Verwaltungsgericht Stade
Urteil vom 08.12.1988
- 1 A 91/87
-

 (weitere Fundstellen: NVwZ 1989, 497 f.)

 

 

Zum Sachverhalt:

1.

Die Kl. begehren die Verpflichtung der Bekl. zur erneuten Entscheidung über ein aufsichtsbehördliches Einschreiten gegen ein von ihnen als unzumutbar empfundenes Glockengeläut der beigel. Kirchengemeinde. Sie sind Eigentümer von Wohngrundstücken, an deren Rückseite - zu der Schlaf- und Wohnräume ausgerichtet sind - das Grundstück der Beigel. grenzt. Dieses ist im wesentlichen mit einem Pfarrhaus sowie einem Gemeindehaus bebaut. Im Bebauungsplan F.-Ost sind die fraglichen Flächen als Allgemeines Wohngebiet bzw. als Vorbehaltsfläche für kirchliche Zwecke ausgewiesen.

2.

1984 beantragte die Beigel. die Baugenehmigung für einen Glockenstuhl. Die Bauvorlagen enthielten keine Angaben über voraussichtliche Immissionen; eine Nachbarbeteiligung fand nicht statt. Aufgrund der am 29. 3. 1985 erteilten Baugenehmigung errichtete die Beigel. den Glockenstuhl versetzt vor dem Gemeindehaus, wobei sie ihn gegenüber den genehmigten Bauzeichnungen etwa 1,5 m weiter nach Osten rückte. Nach dem genehmigten Lageplan hatte sein Abstand zur Grenze des Grundstücks des Kl. zu 1 (T.-Weg 1) etwa 38 m, zum Wohnhaus etwa 60 m betragen sollen; die Abstände zu Grenze bzw. Wohnhaus des Kl. zu 2 (T.-Weg 3) liegen im Mittel einige Meter darüber. In Höhe der Glocken ist der Turm in Richtung der Grundstücke der Kl. mit Holz-Schräglamellen verkleidet. Die Glocken werden durch eine programmierbare Schalttafel im Gemeindehaus betätigt. Die Läuteordnung für den Glockenturm sieht neben besonderen Anlässen ein tägliches Abend- und Gebetsläuten um 18 Uhr von (jetzt:) werktags 1 1/2 Minuten vor.

3.

Nachdem sie sich zuvor an die Beigel. gewandt hatten, beantragten die Kl. mit Schreiben vom 14. 3. 1986 bei der bekl. Gemeinde, die Beigel. nach § 24 BImSchG zur Einhaltung der zulässigen Höchstpegel zu verpflichten, hilfsweise das Läutwerk stillzulegen, übermäßiges Läuten zu untersagen und die Beigel. weiter zu verpflichten, die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen durch Messungen eines Sachverständigen nachzuweisen. Mit Verfügung vom 16. 6. 1986 gab die Bekl. der Beigel. die Vorlage eines Sachverständigengutachtens über die Schallimmissionen der Glocken auf den Nachbargrundstücken auf, wogegen sich die Beigel. mit Widerspruch wandte. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens führte das Landesamt für Immissionschutz auf Veranlassung des Gewerbeaufsichtsamts am 22. 9. 1986 um 18 Uhr eine Immissionsmessung in 40 m Entfernung vom Glockenturm auf dem Grundstück W.-Weg 10 durch. Ausgehend von einer Wirkzeit von 11/2 Minuten wurde ein Beurteilungspegel von 57 dB(A) ermittelt. Bei einer theoretischen Umrechnung dieses Wertes auf einen Einwirkungsort auf dem Grundstück K., für den ein Abstand von 80 m angenommen wurde, gelangte der Meßbericht auf einen Beurteilungspegel von 52 dB(A). Als Mittelungspegel ist für beide Standorte ein Wert von 88 dB(A) angegeben. Der Landkreis H. als Widerspruchsbehörde vertrat daraufhin die Auffassung, daß die Verfügung der Bekl. hiermit gegenstandslos geworden sei; dementsprechend unterrichtete die Bekl. die Beigel. und die Kl. mit Schreiben vom 30. 12. 1986.

4.

Die daraufhin erhobene Klage führte zur Aufhebung der Bescheide und zur Verpflichtung der Bekl., die Kl. nach der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

 

Aus den Gründen:

5.

1. Die Klage ist zulässig.

6.

Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist hier schon deshalb eröffnet, weil die Kl. einen öffentlichrechtlichen Anspruch gegen die bekl. Gemeinde auf Einschreiten nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz geltend machen; auf die Frage, ob auch das Glockenläuten durch die Beigel. als öffentlichrechtlich einzustufen ist, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

7.

Es kann auch offenbleiben, ob die Schreiben der Bekl. vom 30. 12. 1986 als Verwaltungsakte gemeint waren. Denn jedenfalls qualifiziert der Widerspruchsbescheid sie als Verwaltungsakt, wovon deshalb auch für das gerichtliche Verfahren auszugehen ist (BVerwGE 78, 3 = NVwZ 1988,51).

8.

2. Die Klage ist mit dem im gerichtlichen Verfahren gegenüber dem Antrag vom vorausgegangenen Verwaltungsverfahren eingegrenzten (Haupt-) Antrag auch begründet; die Kl. haben einen Anspruch auf Neubescheidung.

9.

a) Dem steht zunächst nicht entgegen, daß sie die für den Glockenturm im März 1985 erteilte Baugenehmigung nicht angefochten haben. Allerdings können sie eine Abschaltung des Geläuts aus diesem Grunde nicht mehr verlangen, weil die baurechtliche Genehmigung auch die bestimmungsgemäße Benutzung umfaßt (vgl. OVG Lüneburg, BRS 47 Nr. 472 und Die Gemeinde 1988, 92, BRS 42 Nr. 188; LG Aachen, NVwZ 1988, 188). Auch wenn ihnen die Baugenehmigung nicht zugestellt worden ist, hätten sie dagegen binnen eines Jahres nach Baubeginn klagen müssen, um das Vorhaben als solches verhindern zu können (BVerwGE 44, 294 = NJW 1974, 1260). Unbenommen bleibt ihnen jedoch, sich gegen "exzessives", d. h. durch die Baugenehmigung nicht gedecktes Läuten zu wenden. Was die Baugenehmigung zuläßt, ist hier nur durch Auslegung festzustellen, weil die Bauvorlagen die beabsichtigte Nutzung entgegen § 5 BauVorlVO nicht näher erläutern, insb. seinerzeit kein Läutplan vorgelegt worden ist. Sowohl die Bauvorlagen als auch die Genehmigung selbst schweigen sich überdies zur Höhe der voraussichtlichen Immissionen völlig aus. Sich daraus ergebende Unklarheiten gehen zu Lasten des Bauherrn (vgl. VGH Mannheim, BauR 1988, 704). Infolgedessen deckt die hier erteilte Baugenehmigung jedenfalls nicht das Läuten in dem bei Kirchen üblichen Umfang. Die Baugenehmigungsbehörde hatte nämlich keinen Anlaß zu der Annahme, daß im Gemeindehaus in vergleichbarer Häufigkeit Gottesdienste abgehalten werden oder sonstige Veranstaltungen stattfinden, die üblicherweise durch Glockengeläut angekündigt oder begleitet werden. Es sprach vielmehr alles - auch die Konstruktion des Turmes - dafür, daß allenfalls ein gelegentliches Läuten aus besonderen Anlässen beabsichtigt war. Eine entsprechend geringe Bindungswirkung entfaltet die Baugenehmigung deshalb auch für die Nachbarn.

10.

b) Der Bekl. ist zur Zeit auch die Einwendung der Subsidiarität eines Anspruches auf Einschreiten im Dreiecksverhältnis versagt. Allerdings hätte sie die Kl. zunächst grundsätzlich auf ein unmittelbares Vorgehen gegen die Beigel. verweisen können:

11.

Bei "hoheitlichem Geläut" können sich betroffene Nachbarn mit einem öffentlichrechtlichen Unterlassungsanspruch direkt gegen eine Kirchengemeinde wenden (vgl. im einzelnen BVerwG, NJW 1984, 989; ferner BVerwG, NJW 1988, 2396 - Feuerwehrsirene). Dies ist auch der richtige Weg bei Meinungsverschiedenheiten darüber, ob das beanstandete Geläut liturgischer Natur ist, was hier für das im Vordergrund stehende Abendgeläut nach den Grundsätzen der genannten Entscheidung des BVerwG ohne weiteres zu bejahen ist.

12.

In Fällen dieser Art muß sich die Ordnungsbehörde nicht ohne weiteres als Instrument in einem Nachbarstreit benutzen lassen (vgl. Konrad, BayVBl 1984, 33 ff. u. 70 ff.; OVG Lüneburg, NST-N 1986, 347). Allerdings darf die Behörde den Bürger dann nicht mehr auf ein unmittelbares Vorgehen gegen den Störer verweisen, wenn nach dem Ausmaß der Immissionen ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebiet zu bejahen ist (OVG Lüneburg, BRS 44 Nr. 195). Außerdem kann sie sich auf Subsidiarität nur berufen, soweit sie "ohne Not" in einen Nachbarstreit hineingezogen wird (OVG Lüneburg, DVBl 1976, 719). Davon wird in der Regel schon dann nicht mehr ausgegangen, wenn sich die Behörde selbst mit einer entsprechenden Verfügung einschaltet - wie hier mit der Anordnung an die Beigel., ein Gutachten vorzulegen - und damit deutlich macht, daß der Nachbarstreit ihrer Auffassung nach einer Regelung durch das öffentliche Recht zugänglich und bedürftig ist (OVG Lüneburg, Beschl. v. 23. 12. 1982 - 1 B 89/82). Das könnte allerdings zur Folge haben, daß eine Behörde, die sich der Sorgen der Bürger besonders fürsorglich annimmt, eher mit Prozessen überzogen werden darf als eine Behörde, die zum "Abwimmeln" von Bitten um Einschreiten neigt. Gerade angesichts der von den Kl. gegen die Bekl. erhobenen Vorwürfen erscheint es hier auch angezeigt, der Bekl. eine solche fürsorgliche Haltung zu bescheinigen. Denn sie hat schon in ihrer Stellungnahme zum Bauantrag für den Glockenturm auf die Probleme hingewiesen und empfohlen, vor Baubeginn ein Prognosegutachten erstellen zu lassen. Es hätte sich in der Tat aufgedrängt, der Bauherrin (auf deren Kosten) im Genehmigungsverfahren die Beibringung eines solchen Gutachtens abzuverlangen; daß die Baugenehmigungsbehörde dies unterlassen hat, ist jedoch nicht der Bekl. anzulasten. Die Bekl. hat es ebensowenig zu vertreten, daß die Kl. selbst - was als Rechtsschutzmöglichkeit wesentlich effektiver gewesen wäre - die Baugenehmigung nicht angefochten haben. Wenn sie später aus Anlaß des Schreibens der Kl. vom 14. 3. 1986 gleichwohl noch die Verfügung vom 16. 6. 1986 erlassen hat, ohne sich auf den Grundsatz der Subsidiarität und die Nichtanfechtung der Baugenehmigung für den Glockenturm zu berufen, ist darin ein erhebliches Entgegenkommen zu sehen. Es fällt schwer, gerade aus diesem Entgegenkommen eine Pflicht der Bekl. abzuleiten, sich auch weiterhin an dem Nachbarstreit zwischen den Kl. und der Beigel. zu beteiligen.

13.

Hier kommt jedoch hinzu, daß sich die Bekl. nach Vorliegen des Schall-Gutachtens in den angefochtenen Bescheiden vom 30. 12. 1986 wiederum nicht auf den Subsidiaritätsgrundsatz berufen, sondern sich - ebenso wie später in noch entschiedenerer Form die letztlich maßgeblichen Widerspruchsbescheide - die Ergebnisse der Messung und die darauf beruhende Bewertung zu eigen gemacht hat. Auch ohne daß diese Bescheide eine Genehmigung des Läutens aussprechen, bestätigen sie damit dessen Zumutbarkeit in einer Weise, die einer behördlichen Genehmigung gleichkommt. Denn eine solche behördliche Äußerung stellt keine unverbindliche Einschätzung dar, sondern ist geeignet, den Kl. auch von dritter Seite, also etwa von der Beigel. entgegengehalten zu werden. Spätestens damit war der Bekl. verwehrt, sich für die Zukunft aus den Streitigkeiten herauszuhalten. Das gilt hier umso mehr, als das Gutachten des Landesamtes an erkennbaren und erheblichen Mängeln leidet:

14.

Der Widerspruchsbescheid geht zu Unrecht davon aus, daß die Messung vor dem Haus des Kl. K. vorgenommen worden ist. Das beruht offenbar darauf, daß der Meßort auf dem dem Gutachten beigefügten Lageplan nicht eingezeichnet ist und unter Punkt 6 ("Meßort") neben der Beigel. der Kl. K aufgeführt wird. Tatsächlich ist die Messung jedoch nach einem Vermerk der Widerspruchsbehörde vom 23. 9. 1986 und Angaben der Beigel. auf dem Grundstück W.-Weg 10 durchgeführt worden. Daraufhin beziehen sich ersichtlich auch die Meßergebnisse unter 7.1 des Gutachtens; bei Nr. 7.2, wo auf das Gründstück des Kl. K. Bezug genommen wird, findet sich im übrigen der Zusatz "theoretisch".

15.

Die hiernach und nach Punkt 8 ("Diskussion") vorgenommene Umrechnung auf einen Beurteilungspegel von 52 dB(A) geht von einer falschen Entfernung aus, nämlich von 80 m. Selbst wenn man nur den Lageplan zur Baugenehmigung zugrundelegt, von dem tatsächlich zu Lasten der Kl. abgewichen worden ist, läge der entsprechende Punkt schon hinter dem Grundstück T.-Weg 1 auf dem T.-Weg selbst. Der Abstand des Hauses T.-Weg 1 zum Glockenturm beträgt in Wahrheit nur 60 m, von der Grundstücksgrenze zum Glockenturm nur knapp 40 m. Auch der Wohngarten gehört aber zu dem Bereich, der vor unzumutbaren Immissionen zu schützen ist (vgl. BVerwG, NJW 1976,1760 und NJW 1979, 64). Geht man von den danach maßgeblichen geringeren Entfernungen aus, dürften die Einwirkungen nach den im Gutachten angestellten Überlegungen auf Teilen der klägerischen Grundstücke selbst dann über dem vom Gutachter für einschlägig gehaltenen Richtwert von 55 dB(A) liegen, wenn man nur eine Läutdauer von 1 1/2 Minuten unterstellt.

16.

Im Meßbericht fehlen Angaben darüber, ob mit einer oder mit zwei Glocken geläutet wurde, sowie die Diskussion der möglichen Unterschiede. Bei dem gemessenen und der Ermittlung eines Beurteilungspegels zugrundegelegten Zeitraum von 11/2 Minuten ist zu Unrecht allein das werktägliche Abendläuten um 18.00 Uhr berücksichtigt. Selbst wenn dies im Vordergrund der Beschwerden der Kl. gestanden haben mag, muß eine Zumutbarkeitsbeurteilung auch alle anderen Läutvorgänge mit in den Blick nehmen, sogar solche, mit denen die Kl. sich einverstanden erklärt haben. Denn die Frage der Zumutbarkeit kann immer nur auf Grund einer Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Faktoren beurteilt werden, ohne daß Teile des zugrundeliegenden Lebenssachverhalts "ausgeblendet" werden. Nach Angaben der Beigel. ergibt sich immerhin ein Jahresschnitt von 2,76 Minuten, also fast das Doppelte der vom Gutachten berücksichtigten Läutdauer. Zwar ist insoweit eine reine Durchschnittsbetrachtung nicht anzustellen; dieses übrige Läuten kann aber jedenfalls nicht einfach ignoriert werden.

17.

Es ist im hohen Grade zweifelhaft, ob laute, kurz anhaltende Geräusche wie das Glockenläuten nach Punkt 2.422.5 c der TA Lärm beurteilt werden können, wie das Gutachten dies tut (vgl. BVerwG, NJW 1988, 2396 - Feuerwehrsirene). Auch in Fällen dieser Art muß das Zumutbarkeitsurteil zwar eine Schallpegelmessung zum Ausgangspunkt haben, der Schwerpunkt liegt jedoch auf einer wertenden Betrachtung, die durch einfache Umrechnungen auf den gesamten Tageszeitraum mit gewissen Zu- oder Abschlägen nicht ersetzt werden kann. Zu erwarten ist von einem Schallgutachten deshalb die Diskussion der unmittelbaren Wirkungen der nur kurzfristigen Schallereignisse etwa im Vergleich zu anderen Immissionen, die eine Einordnung nach Lästigkeit und Störungsgrad erlauben. Dabei kann eine stärker wertende Betrachtung sehr wohl auch dann noch zur Zumutbarkeit von Schallereignissen gelangen, wenn der "Beurteilungspegel" über den normalen Richtwerten liegt.

18.

Schließlich ergeben sich auch Fragen zu der Art und Weise des Zustandekommens des Gutachtens. Zunächst weicht es ohne jede Erklärung von den Vorgaben in der Verfügung der Bekl. vom 16. 6. 1986 ab, wonach an den Außenseiten der Wohngebäude T.-Weg 1, 3 und 5 sowie W.-Ring 8 und 10 gemessen werden sollte. Die Bewohner der genannten Gebäude waren von der Bekl. auch bereits um Duldung der Messungen gebeten worden. Hier ist die Messung jedoch nicht auf den Grundstücken der Kl. vorgenommen worden - was sich angesichts der Herkunft der Nachbarschaftsbeschwerden aufgedrängt hätte -, sondern auf dem Grundstück eines anderen Nachbarn, der von der Beigel. wiederholt als ausgesprochener Freund des Glockengeläuts benannt worden ist. Die Kl. sind demgegenüber nicht einmal von der Messung benachrichtigt worden.

19.

Dies dürfte mit der Art und Weise zusammenhängen, in der die Widerspruchsbehörde die Amtshilfe des Landesamtes für Immissionsschutz in Anspruch genommen hat. In ihrem Schreiben vom 17. 12. 1986 an die Bekl. heißt es hierzu: "Zwischenzeitlich ist es dem Landkreis mit Unterstützung des staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes L. rein zufällig gelungen, das Niedersächsische Landesamt für Immissionsschutz in dieser Angelegenheit für eine amtliche Geräuschmessung zu gewinnen." Dies sind für eine normale Amtshilfe nach den §§ 4 ff. VwVfG ungewöhnliche Formulierungen. Weiterer Schriftverkehr mit dem Gewerbeaufsichtsamt oder dem Landesamt für Immissionsschutz findet sich - außer einer Kurzmitteilung des Gewerbeaufsichtsamtes - in den Widerspruchsvorgängen nicht. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, daß dem Landesamt zur Information über Herkunft und Art der Nachbarschaftsbeschwerden die Verwaltungsvorgänge überlassen worden wären.

20.

Schließlich sind die Kl. vom Ergebnis des Gutachtens nicht in allgemein üblicher Weise unterrichtet worden; die Widerspruchsbehörde hat lediglich - lange vor Eintreffen des Meßberichts - fernmündlich unter Hinweis auf die Messung ein bereits vereinbartes Gespräch abgesagt und sich nach Eingang des Meßberichts darauf beschränkt, die Bekl. zur Rücknahme ihrer Verfügung vom 16. 6. 1986 zu drängen, ohne den Kl. vorher den Meßbericht zugänglich zu machen oder ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

21.

Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände ist das Gutachten für eine objektive Beurteilung der Zumutbarkeit des Glockengeläuts unbrauchbar.

22.

c) Mit Rücksicht darauf, daß sich die angefochtenen Bescheide maßgeblich auf ein unbrauchbares Gutachten stützen, ohne zugleich andere, selbständig tragende Gründe geltend zu machen, sind sie als ermessensfehlerhaft aufzuheben; die Kl. haben infolgedessen einen Anspruch darauf, daß die Bekl. über ihren damit wieder offenen Antrag vom 14. 3. 1986 neu - ermessensfehlerfrei - entscheidet. Hierfür ist nicht Voraussetzung, daß bereits eine Gesundheitsgefährdung erwiesen ist; damit wäre die Schwelle für einen Anspruch auf unmittelbares Einschreiten bezeichnet. Ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung besteht demgegenüber schon dann, wenn jedenfalls von einer handgreiflichen Betroffenheit dessen ausgegangen werden kann, der das behördliche Einschreiten beantragt hat. Das ist hier fraglos der Fall; Glockengeläut auf kurze Distanz nimmt die Sinne des Zuhörers in einem Maße gefangen, daß diesem die Betroffenheit nicht abgesprochen werden kann. Wer - und sei es auch nur kurzfristig - als Nachbar einer immittierenden Anlage Mittelungspegel von 88 dB(A) hinnehmen soll, von denen jedenfalls der oben erörterte Meßbericht ausgeht, hat Anspruch auf ermessensfehlerfreie Abwägung seiner Belange.

23.

Die Bekl. hat auch als die für Maßnahmen nach §§ 22 ff. BImSchG zuständige Behörde die rechtliche Möglichkeit zum Einschreiten, soweit nicht die für den Glockenturm erteilte Baugenehmigung das Läuten in einem bestimmten Umfang deckt. Allerdings hat sie dabei Grenzen zu beachten:

24.

Es handelt sich bei der Beigel. um eine öffentlichrechtliche Körperschaft, so daß der Grundsatz zu berücksichtigen ist, daß die eine Hoheitsverwaltung nicht mit Anordnungen oder gar mit Zwang in die hoheitliche Tätigkeit einer anderen Hoheitsverwaltung eingreifen darf (vgl. BVerwG, DVBl 1968, 749; OVG Lüneburg, OVGE 12, 340 u. VerwRspr 1980, 413; Gebhard, DÖV 1986, 545). Dies bedeutet zwar nicht, daß die Kirche das Glockenläuten als eigene Angelegenheit außerhalb der übrigen staatlichen Ordnung regeln kann. Sie unterliegt vielmehr den immissionschutz- und baurechtlichen Bestimmungen wie jeder Bürger und muß die danach vorgesehenen Genehmigungsverfahren einhalten; insb. ist sie nicht nach § 82 V NdsBauO von der Bauaufsicht freigestellt. Im übrigen betreiben die Kirchen im Unterschied zu anderen Hoheitsträgern auch keine staatliche, insb. ordnungsrechtliche Aufgabenerfüllung und prüfen deshalb typischerweise nicht in erster Linie die Vereinbarkeit ihres Handelns mit bestimmten staatlichen Gesetzen (vgl. BVerwG, NJW 1984,989: "Es trifft zu, daß die Rechtsstellung der Kirchen sich von derjenigen anderer juristischer Personen, die als öffentlichrechtliche Körperschaften Aufgaben der mittelbaren Staatsverwaltung wahrnehmen, grundlegend unterscheidet"; vgl. ferner Sachs, NVwZ 1988,127 f.). Gleichwohl schließt der genannte Grundsatz für den Normalfall die Untersagung oder Einschränkung hoheitlichen (liturgischen) Geläutes durch die Immissionsschutzbehörden aus. Dazu gehören auch Läutvorgänge, für die die Kirche jedenfalls liturgische Zwecke in Anspruch nimmt, ohne daß ihr nicht-liturgischer Charakter klar und eindeutig auf der Hand liegt.

25.

Andererseits sind Eingriffe in den Aufgabenbereich anderer Hoheitsträger erlaubt, soweit sie ihrer Natur nach gar nicht zu einer Behinderung der Erfüllung dieser Aufgaben führen können. Für zulässig muß deshalb auch gegenüber Kirchen jedenfalls ein Einschreiten staatlicher Ordnungsbehörden mit dem Ziel erachtet werden, zumindest auf die Aufklärung derjenigen Sachverhalte hinzuwirken, die für die Frage der Zumutbarkeit der Immissionen von Bedeutung sind, wenn die Kirche selbst - wie hier - ersichtlich nicht gewillt ist, erforderliche Anstrengungen in diese Richtung selbst zu unternehmen. Mit anderen Worten geht die Kammer davon aus, daß die Bekl. der Beigel. die Beibringung eines Gutachtens aufgeben durfte; dadurch wird das Glockenläuten selbst noch nicht berührt. Welche weiteren Konsequenzen daraus für den Fall folgen, daß das Gutachten die Unzumutbarkeit des Glockengeläuts belegt, kann schon deshalb offenbleiben, weil bei der Kirche (wie bei den staatlichen Behörden) von der Vermutung dafür auszugehen ist, daß sie ein als unzulässig erkanntes Verhalten auch ohne weiteres ordnungsbehördliches Einschreiten selbst einstellt oder einschränkt.

26.

Nach Lage der Dinge wird die erneute Ermessensbetätigung der Bekl. darauf hinauslaufen müssen, der Beigel. auf deren Kosten erneut die Beibringung eines Lärmgutachtens aufzugeben. Denn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls erscheint es sehr wohl möglich, daß die Grenze des für die Kl. Zumutbaren überschritten wird. Das ergibt sich allerdings nicht einfach daraus, daß bei einer Umrechnung des Meßberichts (auf die maßgeblichen Entfernungen und verlängerte Läutzeiten) der dort angenommene Richtwert für Wohngebiete überschritten wird, denn auch stärkere Immissionen können - wie oben ausgeführt - noch im Rahmen des Sozialadäquaten liegen. Ausschlaggebend ist insoweit vielmehr zum einen die konkrete örtliche Situation und zum andern das Maß des Zumutbaren nach der Sozialadäquanz des Glockengeläuts.

27.

Planungsrechtlich ist die örtliche Situation durch die Festsetzungen des Bebauungsplans geprägt, und zwar vor allem durch die Wohngebietsausweisung. Die "Vorbehaltsfläche für kirchliche Zwecke" - gemeint war offenbar ein Vorbehalt für eine zukünftige Detailplanung - entspricht dagegen nicht dem Katalog der nach § 9 BauG/BauGB zulässigen Festsetzungen. Zu einer abschließenden Überplanung dieser Fläche ist es nicht mehr gekommen, so daß auch nicht von einer "plangegebenen Vorbelastung" der benachbarten Grundstücke auszugehen ist. Die Kl. müssen sich allenfalls entgegenhalten lassen, daß sie neben einem Grundstück gebaut haben, dessen spätere kirchliche Nutzung faktisch vorhersehbar war. Auch ohne entsprechende Ausweisung ist freilich nach § 4 II Nr. 3 BauNutzVO in Wohngebieten eine Bebauung mit Anlagen für kirchliche Zwecke zulässig; die Rechtsposition, die die Kl. auf Grund dieser Baugebietsausweisung in die Interessenabwägung einbringen, gibt ihnen mithin keinen Abwehranspruch gegen kirchliches Glockengeläut überhaupt, sondern nur gegen rücksichtslose Belastungen.

28.

Zudem bestimmt sich das Maß des Zumutbaren nach der Sozialadäquanz des Glockengeläuts. Dabei spielt die Frage, welche Art von Geläut noch als liturgisch einzuordnen ist, hier allenfalls eine untergeordnete Nebenrolle. Eindeutig aus dem Rahmen liturgischen Glockengeläuts fallen nur das (hier nicht betriebene) Stundengeläut und ein Läuten für Angelegenheiten, die keinen spezifischen kirchlichen Bezug haben, etwa für Konzerte. Selbst diese können aber im Einzelfall in einen religiösen Zusammenhang eingebettet sein. Das hier im Vordergrund stehende Abendläuten ist nach der Rechtsprechung des BVerwG eindeutig liturgischer Natur; das Urteil vom 7. 10. 1983 hatte ein vergleichbares Morgenläuten zum Gegenstand, so daß auf die dortigen Ausführungen Bezug genommen werden kann.

29.

Im übrigen ist liturgisches Glockengeläut nicht als solches, also etwa unabhängig vom Standort der Glocken "privilegiert". So würde etwa eine flächendeckende Beschallung mit überall verteilten Glockentürmen klar aus dem Rahmen des Herkömmlichen fallen und ohne weiteres unzulässig sein. Es kann auch nicht überall derselbe Maßstab angelegt werden; Nachbarn eines Jahrhunderte alten Doms müssen sich auf höhere Lärmbelastungen einstellen als Bewohner eines Gebiets, die sich nach der planungsrechtlichen Situation beim Bau ihrer Wohnhäuser der zukünftigen Nachbarschaft einer Kirche nicht versehen mußten. Im Rahmen des Herkömmlichen hält sich (liturgisches) Glockengeläut grundsätzlich nur, wenn es - abgesehen von hier nicht vorliegenden Sonderfällen und mit der Notwendigkeit einer Differenzierung nach Größe und Bedeutung des Kirchenstandortes - in Verbindung mit kirchlichen Sakralbauten der üblichen Bau- und Nutzungsart steht. Ein Gemeindehaus erfüllt diese Voraussetzung auch dann nicht, wenn dort regelmäßig Gottesdienste abgehalten werden. Bei Glockentürmen, die einer solchen Einrichtung zugeordnet sind, ist die Kirche deshalb in entsprechend stärkerem Maße zur Rücksichtnahme auf die Betr. verpflichtet. Dabei spielt auch eine Rolle, daß herkömmliche Kirchenbauten - worauf die Kl. zu Recht hinweisen - durch ihre technische Ausgestaltung darauf eingerichtet sind, den Schall über den Häusern zu verbreiten und ihn nicht an den nächsten Nachbarhäusern brechen zu lassen; vergleichbare Maßnahmen sind bei einem Glockenturm der hier errichteten Art schon wegen dessen geringer Höhe praktisch nicht möglich bzw. wenig erfolgversprechend.

30.

Nach alledem ist die Zumutbarkeitsschwelle hier tiefer anzusetzen als beim Geläut einer "richtigen" Kirche. Schon nach dem Meßbericht des Landesamtes ist unter diesen Umständen abzusehen, daß die Lärmbelastungen für die Kl. zumindest im Grenzbereich zum nicht mehr Zumutbaren liegen. Eine weitere Klärung ist nur anhand eines Gutachtens möglich, das die einzelnen Schallereignisse hinreichend beschreibt und analysiert. Es ist Sache der Beigel., als Verursacher der Geräusche deren Zumutbarkeit für die Nachbarn darzutun; richtigerweise hätte dies bereits im Baugenehmigungsverfahren geschehen müssen (vgl. OVG Lüneburg, BRS 44 Nr. 148).