Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin
Beschluss vom 26.5.2005
- 53 A/05
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 (weitere Fundstellen: NVwZ-RR 2005, 753)

 

Leitsatz:

 

Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden Interessenabwägung kann die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Parlamentsfraktion (hier: einer kleinen Oppositionsfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin) das Interesse eines ausgeschlossenen Fraktionsmitglieds an der Mitarbeit in der Fraktion bis zur Entscheidung im Hauptverfahren überwiegen (im Anschluss an BbgVerfG, NVwZ-RR 1997, 577).

 

Tatbestand:

1.

Der Ast. erstrebt im Organstreitverfahren (VerfGH 53/05), den gegen ihn ausgesprochenen Ausschluss aus der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin für verfassungswidrig zu erklären. Mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt er im Wesentlichen, der Ag. - vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache - aufzugeben, den mit Schreiben vom 7. 4. 2005 mitgeteilten Ausschluss aus der vorgenannten Fraktion vom 5. 4. 2005 außer Kraft zu setzen, die Aufforderung, bestimmte Gegenstände zurückzugeben und seinen Arbeitsplatz im Preußischen Landtag schnellstmöglich zu räumen, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu suspendieren und ihm in vollem Umfang die Möglichkeit zu geben, die aus seiner Mitgliedschaft in der vorgenannten Fraktion resultierenden Rechte und Pflichten wahrzunehmen.

2.

Der Antrag hatte keinen Erfolg.

 

Aus den Gründen:

3.

Nach § 31 I BerlVerfGHG kann der BerlVerfGH einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung nach § 31 I BerlVerfGHG müssen die Gründe, die für oder gegen die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, grundsätzlich außer Betracht bleiben, es sei denn, das Begehren im Hauptsacheverfahren erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Ein gegen eine Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin gerichteter Antrag eines aus dieser ausgeschlossenen Abgeordneten ist im Organstreitverfahren (Art. 84 II Nr. 1 BerlVerf., §§ 14 Nr. 1, 36 BerlVerfGHG) - unbeschadet der Frage, ob der Antrag im Verfahren (VerfGH 53/05) den Zulässigkeitsvoraussetzungen (vgl. § 37 BerlVerfGHG) bereits in jeder Hinsicht entspricht - nicht von vornherein unzulässig; die Prüfung seiner Begründetheit, die gegebenenfalls vom BerlVerfGH bislang nicht geklärte Fragen der Auslegung und Anwendung der die Rechtsstellung der Abgeordneten und der Fraktionen des Abgeordnetenhauses von Berlin regelnden Bestimmungen der Verfassung von Berlin (vgl. Art. 38 IV, 40, 44 II, 45 BerlVerf.) aufwirft, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

4.

Erweist sich ein Antrag im Hauptsacheverfahren nicht von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet, so ist der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eine Folgenabwägung zu Grunde zu legen. Insoweit sind die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag im Organstreitverfahren aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, dem Antrag im Hauptsacheverfahren aber der Erfolg zu versagen wäre. Dabei ist das durch § 31 BerlVerfGHG nur unter besonderen Voraussetzungen zur Verfügung gestellte Instrument der einstweiligen Anordnung zurückhaltend und unter Anlegung eines strengen Maßstabs anzuwenden (vgl. BerlVerfGH, Beschl. v. 13. 4. 2005 - VerfGH 17 A/05; s. im Zusammenhang mit vorläufigem Rechtsschutz gegen einen Fraktionsausschluss auch BbgVerfGH, NVwZ-RR 1997, 577f.).

5.

Im Rahmen der Folgenabwägung bedeutet der - bei unterstelltem Erfolg seines Antrags in der Hauptsache - lediglich vorübergehende Ausschluss des Ast. von der Mitarbeit in der Fraktion und - damit einhergehend - der Mitwirkung als stimmberechtigtes Mitglied in Ausschüssen des Abgeordnetenhauses von Berlin keinen Nachteil von einem solchen Gewicht, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung gerechtfertigt wäre.

6.

Bei Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung sähe sich die Ag. gezwungen, den Ast., der nach der Angabe der Ag. „das Vertrauen der allermeisten Fraktionsmitglieder nachhaltig verloren hat", weiterhin an der Fraktionsarbeit und an den Fraktionssitzungen zu beteiligen. Damit wäre die Gefahr einer Beeinträchtigung des innerfraktionellen Willensbildungsprozesses verbunden. Die Zusammenarbeit in einer Fraktion und die Verständigung auf eine Fraktionslinie bedingt, dass in den Fraktionsberatungen offen, unbefangen und vertrauensvoll diskutiert wird; die Bereitschaft zu vertrauensvoller Sachdiskussion lässt jedoch nach, wenn die Fraktion argwöhnen muss, sich auf eines ihrer Mitglieder nicht in jeder Hinsicht verlassen zu können (vgl. BbgVerfG, NVwZ-RR 1997, 577 [579]). Bei dieser Betrachtung geht der BerlVerfGH davon aus, dass der Ast. künftig gesundheitlich in der Lage sein mag, in gewissem Umfang an der Arbeit der Fraktion und des Parlaments teilzunehmen; wäre dies im Hinblick auf die von ihm dargelegte dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit, seine äußerste Schonungsbedürftigkeit und die sich erst langsam einstellenden Heilungschancen in naher Zukunft nicht der Fall, so könnte er ohnehin keine beachtliche Beeinträchtigung seiner Mitwirkungsmöglichkeiten durch den vorübergehenden Ausschluss von der Fraktionsarbeit erleiden.

7.

Bei einer vorläufigen Außerkraftsetzung des Fraktionsausschlusses könnte der Ast. zudem nach außen weiterhin als Mitglied der Ag. auftreten und würde in der (Medien-)Öffentlichkeit als solches wahrgenommen. Auch hierin läge - erwiese sich die diesbezügliche Begründung für den Fraktionsausschluss in der Hauptsache als tragfähig - ein nicht unerheblicher, durch den Hinweis auf den vorläufigen Charakter der verfassungsgerichtlichen Eilentscheidung nicht vollständig ausgleichbarer Nachteil für die Außenwirkung der Ag. und damit auch für deren Wirkungsmöglichkeit als Parlamentsfraktion.

8.

Demgegenüber erscheint das Interesse des Ast. an einer sofortigen Wiederzulassung zur Mitwirkung in der Fraktion nicht als derart schwerwiegend, dass das Interesse der Ag. an einer sofortigen Wirksamkeit des Ausschlusses zurücktreten müsste. Soweit der Ast. sich auf außerhalb seines Wirkungskreises als Mitglied des Abgeordnetenhauses eintretende Nachteile (etwa hinsichtlich der Kandidatenaufstellung für die nächste Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin) bezieht, können diese bei einer einstweiligen Anordnung im Organstreitverfahren, in dem der Ast. lediglich geltend machen kann, durch eine Maßnahme der Ag. in seinen ihm durch die Verfassung von Berlin als Mitglied des Abgeordnetenhauses übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein (§ 37 I BerlVerfGHG), keine Berücksichtigung finden. Auch kann die vom Ast. erstrebte Klärung der Tragfähigkeit der Ausschlussgründe nach dem zuvor dargestellten Entscheidungsmaßstab nicht Gegenstand des vorliegenden Eilverfahrens sein.

9.

Dem Ast. ist zuzugeben, dass ihm ohne die beantragte einstweilige Anordnung für den Fall des Obsiegens in der Hauptsache die Möglichkeit, sich an der Fraktionsarbeit zu beteiligen, für diesen Zeitraum unwiederbringlich verloren geht. Auch hat die mit dem Abgeordnetenstatus grundsätzlich verbundene Möglichkeit zur gleichberechtigten Mitwirkung in einer Parlamentsfraktion (Art. 38 IV, 40 I BerlVerf.) im parlamentarischen Alltag - nicht zuletzt wegen der erweiterten Informations- und Mitgestaltungsmöglichkeiten - eine gewichtige Bedeutung bei der Ausübung eines Abgeordnetenmandats. Allerdings verbleibt dem Ast. gem. Art. 45 BerlVerf. das Recht des Abgeordneten, sich im Abgeordnetenhaus und in den Ausschüssen (dort allerdings ohne Stimmrecht, Art. 44 II 3 BerlVerf.) an der Willensbildung und Entscheidungsfindung zu beteiligen (zu den weiter gehenden parlamentarischen Befugnissen fraktionsloser Abgeordneter nach dortigem Landesrecht vgl. BbgVerfG, NVwZ-RR 1997, 577 [579]). Hierdurch behält der Ast. auch als fraktionsloser Abgeordneter vielfältige Möglichkeiten, sein Mandat wirkungsvoll auszuüben. Soweit der Ast. Nachteile dadurch erleidet, dass er die Unterstützung der Fraktion in juristischer und tatsächlicher Hinsicht verliert, kann dies durch die Parlamentsverwaltung, insbesondere den Wissenschaftlichen Parlamentsdienst, zumindest teilweise ausgeglichen werden.

10.

Im Vergleich der Folgen für die Tätigkeit der Fraktion im Falle der Einbeziehung des dort nicht mehr erwünschten Ast. mit den Nachteilen, die der Ast. ohne die Teilhabe am Leben der Fraktion erleidet, überwiegen die Belange des Ast. nicht derart, dass es gerechtfertigt wäre, durch eine einstweilige Anordnung in diese fraktionsinterne Auseinandersetzung einzugreifen (ebenso BbgVerfG, NVwZ-RR 1997, 577 [579]). Neben der gleichberechtigten Mitwirkung eines jeden Abgeordneten genießt nämlich auch die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Fraktionen, die gem. Art. 40 II 1 BerlVerf. unmittelbar Verfassungsaufgaben wahrnehmen, indem sie mit eigenen Rechten und Pflichten als selbstständige und unabhängige Gliederungen der Volksvertretung an deren Arbeit mitwirken und die parlamentarische Willensbildung unterstützen, einen (ähnlich) gewichtigen Rang bei der im vorliegenden Verfahren vorzunehmenden Abwägung. Dass die Funktionsfähigkeit der relativ kleinen Oppositionsfraktion sowohl in Bezug auf die notwendige interne vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Ast. als auch im Hinblick auf die Wirksamkeit der Fraktionsarbeit nach außen bei einer vorläufigen Außerkraftsetzung des Ausschlusses beeinträchtigt wäre, erscheint - wie dargelegt - nahe liegend; diese Beeinträchtigungen ließen sich auch nicht durch den Hinweis ausschließen, dass der Ast. lediglich vorläufig auf Grund einer Entscheidung des BerlVerfGH seinen Fraktionsstatus behalte.

11.

Dem Ast. ist es vor diesem Hintergrund unter Mitberücksichtigung der ihm auch außerhalb der Fraktion verbleibenden parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten zuzumuten, der Fraktion bis zur Entscheidung in der Hauptsache fernzubleiben.