung regelt § 78 VwGO einheitlich materiellrechtlich die Passivlegitimation des Aufhebungs- bzw. Verpflichtungsanspruchs: Ein Aufhebungsanspruch könne also materiellrechtlich nur gegen die dort genannten Körperschaften bzw. Behörden bestehen. Folge dieser Ansicht ist, dass § 78 als eine Art Vorprüfung im Rahmen der Begründetheitsprüfung zu erörtern ist.

Anmerkung: So wohl Meissner/Schenk, in: Schoch/Schneider, § 78 Rn. 15 ff.

Nach inzwischen herrschender - jedoch (vor allem in Bayern) oft noch als Mindermeinung bezeichneter - Meinung regelt § 78 VwGO dagegen eine Zulässigkeitsvoraussetzung: Nur wenn die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den richtigen Beklagten gerichtet werde, sei diese zulässig. § 78 VwGO bilde damit das Gegenstück zu § 42 Abs. 2 VwGO: Daher regele § 78 VwGO die passive Prozessführungsbefugnis. Folge dieser Ansicht ist, dass die Frage des richtigen Klagegegners - nicht anders als die Frage der Klagebefugnis - im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu prüfen ist, eine gegen den falschen Klagegegner gerichtete Klage also als unzulässig abzuweisen ist.

Anmerkung: So etwa Ehlers, in: Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1985, S. 380 ff.; Hufen, § 12 Rn. 29 f.; Jestaedt, NWVBl 1989, S. 47 ff.; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, § 78 Rn. 1.

Eine vermittelnde Meinung differenziert dahingehend, dass § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO eine Regelung über die Passivlegitimation enthält, § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO dagegen einen Fall der Prozessstandschaft regelt, also die Behörde ermächtigt, im eigenen Namen ihr (eigentlich) fremde Rechte des Behördenträgers wahrzunehmen. Dementsprechend wäre in den Ländern, die von der Ermächtigung des § 78 Abs. 1 Nr. 2 Gebrauch gemacht haben, bei der Zulässigkeit zu prüfen, ob in dem betreffenden Land eine Prozessstandschaft zugunsten der Behörden begründet wurde, während bei der Begründetheitsprüfung dann erneut auf die Passivlegitimation des Behördenträgers (und damit auch der Behörde) einzugehen wäre.

Anmerkung: So etwa Happ, in: Eyermann, § 78 Rn. 1 ff.; Rozek, JuS 2007, 602 f.; wohl auch Desens, NVwZ 2013, 471, 472; Koehl, LKV 2018, 150 und 154; 

Die Rechtsprechung ist wohl uneinheitlich oder legt sich nicht fest. Die oft zugunsten der früher herrschenden Meinung zitierten Urteile des BVerwG  scheinen jedoch eher für die heute herrschende Meinung zu sprechen, da sie zwar von Passivlegitimation reden, diese jedoch im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung behandeln

Anmerkung: Siehe etwa BVerwG, IV C 83.66 v. 31.1.1969, Abs. 15 = BVerwGE 31, 233, 236 und BVerwG, VII C 9.71 v. 22.2.1974, Abs. 32 = BVerwGE 45, 39, 43 f.; ähnlich auch BVerwG, 5 C 25/01 v. 28.2.2002, Abs. 15 = NVwZ-RR 2003, 41, 42; BSG, B 8 SO 20/10 R v. 25.8.2011, Abs. 12 = BSGE 109, 61 Abs. 12.

Weiter fällt auf, dass die früher herrschende Meinung im Regelfall nicht, die mittlerweile herrschende und die vermittelnde Meinung dagegen ausführlich begründet wird. Dies ist von der Entwicklungsgeschichte dieses Streits her gesehen auch normal: Die früher herrschende Meinung bedurfte als solche keiner Begründung, da sie ihr Ergebnis für selbstverständlich hielt: Die Verfechter der mittlerweile herrschende Meinung mussten diese dagegen erst widerlegen.

Um zu klären, welcher Meinung zu folgen ist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass aus der Entstehungsgeschichte (siehe hierzu oben I) des § 78 Abs. 1 VwGO zweierlei folgt:

Hieraus ergibt sich, dass

Anmerkung: Krit. insoweit BSG, B 8 SO 20/10 R v. 25.8.2011, Abs. 12 = BSGE 109, 61 Abs. 12.

III. Konsequenzen des Meinungsstreits für den Prüfungsaufbau

Die Existenz des beschriebenen Meinungsstreites (s.o. II), der vermutlich nie entstanden wäre, wäre von Anfang an die heute herrschende Meinung vertreten worden, ist besonders misslich, weil man zu ihm in jeder Klausur, in der es um Anfechtungs- oder Verpflichtungsklagen geht, zumindest implizit Stellung nehmen muss, indem man entweder § 78 VwGO im Rahmen der Begründetheitsprüfung oder im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung prüft. Da von der Entscheidung dieses Streites nur in den allerwenigsten Fällen etwas abhängt (nämlich nur dann, wenn es darauf ankommt, ob eine Klage unzulässig oder unbegründet ist), erscheint es jedenfalls als unangemessen, diesen Meinungsstreit bei jeder in Frage kommenden Gelegenheit aufzurollen, zumal man hiermit gegen ein - auch bei Korrektoren - weit verbreitetes Vorurteil verstoßen könnte, dass Aufbaufragen nicht zu begründen sind.

Für Klausuren im ersten Staatsexamen (1. Prüfung) müsste man sich jedoch inzwischen insoweit behelfen können, diesem Problem dadurch aus den Weg zu gehen, dass man § 78 VwGO im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung behandelt und dort nur in einem Nebensatz knapp sagt, dass diese Vorschrift die passive Prozessführungsbefugnis und nicht die Passivlegitimation regelt.

Anmerkung: Wer dies als falsch ankreidet, verstößt damit jedenfalls eindeutig gegen den Grundsatz des Prüfungsrechts, dass eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung nicht als falsch bewertet werden darf (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 40 Rn. 177). Dieser Grundsatz gilt zwar ausdrücklich nur für begründete vertretbare Lösungen: Wenn es jedoch um bloße Aufbauprobleme geht, und vom Aufgabensteller das Aufrollen eines hierzu gleichsam als Vorfrage zu klärenden Meinungsstreits nicht erwartet wird (und sinnvollerweise auch nicht erwartet werden kann), dann wird man auf die "gewichtigen" und "folgerichtigen" Argumente zur Begründung der Lösung auch verzichten können.

Dagegen dürfte es in der ersten Staatsexamen (1. Prüfung) eher gefährlich sein, auf die früher herrschende Meinung zurückzugreifen und § 78 VwGO im Rahmen der Begründetheit zu prüfen, da diese Meinung nie richtig begründet worden ist und sich wohl auch kaum begründen lässt. Gerade für Bayern gibt es aber oft auch andere Empfehlungen.

Im zweiten Staatsexamen (2. Staatsprüfung) müssen Sie die Entscheidung, wo § 78 VwGO zu prüfen ist, vorsichtshalber von der jeweiligen Praxis in den einzelnen Bundesländern abhängig machen. Wenn Ihnen in der Arbeitsgemeinschaft beigebracht wird, bei § 78 VwGO handele es sich um eine Regelung zur Passivlegitimation, dann prüfen Sie diese Vorschrift eben besser im Rahmen der Begründetheit. Dies gilt vor allem in den Bundesländern, welche von der Möglichkeit des § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO keinen Gebrauch gemacht haben. Im Regelfall wird man im zweiten Staatsexamen auch um die Erwähnung des § 78 VwGO ganz herumkommen können, wenn man sich geschickt anstellt und die Möglichkeiten des Urteilsstils nutzt

Anmerkung: Siehe hierzu das Urteil im Feuer-und-Flamme-Fall.

Wenn man § 78 VwGO im Rahmen der Zulässigkeit prüft, empfiehlt sich eine Prüfung vor Prüfung der Beteiligtenfähigkeit. Dies ergibt sich aus folgender Überlegung:

Nach § 63 VwGO ist u.a. der Beklagte am Verfahren beteiligt. Auch der nicht nach § 61 VwGO beteiligtenfähige Beklagte ist also am Verfahren beteiligt, die Klage ist jedoch wegen fehlender Beteiligtenfähigkeit als unzulässig abzuweisen. Bevor die Beteiligtenfähigkeit des Beklagten geprüft wird, muss dementsprechend feststehen, wer Beklagter ist. Dies ergibt sich grundsätzlich aus der Klageschrift, welche nach § 82 Abs. 1 Nr. 1 VwGO den Beklagten bezeichnen muss.

Wenn in der Klageschrift allerdings eine Behörde als Beklagte bezeichnet wird, kann dies jedoch - je nachdem, ob in dem entsprechenden Bundesland das Rechtsträger- oder das Behördenprinzip gilt - eine unterschiedliche Bedeutung haben: Gilt § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, handelt es sich um eine Falschbezeichnung des Beklagten, die nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 VwGO jedoch unschädlich ist. Beklagter ist der Rechtsträger, dessen Beteiligtenfähigkeit sich nach § 61 Nr. 1 VwGO richtet. Gilt dagegen in dem entsprechenden Bundesland das Behördenprinzip, ist § 78 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 VwGO nicht anwendbar, Beklagter ist die Behörde, deren Beteiligtenfähigkeit sich nach § 61 Nr. 3 VwGO richtet.

Allgemein lässt sich sagen, dass § 61 Nr. 3 VwGO auf § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO aufbaut, so dass vor Anwendbarkeit des § 61 Nr. 3 VwGO die Anwendbarkeit des § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO geklärt sein muss.

IV. Anwendungsbereich des § 78 Abs. 1 VwGO

§ 78 VwGO wird - entsprechend seiner systematischen Stellung - grundsätzlich nur bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen für anwendbar gehalten. Auch in diesen Fällen kann er durch spezialgesetzliche Regelungen ausgeschlossen sein.

Anmerkung: Siehe hierzu BVerwG, 5 C 25/01 v. 28.2.2002, Abs. 14 ff. = NVwZ-RR 2003, 41, 42.

Eine analoge Anwendung auch auf die allgemeine Leistungs- und allgemeine Feststellungsklage wird allgemein ausgeschlossen.

Anmerkung: Demgegenüber wird die Regelung über die Klagebefugnis des § 42 Abs. 2 VwGO über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus auch bei allgemeinen Leistungs- und Feststellungsklagen analog angewendet. Damit wird also die Analogiefähigkeit des die Klagebefugnis regelnden § 42 Abs. 2 VwGO und die des die Beklagtenbefugnis regelnden § 78 VwGO unterschiedlich beurteilt, was dogmatisch wohl nur schwer zu begründen, aber herrschende Meinung ist. Teilweise werden aber mit § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO vergleichbare Ergebnisse durch eine einschränkende Handhabung des Rechtsschutzbedürfnisses erzielt, siehe hierzu den Wasser-Fall.

Auch bei der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gilt § 78 Abs. 1 VwGO nur für den Beklagten. Eine aktive Prozessführungsbefugnis (dahingehend, dass bei Geltung des Behördenprinzips nach § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO eine Behörde ermächtigt ist, für ihren Rechtsträger im eigenen Namen Ansprüche geltend zu machen) wird in § 78 Abs. 1 VwGO nicht geregelt.

Anmerkung: Siehe hierzu VG Saarlouis, 3 K 105/14 v. 7.5.2015 = LKRZ 2015, 330, 331.

Eine (letztlich) analoge Anwendung des § 78 VwGO wird jedoch bei allen anfechtungs- und verpflichtungsklageähnlichen Situationen für geboten gehalten, also dann, wenn

Anmerkung: Siehe hierzu  BVerwG,  4 C 1.00 v. 29.11.2001, Abs. 52 = BVerwGE 115, 274, 294 und den Fahrrad-weg-Fall;

Anmerkung: Siehe hierzu den Kameradschaftsbund-Deutsche-Eiche-Fall, den Nächtliche-Schlagfertigkeits-Fall und den Saarheim-Alternativ-Fall, Soccer-Arena-Fall;

Anmerkung: Siehe hierzu den Keinen-Platz-den-Drogen-Fall.

Anmerkung: Siehe hierzu den Presseflug-Fall.

Im verwaltungsgerichtlichen Organstreitverfahren wird § 78 VwGO ebenfalls nicht für anwendbar gehalten. Vielmehr wird hier in allen Bundesländern (wohl mit Ausnahme Bayerns) der sachliche Streitgegner - also das Organ, gegen dessen Maßnahme sich das klagende Organ wehren will - für passiv prozessführungsbefugt gehalten.

Anmerkung: Siehe hierzu nur Hufen, § 21 Rn. 8. In Bayern besteht aufgrund abweichender Rspr. des VGH München wohl eine abweichende Rechtsauffassung: Vgl. VGH München, 4 CE 89.2120 v. 18.7.1989 = NVwZ-RR 1990, 99.

V. Rechtsfolgen bei Geltung des Behördenprinzips nach § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO

Ob und inwieweit sich im Einzelfall unterschiedliche Rechtsfolgen bezüglich der Zulässigkeit einer Klage ergeben, je nachdem, ob in einem Bundesland das Behörden- oder das Rechtsträgerprinzip gilt, ist weitgehend ungeklärt. Die Rechtsprechung versucht anscheinend, denkbare Unterschiede durch weite Auslegung von Zulässigkeitsbestimmungen zu nivellieren.

Anmerkung: Sehr deutlich BVerwG,  4 C 1.00 v. 29.11.2001, Abs. 52 ff. = BVerwGE 115, 274, 293 f.; BVerwG, 9 VR 11/02 v. 28.8.2002 = NVwZ 2003, 216, 217; BSG, B 8 SO 20/10 R v. 25.8.2011, Abs. 12 f. = BSGE 109, 61 Abs. 12 f.

Dies ist auch sachgerecht, da kein Grund für eine unterschiedliche Regelung der Beteiligtenfähigkeit und des richtigen Klagegegners bei Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen in den verschiedenen Ländern erkennbar ist und sich auch den Gesetzesmaterialien zur VwGO solche Gründe nicht entnehmen lassen

Anmerkung: Siehe hierzu oben I; wie hier auch Desens, NVwZ 2013, 471, 472 ff.; Klenke, NWVBl. 2004, 85, 87.

Konstruktive Unterschiede sind jedenfalls denkbar in folgenden Situationen:

Anmerkung: Siehe hierzu  den Gothic-Fall, den Nächtliche-Schlagfertigkeits-Fall und den "Saarheim-Alternativ"-Fall.

Probleme machen diese Fälle in den Ländern, in denen das Behördenprinzip gilt, vor allem dann,

Anmerkung: Siehe hierzu Wöckel, in: Eyermann, § 91 Rn. 22.

Anmerkung: Siehe hierzu  den Neuer-Mensch-Fall.

Wegen dieser Probleme wird in der Literatur teilweise angenommen, dass in den oben zuerst genannten Konstellationen auch in den Bundesländern, in denen das Behördenprinzip gilt, in Wirklichkeit gar keine subjektive, sondern eine objektive Klagehäufung vorliegt, da tatsächlich keine Parteiverschiedenheit vorliege.

Anmerkung: So deutlich BVerwG,  4 C 1.00 v. 29.11.2001, Abs. 52 = BVerwGE 115, 274, 294; BVerwG, 9 VR 11/02 v. 28.8.2002 = NVwZ 2003, 216, 217; BSG, B 8 SO 20/10 R v. 25.8.2011, Abs. 12 f. = BSGE 109, 61 Abs. 12 f.

Die verschiedenen Behörden desselben Rechtsträgers sowie der Rechtsträger einerseits und die Behörde andererseits bildeten also "denselben Beklagten" i.S.d. § 44 VwGO.

Anmerkung: So Buchheister, in: Schoch/Schneider, § 44 Rn. 6; Desens, NVwZ 2013, 471, 474 f.; Wöckel, in: Eyermann, § 44 Rn. 8.

Dies entspricht jedoch wohl nicht der Systematik der VwGO, welche bei Geltung des Behördenprinzips durchaus von verschiedenen Beteiligten und damit verschiedenen Beklagten i.S.d. VwGO ausgeht (§ 63 VwGO).

Näher liegt in den oben zuerst beschriebenen Konstellationen eher, in den Ländern, in denen das Behördenprinzip gilt, zwar grundsätzlich vom Vorliegen einer subjektiven Klagehäufung i.S.d. § 64 VwGO auszugehen, die sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen aber im Wege der teleologischen Reduktion zugunsten des Klägers so anzupassen, dass im Ergebnis nichts anderes gilt, als in den Bundesländern, die dem Rechtsträgerprinzip folgen. Begründen lässt sich dies damit, dass die Eröffnung der Möglichkeit, das Behördenprinzip für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen durch Landesgesetz einzuführen, jedenfalls keine negativen Konsequenzen für den Kläger haben sollte.

Anmerkung: Kritisch. zu diesem methodischen Weg, weil dasselbe Ziel auch durch "schlichte" systematische Auslegung gewonnen werden könne: Desens, NVwZ 2013, 471, 473.

Für die Frage der Reichweite der Rechtskraft nach § 121 Nr. 1 VwGO wird jedenfalls in diese Richtung argumentiert und angenommen, dass eine gegenüber dem Behördenträger ergangene Entscheidung auch alle seine Behörden binde, und dass eine gegenüber einer Behörde ergangene Entscheidung auch ihren Behördenträger und alle weiteren Behörden des Behördenträgers binde.

Anmerkung: Siehe hierzu OVG Magdeburg, 2 M 33/15 v. 18.5.2015, Abs. 10 = NVwZ-RR 2015, 809, 810; Clausing/Kimmel, in: Schoch/Schneider, § 121 Rn. 96; Desens, NVwZ 2013, 471, 473 f.

Hieraus folgt: Klageanträge und Änderungen des Streitgegenstandes, die bei Geltung des Rechtsträgerprinzips ohne weiteres zulässig sind, sind auch zulässig, wenn das Behördenprinzip gilt, auch wenn dies nach den allgemeinen Regeln des Prozessrecht wegen der Verschiedenheit der Beklagten an sich ausgeschlossen wäre. In erweiternder Auslegung des § 121 Nr. 1 VwGO sind zudem als Beteiligte nicht nur die an dem jeweiligen Verfahren beteiligte Behörde anzusehen, sondern auch ihr Behördenträger und andere Behörden desselben Rechtsträgers.

Keine spezifisch mit dem Unterschied zwischen Rechtsträger- und Behördenprinzip zusammenhängenden Probleme ergeben sich dann, wenn im sogenannten In-sich-Prozess ein Behördenträger gegen einen Verwaltungsakt seiner eigenen Behörde vorgeht (woran in Einzelfällen ein berechtigtes Interesse bestehen kann.

Anmerkung: Siehe hierzu: U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 35 Rn. 190 mit Beispielen.

In den Ländern, in denen das Behördenprinzip gilt, lassen sich hier zwar grundsätzlich Kläger und Beklagter unterscheiden, während dagegen in den übrigen Ländern Kläger und Beklagter identisch sind. Praktisch stellt sich jedoch in beiden Fällen das Problem, wer jeweils die Kläger- und Beklagtenseite vertritt, da es nicht sein kann, dass beide Beteiligte von denselben Personen vertreten werden (Rechtsgedanke des § 181 BGB). Ein Ausweg aus diesem Problem - das sich im Saarland etwa stellen könnte, wenn der Landkreis - vertreten durch den Landrat nach § 62 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 178 KSVG - gegen den Landrat als untere Bauaufsichtsbehörde nach § 58 Abs. 1 Satz 2 LBO - vertreten durch den Landrat nach § 62 Abs. 3 VwGO - auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Landkreis klagt - ist die Möglichkeit der Bestellung eines besonderen Beauftragten nach § 62 Abs. 3 VwGO.