Verwaltungsgericht Darmstadt
Beschluss vom 30.06.1989
- III/V G 1057/89
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 (weitere Fundstellen: NVwZ-RR 1990, 104)

 

 

Zum Sachverhalt:

1.

Die Gemeindevertretung der Gemeinde M., der die Ag. angehört, besteht seit der Wahl am 12. 5. 1989 aus 3 Fraktionen, nämlich der CDU-Fraktion mit 18 Mitgliedern, der Ag. (SPD-Fraktion) mit 14 Mitgliedern, der Fraktion der Gründen mit 5 Mitgliedern. Am 16. 11. 1987 hat die damalige SPD-Fraktion in der Gemeindevertretung eine Geschäftsordnung (GeschO) in Kraft gesetzt. Diese Geschäftsordnung hat der damalige Fraktionsvorsitzende, der Ast. zu 2, unterschrieben. Am 24. 4. 1989 traten die Mitglieder der Ag. zur konstituierenden Fraktionssitzung zusammen. Ausweislich des Protokolls über diese Sitzung wurde hierbei u. a. die am folgenden Tag vorgesehene Sitzung der Gemeindevertretung vorbereitet. Die Fraktion beschloß hierbei einen Wahlvorschlag für die am nächsten Tag vorgesehene Wahl der insgesamt elf ehrenamtlichen Beigeordneten. Darüber, ob alle Fraktionsmitglieder bei der Wahl des Gemeindevorstandes für den Wahlvorschlag der Ag. stimmen, wurde ebensowenig Beschluß gefaßt wie über die Übernahme der Geschäftsordnung der Vorgängerin der Ag. Am 25. 4. 1989 trat die Gemeindevertretung zur konstituierenden Sitzung zusammen. Bei der Wahl der Beigeordneten erhielt der Wahlvorschlag der CDU-Fraktion 19, der Wahlvorschlag der SPD-Fraktion 13 und der Wahlvorschlag der Fraktion der Grünen 5 Stimmen. Nach eigenem Bekunden hatte der Ast. zu 1 seine Stimme für den Wahlvorschlag der CDU-Fraktion abgegeben. Diese Stimmabgabe hatte zur Folge, daß auf den Wahlvorschlag der CDU-Fraktion zu Lasten des Wahlvorschlags der Fraktion der Gründen ein weiterer Sitz entfiel. Der Ast. zu 2 legte in seiner Stellungnahme vom 3. 5. 1989 dar, er habe für den Wahlvorschlag der SPD-Fraktion gestimmt, die erhobenen Vorwürfe seien daher nicht korrekt, die gezogenen Schlußfolgerungen nicht stichhaltig. Nach kontroverser Diskussion über die Stellungnahmen der Ast. wurden diese in geheimer Abstimmung mit neun Ja- gegen acht Nein-Stimmen aufgefordert, mit sofortiger Wirkung ihre über die Liste der SPD erworbenen Mandate zurückzugeben. Darüber hinaus beschloß die Fraktion den sofortigen Ausschluß der Ast. und gab ihre Nominierungen für die Ausschüsse der Gemeindevertretung zurück.

2.

Die Ast. haben um vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht nachgesucht, der vor dem VG Erfolg hatte.

 

Aus den Gründen:

3.

II. ... Der Verwaltungsrechtsweg ist zulässig, da es sich bei dem Ausschluß von Mitgliedern einer Fraktion in einem kommunalen Vertretungsorgan um eine öffentlichrechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handelt. Streitigkeiten innerhalb einer Fraktion einer Gemeindevertretung sind als Streitigkeiten im Innenbereich dieses Organs der Gemeinde anzusehen und kraft Sachzusammenhangs dem öffentlichen Recht zuzuordnen (so VGH Kassel, HSGZ 1987, 209; ebenso OVG Münster, NJW 1989, 1105 m. w. Nachw.).

4.

Gegen den Fraktionsausschluß ist auch vorläufiger Rechtsschutz im Wege einstweiliger Anordnung statthaft, weil ein Fraktionsausschluß keinen Verwaltungsakt darstellt, mithin vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 V VwGO nicht in Betracht kommt (VGH Kassel, HSGZ 1987, 209). Die Ast. haben auch Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch (vgl. § 123 III VwGO i. V. mit § 920 II ZPO) dargelegt und glaubhaft gemacht.

5.

Der Anordnungsanspruch folgt daraus, daß der Beschluß über den Ausschluß der Ast. vom 6. 5. 1989 aus verschiedenen Gründen voraussichtlich keinen Bestand hat. Gesetzlich sind die formellen und materiellen Voraussetzungen für den Ausschluß aus der Fraktion eines kommunalen Vertretungsorganes nicht geregelt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es solche Voraussetzungen nicht gäbe. Vielmehr muß auch ein Fraktionsausschluß rechtsstaatlichen Anforderungen genügen, um wirksam zu sein, denn Fraktionen sind Zusammenschlüsse von Gemeindevertretern (§ 36 I 1 HesssGO), sie sind Teilorgane des Organs Gemeindevertretung und haben damit Anteil an der Staatsgewalt, die rechtsstaatlich verfaßt sein muß (Art. 20 III, 28 I GG). Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verlangen es, daß über den Ausschluß eines Fraktionsmitgliedes grundsätzlich nur beraten und beschlossen werden darf, wenn sich aus der Einladung zur Fraktionssitzung ergibt, daß über einen Fraktionsausschluß verhandelt werden soll (vgl. hierzu § 32 I 2 BGB, § 58 I HessGO; VGH München, NVwZ 1989, 494 (496)). Auch § 3 II 1 HessGO schreibt Einladungen unter Angabe der Tagesordnung vor. Während § 58 II HessGO regelt, daß über Angelegenheiten, die nicht auf der Einladung zur Sitzung verzeichnet sind, nur mit Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Gemeindevertreter verhandelt und beschlossen werden kann, läßt § 3 II 2 HessGO insofern die Zustimmung der Mehrheit der anwesenden stimmberechtigten Fraktionsmitglieder genügen. Entscheidend ist jedoch, daß, bevor eine Entscheidung in der Sache getroffen wird, sowohl nach § 58 II HessGO als auch nach § 3 II 1 GeschO ein Beschluß darüber erforderlich ist, ob überhaupt über den nicht auf der Tagesordnung aufgeführten Gegenstand beraten und beschlossen werden soll. Im vorliegenden Fall ging aus der Einladung zur Fraktionssitzung am 6. 5. 1989 nicht hervor, daß über den Ausschluß der Ast. beraten und beschlossen werden solle. Nachdem die Ast. der Forderung der Ag. nachgekommen waren und zu ihrem Verhalten im Zusammenhang mit der Wahl des Gemeindevorstandes am 25. 4. 1989 Stellung genommen hatten, war vielmehr die Bedingung entfallen, an die der sofortige Ausschluß aus der Ag. geknüpft worden war. Es kann offen bleiben, ob gleichwohl ausnahmsweise auch ohne entsprechende Ankündigung in der Einladung über den Ausschluß der Ast. hätte beraten und beschlossen werden dürfen, nachdem zuvor über die Aufnahme eines entsprechenden Tagesordnungspunktes auf die Tagesordnung der Sitzung mit einer bestimmten Mehrheit beschlossen worden wäre. Denn ausweislich des Protokolls über die Fraktionssitzung am 6. 5. 1989 ist ein solcher Beschluß zur Ergänzung oder Erweiterung der Tagesordnung nicht gefaßt worden.

6.

Formale Bedenken gegen den Fraktionsausschluß bestehen auch deshalb, weil die Abstimmung geheim durchgeführt worden ist. Die Gemeindevertretung, deren Organteil die Ag. ist, hat grundsätzlich in offener Abstimmung zu beschließen (§ 54 I 1 HessGO). Auch für den Gemeindevorstand gilt der Grundsatz der offenen Abstimmung (§ 67 II 1 HessGO). Es liegt nahe, für die Fraktion als Organteil dasselbe Abstimmungsverfahren zu verlangen, das für das Vertretungsorgan verbindlich ist, insbesondere wenn keine entgegengesetzten Bestimmungen einer Fraktionsgeschäftsordnung vorhanden sind und wenn einzelne Fraktionsmitglieder einer geheimen Abstimmung widersprechen. Beides ist vorliegend der Fall gewesen.

7.

Entscheidend spricht jedoch gegen die Rechtmäßigkeit des Fraktionsausschlusses, daß er nicht nur von den Mitgliedern der Fraktion gefaßt worden ist, sondern daß an der Abstimmung auch Beigeordnete beteiligt waren. Wenn § 65 II 1 HessGO vorschreibt, daß Mitglieder des Gemeindevorstandes nicht gleichzeitig Gemeindevertreter sein dürfen, dann folgt daraus, daß Beigeordnete auch kein Stimmrecht in der Fraktion haben dürfen, die ein Zusammenschluß von Gemeindevertretern ist. Dies muß jedenfalls dann gelten, wenn Fraktionsbeschlüsse zu fassen sind, die nicht nur eine politische Willensbildung betreffen, sondern in den Bestand der Fraktion gestaltend eingreifen (z. B. Beschlüsse über Aufnahme oder Ausschluß von Fraktionsmitgliedern). Sollte § GESCHO § 1 GeschO auch insoweit den Mitgliedern des Gemeindevorstandes ein Stimmrecht zubilligen, so ist er wegen Verstoßes gegen § 65 II 1 i. V. mit § 36 I 1 HessGO unwirksam. Es kann deshalb auch offen bleiben, ob die Geschäftsordnung nicht mit Ablauf der Wahlperiode außer Kraft getreten und damit für die Ag. im Zeitpunkt der Beschlußfassung am 6. 5. 1989 ohnehin unbeachtlich war. Dafür spricht, daß erst die Sitzung am 8. 5. 1989 als TOP 3 die Beschlußfassung über eine Geschäftsordnung vorsah.

8.

Erweist sich somit bereits aus formellen Gründen der Ausschluß der Ast. aus der Fraktion als rechtsunwirksam, bedarf es keiner Entscheidung mehr darüber, ob das Verhalten der Ast. im Zusammenhang mit der Wahl der Beigeordneten den Fraktionsausschluß rechtfertigte. Voraussetzung für einen Fraktionsausschluß ist das Vorliegen eines wichtigen Grundes (so OVG Münster, NJW 1989, 1105 (1106), unter Hinweis auf §§ BGB § 737 S. 1, 723 I BGB; vgl. auch § 10 IV PartG; zu derselben Auffassung neigt auch VGH München, NVwZ 1989, NVWZ Jahr 1989 Seite 494 (NVWZ Jahr 1989 Seite 495) unter Bezugnahme auf Erdmann, DÖV 1988, 912). Ein wichtiger Grund liegt dann vor, wenn ein Fraktionsmitglied in einer Frage von zentraler Bedeutung anders abstimmt als die Fraktion bestimmt hat (vgl. VGH Kassel, HSGZ 1987, 209 (210)). Den Fraktionsausschluß rechtfertigen Umstände, die das Vertrauensverhältnis zwischen den Auszuschließenden und der übrigen Fraktion nachhaltig und derart stören, daß den übrigen Fraktionsmitgliedern eine weitere Zusammenarbeit nicht zugemutet werden kann (OVG Münster, NJW 1989, 1105 (1106)). Ob im vorliegenden Fall das Verhalten der Ast. bei Anlegung dieses Maßstabs bereits einen Fraktionsausschluß rechtfertigt, erscheint zweifelhaft. Die Ag. muß sich entgegenhalten lassen, daß in der konstituierenden Sitzung am 24. 4. 1989 lediglich ein Wahlvorschlag der Ag. für die Wahl der Beigeordneten beschlossen worden ist. Zu einer Beschlußfassung darüber, inwieweit alle Fraktionsmitglieder diesen Wahlvorschlag durch ihre Stimmabgabe zu unterstützen haben, ist es nicht gekommen. Grund dafür kann allerdings sein, daß ein solches Stimmverhalten als selbstverständlich angesehen worden ist, so daß sich eine Beschlußfassung hierüber erübrigt hat. Aus der Stellungnahme des Ast. zu 1 vom 1. 5. 1989 wie auch aus der Einlassung der Ast. im Eilverfahren ergibt sich, daß sie ein von der Fraktionsmehrheit abweichendes Stimmverhalten jedenfalls dann als fraktionsschädigend empfunden hätten, wenn es dazu geführt hätte, daß auf den Wahlvorschlag der Ag. weniger als vier Sitze im Gemeindevorstand entfallen wären. Ein solches Stimmverhalten bzw. die Unterstützung eines solchen Stimmverhaltens hätte sicherlich zu einem Vertrauensverlust geführt und hätte einen Ausschluß gerechtfertigt, da den übrigen Fraktionsmitgliedern die Zusammenarbeit mit derart abstimmenden Kollegen innerhalb ein und derselben Fraktion nicht mehr zumutbar gewesen wäre. Im vorliegenden Fall hat aber das Stimmverhalten der Ast. gerade nicht dazu geführt, daß auf den Wahlvorschlag der Ag. weniger Sitze entfallen sind, als sie bei Unterstützung ihres Wahlvorschlags durch alle Fraktionsmitglieder erwarten konnte. Ob die durch abweichendes Stimmverhalten herbeigeführte Sitzverschiebung hinsichtlich der beiden anderen Fraktionen der Gemeindevertretung zusammen mit dem Umstand, daß die Fraktion von diesem Stimmverhalten überrascht worden ist, zu einem dauerhaften schweren Vertrauensverlust führen mußte, der jegliche weitere Zusammenarbeit als unzumutbar erscheinen läßt, ist auch deshalb fraglich, weil erfahrungsgemäß nach anfänglicher Erregung eine gelassenere Betrachtungsweise Platz greift. Das Aufsehen, das eine solche Stimmabgabe in der Öffentlichkeit erregt, ebbt in der Regel nach einigen Wochen merklich ab. Für die Ast. spricht im übrigen, daß sie zumindest nachträglich ihr Stimmverhalten gegenüber der Fraktion offengelegt und auch ihre Beweggründe dargestellt haben. Die Ast. haben auch den von der Ag. als wesentlich hervorgehobenen Grundsatz anerkannt, daß von der Fraktionslinie abweichendes Stimmverhalten zu unterbleiben hat. Der Ast. zu 2 hat nämlich in seiner Stellungnahme vom 3. 5. 1989 darauf Wert gelegt, daß er fraktionskonform abgestimmt habe. Der Ast. zu 1 hat ebenfalls zum Ausdruck gebracht, daß er im Grundsatz anerkennt, daß Fraktionsmitglieder sich an Fraktionsbeschlüsse zu halten haben.

9.

Die Ast. haben auch den erforderlichen Anordnungsgrund dargetan und glaubhaft gemacht. Ohne vorläufigen Rechtsschutz wären sie bis zur abschließenden Klärung der Wirksamkeit des Fraktionsausschlusses von der Mitwirkung bei der fraktionsinternen Willensbildung ausgeschlossen und hätten als fraktionslose Gemeindevertreter nur eingeschränkte Einflußmöglichkeiten in der Gemeindevertretung für einen nicht unbedeutenden Teil der Wahlperiode. Dies würde die Ast. unzumutbar belasten, so daß es auch gerechtfertigt erscheint, eine Entscheidung in der Hauptsache mit dem Erlaß der einstweiligen Anordnung zumindest teilweise faktisch vorwegzunehmen. Demgegenüber erscheint es der Ag. eher zumutbar, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Fraktionsausschluß die Mitwirkung der Ast. bei der fraktionsinternen Willensbildung einstweilen hinzunehmen.