Anmerkung zum verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriff
(Stand der Bearbeitung: 22. Dezember 2022)
© Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)
mit freundlicher Unterstützung der jurmatix Legal Intelligence UG (haftungsbeschränkt), Gersheim
Es ist zumindest ungenau, wenn von "dem" Behördenbegriff schlechthin gesprochen wird. Zu unterscheiden ist vielmehr zwischen
dem verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff, wie er § 47 Abs. 2 Satz 1, § 61 Nr. 3, §§ 68 ff., § 78 VwGO, § 70 Nr. 3 SGG, § 63 FGO zugrunde liegt,
und
dem verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriff, wie er durch § 1 Abs. 4 VwVfG, § 1 Abs. 2 SGB X, § 6 Abs. 1 AO, § 1 Abs. 2 SVwVfG und die entsprechenden Vorschriften der übrigen Bundesländer definiert wird.
I. Unterschiedliche Funktion der Behördenbegriffe
Die Legaldefinitionen der Verwaltungsverfahrensgesetze machen schon durch die Formulierung "Behörde im Sinne dieses Gesetzes" deutlich, dass sie den Behördenbegriff nicht schlechthin, sondern nur bezogen auf das jeweilige Gesetz definieren. Der verwaltungsverfahrensrechtliche Behördenbegriff kann und muss daher unabhängig vom verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff bestimmt werden.
Anmerkung: Siehe hierzu Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 1 Rn. 230 ff.; Schnapp, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 1187, 1195 ff.; zumindest ungenau Burgi, in: Ehlers/Pünder, § 8 Rn. 29; Maurer/Waldhoff, § 21 Rn. 30 ff.
Dies erklärt sich aus der unterschiedlichen Funktion beider Behördenbegriffe: Bei dem verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff geht es letztlich darum, zu klären, welche Organe eines Verwaltungsträgers diesen bei Ausübung von Verwaltungstätigkeit nach außen hin vertreten.
Anmerkung: Siehe zum verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff diesen Hinweis)
Beim verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriff geht es dagegen darum, den Anwendungsbereich des jeweiligen Verwaltungsverfahrensgesetzes in seinem vollen Umfang zu bestimmen: Diese Gesetze regeln nun aber nicht nur die nach außen wirkende Verwaltungstätigkeit der Behörden im Sinne dieser Gesetze, sondern enthalten auch weitere Regelungen, z.B. über die Amtshilfe (§ 4 bis § 8 VwVfG, § 111 bis § 117 AO, § 3 bis § 7 SGB X und die entsprechenden Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder), über ehrenamtliche Tätigkeit (§ 81 bis § 87 VwVfG und die entsprechenden Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder) und über Ausschüsse (§ 88 bis § 93 VwVfG und die entsprechenden Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder).
Anmerkung: Dies wird gern übersehen; so wohl auch von Burgi, in: Ehlers/Pünder, § 8 Rn. 29; Maurer/Waldhoff, § 21 Rn. 33.
II. Inhalt des verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriffs
Damit ist für den verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriff - anders als für den verwaltungsorganisationsrechtlichen Behördenbegriff - nicht maßgeblich,
dass es sich bei der "Stelle" i.S.d. verfahrensrechtlichen Vorschriften um ein Organ des Verwaltungsträgers handelt, maßgeblich ist nur eine gewisse organisatorische Selbständigkeit, welche auch eine - in unterschiedlichem Maße beschränkte - Eigenverantwortlichkeit impliziert und mit dem Begriff "Stelle" umschrieben werden soll.
Anmerkung: Siehe hierzu Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 1 Rn. 238 ff.; Schnapp, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 1187, 1195 ff.; zum Begriff des Organs diesen Hinweis.
dass die "Stelle" Aufgaben der öffentlichen Verwaltung nach außen wahrnimmt.
Anmerkung: Siehe hierzu Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 1 Rn. 233 ff.; Schnapp, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 1187, 1195 ff.; U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 35 Rn. 50.
Dieses Begriffsmerkmal ist in § 1 Abs. 4 VwVfG, § 1 Abs. 2 SGB X, § 6 Abs. 1 AO, § 1 Abs. 2 SVwVfG und den entsprechenden Vorschriften der übrigen Bundesländer nicht enthalten und gehört damit nicht zur Legaldefinition. Dies verdeutlichen auch § 9 VwVfG, § 8 SGB X, § 9 SVwVfG und die entsprechenden Vorschriften der übrigen Bundesländer, indem sie den Begriff des Verwaltungsverfahrens im Sinne dieser Gesetze als "nach außen wirkende Tätigkeit" umschreiben. Dieser Formulierung bedürfte es nicht, wenn schon in dem verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriff selbst das Merkmal der nach außen wirkenden Tätigkeit enthalten wäre. Hiergegen spricht zudem die in § 35 Satz 1 VwVfG, § 118 Satz 1 AO, § 31 Satz 1 SGB X, § 35 Satz 1 SVwVfG und den entsprechenden Vorschriften der übrigen Bundesländer enthaltene Wendung "auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet". Auch diese Kennzeichnung wäre überflüssig, wenn schon dem verwaltungsverfahrensrechtlichen Behördenbegriff das Handeln mit Rechtswirkung nach außen immanent wäre.
Allgemein lässt sich daher sagen, dass
jede Behörde im verwaltungsorganisationsrechtlichen Sinn auch eine Behörde im verwaltungsverfahrensrechtlichen Sinn ist;
nicht jede Behörde im verwaltungsverfahrensrechtlichen Sinn auch eine Behörde im verwaltungsorganisationsrechtlichen Sinn ist.
Deshalb sollte zur Auslegung des Begriffs der Behörde in § 61 Nr. 3, § 78 VwGO, § 70 Nr. 3 SGG, § 63 FGO entgegen gängiger Praxis nicht unbedacht auf die Legaldefinitionen der § 1 Abs. 4 VwVfG, § 1 Abs. 2 SGB X, § 6 Abs. 1 AO, § 1 Abs. 2 SVwVfG und der entsprechenden Vorschriften der übrigen Bundesländer zurückgegriffen werden. Sie normieren insoweit keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz.
Jedoch wird man trotzdem annehmen können, dass im Regelfall - also bei Fehlen abweichender Anhaltspunkte - dieselbe Stelle sowohl eine Behörde im verwaltungsorganisationsrechtlichen wie im verwaltungsverfahrensrechtlichen Sinn ist.