Verwaltungsgericht Frankfurt a. M.
Urteil vom 21.2.2002
- 5 E 4962/01 (V)
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(weitere Fundstellen: NVwZ-RR 2002, 575)

Zum Sachverhalt:

1.

Der Kl. zählt zur so genannten Hütchenspielerszene im Bereich des Frankfurter Bahnhofsviertels. Im Jahre 1999 wurde er mehrfach beim Hütchenspielen angetroffen; aus diesem Anlass wurden ihm zehn Platzverweise erteilt. Am 26. 1. 2000 erließ die Bekl. gegenüber dem Kl. ein sechsmonatiges Aufenthaltsverbot in einem auf einem Plan näher bezeichneten Bereich des Frankfurter Bahnhofsviertels. Gleichwohl wurde der Kl. im Zeitraum April bis Juni 2000 mehrfach im verbotenen Bereich angetroffen. Nach Anhörung des Kl. erließ die Bekl. am 13. 12. 2000 erneut ein Aufenthaltsverbot für einen bestimmten, auf einem Plan im Einzelnen bezeichneten Teil des Frankfurter Bahnhofsviertels. Das Aufenthaltsverbot wurde für die Dauer von zwölf Monaten angeordnet, zeitlich wurde es von 14 bis 4 Uhr beschränkt. Begründet wurde das Aufenthaltsverbot als Maßnahme der Gefahrenabwehr, um die durch den Kl. unmittelbar bestehende Gefahr von Straftaten durch Hütchenspiele zu beseitigen. Dabei stützte sich die Bekl. darauf, dass das Hütchenspiel jedenfalls kein unbedenkliches Geschicklichkeitsspiel sei, sondern vielmehr eine Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit darstelle. Eine konkrete Gefahr durch den Kl. wurde insbesondere wegen der erheblichen und mehrfachen Verstöße gegen die in der Vergangenheit erlassenen Platzverweise und Aufenthaltsverbote gesehen, die ein erneutes Einschreiten erforderlich machten. Die Maßnahme sei, so heißt es in dem Bescheid weiter, auch verhältnismäßig, da durch den Aufenthalt des Kl. im bezeichneten Bereich wichtige Rechtsgüter beeinträchtigt würden und er diese Orte ausschließlich zum Zweck des Hütchenspiels aufsuche; sein Wohnsitz habe der Kl. außerhalb dieses Bereichs.

2.

Das VG gab der nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobenen Klage statt.

Aus den Gründen:

3.

Die Klage ist begründet, denn die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kl. in seinen Rechten. Die Verfügung vom 13. 12. 2000, mit der gegen den Kl. ein Aufenthaltsverbot für einen näher bezeichneten Bereich der Innenstadt von Frankfurt a. M. ausgesprochen wurde, verstößt gegen den Vorbehalt des Gesetzes, da er sich auf keine gesetzliche Grundlage stützen kann. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung und ist in der Lehre, ebenso anerkannt, dass Eingriffe in die Freiheit eines Bürgers einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, weil die grundgesetzlich festgelegten Grundrechte, die die Freiheit des Bürgers umfassend schützen, nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden können.

4.

Von daher müssen die Eingriffsbefugnisse der Verwaltung gesetzlich nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt unbegrenzt sein, so dass Beschränkungen voraussehbar und berechenbar sind. Dabei sind, wie das BVerfG in seiner Rechtssprechung immer wieder betont hat (vgl. BVerfGE 42, 1 [42] m.w. Nach.), im Bereich der Eingriffsverwaltung strenge Maßstäbe an die "Regelungsdichte" zu stellen.

5.

Soweit die Bekl. ihre Verfügung auf die § 1, § 2, § 6 und § 11 HessSOG stützt, genügt dies nicht den oben genannten Anforderungen. Das gegen den Kl. verfügte Aufenthaltsverbot kann deshalb nicht auf die Generalklausel des § 11 HessSOG gestützt werden, weil der Gesetzgeber in § 31 HessSOG eine spezielle - auf den vorliegenden Fall gleichwohl nicht anwendbare - Regelung geschaffen hat, die einen Rückgriff auf die subsidiäre Generalklausel nicht erlaubt.

6.

§ 31 HessSOG regelt die Platzverweisung, also das Gebot, vorübergehend einen Ort zu verlassen (Wegeweisung) oder nicht zu betreten (Betretungsverbot). Dabei hat sich der Gesetzgeber von dem Gedanken leiten lassen, dass Ortswahl und Ortsaufenthalt umfassenden grundgesetzlichen Schutz nach Art. 2 II GG und nach Art. 11 I GG genießen, so dass für eine Einschränkung die Vorschrift des Artikels 19 I GG beachtet werden muss, ein Umstand dem der Gesetzgeber in § 10 HessSOG Rechnung getragen hat. Unabhängig von dem generellen Grundsatz, dass die Vorschrift des §31 HessSOG wegen des mit einer Platzverweisung verbundenen Grundrechtseingriffs eng auszulegen ist (vgl. hierzu Hornmann, HessSOG, § 31 Rdnr. 1), hat der Gesetzgeber darüber hinaus eindeutig geregelt, dass ein Platzverweis nur vorübergehend zulässig ist. Hieraus folgt bereits, dass (lang-) andauernde Aufenthaltsverbote auf die Befugnisnorm des § 31 HessSOG nicht gestützt werden können. Zutreffend hat die Bekl. in ihrer Verfügung vom 1. 7. 2001 auch deshalb nicht auf die Vorschrift des § 31 HessSOG, sondern - wenngleich im Ergebnis unzutreffend - auf die Generalklausel des § 11 HessSOG zurückgegriffen. § 11 HessSOG, der den Gefahrenabwehrbehörden die Möglichkeit einräumt, erforderliche Maßnahmen zu treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren, schreibt den Anwendungsbereich dieser Norm jedoch dahingehend verbindlich fest, dass die Generalklausel nur Anwendung findet, "soweit nicht die folgenden Vorschriften der Befugnisse der Gefahrenabwehr und der Polizeibehörden besonders regeln". Hieraus folgt, dass die Befugnisse des § 11 HessSOG hinter den Spezialregelungen über Befugnisse der §§ 2 bis 43 HessSOG zurücktreten (Grundsatz der Subsidiarität) und dass andererseits die in den §§12 bis § 43 HessSOG normierten Einzelermächtigungen abschließende Sachverhaltsregelungen enthalten und daher nicht über die Generalklausel des § 11 HessSOG ausgeweitet werden dürfen; dies entspricht h.M. (vgl. Hornmann, HessSOG, § 11 Rdnr. 3; Meixner, HessSOG, 6. Aufl., § 11 Rdnr. 2; Rachor, in: Lisken/Denninger, Hdb. des PolR, 3. Aufl., F 453 m.w.Nachw.).

7.

Soweit die Bekl. diesem auch vom Kl. vertretenen Ansatz entgegengetreten ist, lässt sich der Rückgriff auf § § 11 HessSOG auch nicht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des OVG Bremen (NVwZ 1999, 314) mit der Argumentation rechtfertigen, es handele sich bei dem Versuch der Bekl., die Hütchenspielerszene aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel zu vertreiben, um eine komplexe, neu aufgetretene Gefahrenlage; Platzverweis und Aufenthaltsverbot seien zwei qualitativ unterschiedliche Maßnahmen, so dass § 31 HessSOG keine Sperrwirkung gegenüber § 11 HessSOG entfalte.

8.

Zwar ist der Bekl. zuzugestehen, dass für komplexe und atypische, insbesondere nach Art und Maß bislang nicht bekannte Gefahrenlagen die Generalklausel des § § 11 HessSOG nach wie vor eine wichtige Auffangfunktion besitzt. Dies gilt jedoch zum einen nicht für jede neu aufgetretene Gefahrenlage, zum anderen ergibt sich aus § § 31 HessSOG, dass das Aufenthaltsverbot eine besondere Form eines Betretungsverbotes (Aufenthaltsbeschränkung) ist, welches in dieser Vorschrift abschließend geregelt ist. Die Bedeutung, die der Gesetzgeber selbst dem Subsidiaritätsgebot beimisst, folgt zum einen aus der Gesetzesbegründung zu § 11 HessSOG (vgl. LT-Dr 12/5794, S. 52, 61) sowie daraus, dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit einem "Hausverbot für Ehepartner und Partner einer Lebensgemeinschaft" eine spezielle Befugnisnorm für erforderlich hält, den Rückgriff auf die Generalklausel also nicht für ausreichend ansieht (so auch Rachor, in: Lisken/Denninger, Hdb. des PolR, 3. Aufl., F 454, der eine gesetzliche Regelung für notwendig erachtet). Lässt sich mithin das gegenüber dem Kl. verfügte Aufenthaltsverbot weder auf § 31 HessSOG noch auf § 11 HessSOG stützen, so mangelt es der Verfügung der Bekl. vom 13. 12. 2000 an einer Rechtsgrundlage mit der Folge, dass die Verfügung als rechtswidrig zu erachten ist.

9.

Über die o.g. Ausführungen hinaus ergibt sich die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verfügung jedoch auch daraus, dass das Aufenthaltsverbot für den Zeitraum von einem Jahr ausgesprochen worden ist. Maßnahmen der Gefahrenabwehrbehörden stehen, wie sich aus § § 4 HessSOG ergibt, unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Unter mehreren und geeigneten Maßnahmen ist daher nur diejenige zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen. Dabei darf die Maßnahme nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht; sie ist nur solange zulässig, bis der Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. Die Dauer des gegen den Kl. verfügten Aufenthaltsverbots genügt dem in § 4 HessSOG verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) und den einzelnen Grundrechten findet, mithin also Verfassungsrang hat, nicht. Er rechtfertigt sich insbesondere auch nicht aus der Überlegung der Bekl., dass ein bereits in der Vergangenheit gegen den Kl. verhängtes Aufenthaltsverbot von sechs Monaten sich aus der Sicht der Behröde als erfolglos erwiesen hat. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist immanent der Grundsatz des Verbotes zeitlichen Übermaßes, wie er in § 4 III HessSOG seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Die Behörde kann sich ihrer Verpflichtung, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren, nicht dadurch entziehen, dass sie einem in ihren Augen potenziellen Handlungsstörer für ein die Dauer eines Jahres umfassenden Zeitraum ein Aufenthaltsverbot auferlegt, ohne jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob die aus ihrer Sicht das Verbot rechtfertigenden Umstände, mit hin die Gefahrenlage, weiterhin bestehen. Ob unter Berücksichtigung dieser Grundsätze allenfalls ein Zeitraum von höchstens vier Wochen in Betracht gezogen werden dürfte, braucht vorliegend abschließend nicht entschieden zu werden. Jedenfalls verstößt die zwölf Monate umfassende Anordnung gegen die oben genannten Grundsätze.

10.

Die streitgegenständliche Verfügung erweist sich darüber hinaus auch deshalb als rechtswidrig, weil die Bekl. den Umstand, dass die Großeltern sowie die Tante der Kinder des Kl. in dem vom Aufenthaltsverbot erfassten Bereich ihre Wohnung haben, ebenso wenig berücksichtigt hat wie die Tatsache, dass auch dort die Hausärztin der Kinder praktiziert, sowie der Zahnarzt, bei dem der Kl. sich in Behandlung befindet. Dem Kl., wie von der Bekl. im gerichtlichen Verfahren schriftsätzlich geschehen, darauf zu verweisen, Arzttermine in den nicht vom Aufenthaltsverbot erfassten Stunden wahrzunehmen, wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht, zumal die Verbotsverfügung Ausnahmen vom Aufenthaltsverbot nicht vorsieht. Die Bekl. hätte sicherstellen müssen, dass in dringenden, ggf. vom Kl. nachzuweisenden und vorab anzuzeigenden Fällen eine Ausnahme vom Aufenthaltsverbot eingeräumt werden wird (vgl. Rachor, in: Lisken/Denninger, Hdb. des PolR, 3. Aufl., F 459).