Verwaltungsgericht Darmstadt
Beschluss vom 26.11.2002
- 3 G 2481/02 (1)
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 (weitere Fundstellen: NJW 2003, 455 f.)

 

Leitsätze:

1.

Kommunale Mandatsträger in Hessen können vom Vorsitzenden des Beschlussgremiums, dem sie angehören, mit Leistungsklage, gegebenenfalls im Wege einstweiliger Anordnung, sitzungsleitende Maßnahmen verlangen, ohne zuvor einen die innere Ordnung des Beschlussgremiums betreffenden Beschluss des Beschlussgremiums beantragt zu haben (vgl.§ 58 IV HessGO).

2.

Das Beschlussgremium ist nicht verpflichtet, mittels Beschlusses in die Sitzungsleitung seines Vorsitzenden einzugreifen.

3.

Sitzungsleitende Maßnahmen haben sicherzustellen, dass der einzelne Mandatsträger unbeeinträchtigt beratend und beschlussfassend an der Bildung des Gesamtwillens des Beschlussgremiums teilnehmen kann.

4.

Grundrechte der Mandatsträger sind (nur) insoweit eingeschränkt, als es eine Atmosphäre der Ruhe und Sachlichkeit bei der Bildung des Gesamtwillens des Beschlussgremiums erfordert.

5.

Sitzungsleitende Maßnahmen haben sicherzustellen, dass Beschlussgremien in Glaubensfragen Neutralität bewahren.

6.

Das Anbringen von Glaubenssymbolen, zum Beispiel eines Kruzifixes oder eines Kreuzes als Zeichen des christlichen Glaubens in dem Raum, in dem das Beschlussgremium tagt, ist mit dem an alle staatlichen Organe gerichteten Gebot der Neutralität in Glaubensfragen unvereinbar.

 

Zum Sachverhalt:

1.

Seit Juni 2002 finden die Sitzungen des Kreistags des Landkreises Offenbach in dessen Sitzungssaal im neuen Kreishaus in Dietzenbach statt. Dieser Sitzungssaal wurde auf Initiative des Ag. und im Einvernehmen mit dem Landrat in einer Feierstunde am 21. 6. 2002 von einem evangelischen und einem katholischen Pfarrer geweiht und gesegnet. Während anlässlich der ersten Sitzung des Kreistags im neuen Sitzungssaal am 12. 6. 2002 dort noch kein Kreuz angebracht war, ließ der Ag. im Einvernehmen mit dem Landrat ein aus allgemeinen Mitteln des Verwaltungshaushalts ohne besondere Beschlussfassung der Kreisgremien finanziertes circa 50 cm hohes Kreuz neben der Eingangstür an der Rückwand des Sitzungssaals anbringen. Als am 4. 9. 2002 die nächste Sitzung des Kreistags stattfand, erklärte ausweislich der Niederschrift über diese Sitzung die Ast., die als Stellvertreterin des Ag. auch Mitglied des Präsidiums des Kreistags ist, in einer persönlichen Erklärung, es solle doch möglich sein, in einem Raum des öffentlichen Rechts religiöse Neutralität zu wahren, so wie es das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat vorsehe. Sie appelliere dringend an das Präsidium, vor Eintritt in die Tagesordnung darüber zu entscheiden, ob schon aus Respekt vor Andersgläubigen und Atheisten das Kreuz abgenommen werden könne. Nachdem das Präsidium mehrheitlich die Entfernung des Kreuzes abgelehnt hatte, beantragte die Ast. die Gewährung von einstweiligem gerichtlichem Rechtsschutz.

2.

Diesem Antrag gab das VG statt.

 

Aus den Gründen:

3.

Der Eilantrag ist zulässig. Die Ast. verlangt zulässigerweise vom Ag. eine sitzungsleitende Maßnahme im Wege einstweiliger Anordnung, die er ihr bislang verweigert hat. Als Kreistagsabgeordnete macht sie dementsprechend einen Anspruch geltend, der sich gegen den Ag. als (Teil-)Organ richtet, dem kommunalverfassungsrechtlich die Kompetenz der Sitzungsleitung gem. § 32 S. 2 HessKreisO i.V. mit § 58 IV 1 HessGO zusteht. In dieser kommunalverfassungsrechtlichen Streitigkeit tritt die Ast. dem Ag. als Teil eines (mittelbar) staatlichen Organs mit rechtlich geschützten Wahrnehmungszuständigkeiten gegenüber (§§ 28 I, 28a I 1 HessKreisO).

4.

Soweit die Ast. gem. § 123 I 2 VwGO eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands begehrt, um wesentliche Nachteile abzuwenden, fehlt ihr auch nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Zwar hätte die Ast. im Kreistag einen Beschluss beantragen können, in dem der Kreistag dem Ag. aufgibt, das von ihm angebrachte Kreuz im Sitzungssaal während der Sitzungen des Kreistags zu entfernen (vgl. § 32 S. 2 HessKreisO i.V. mit § 58 IV 2 HessGO), doch hätte sie den Kreistag damit nicht veranlassen können, dem Ag. eine sitzungsleitende Maßnahme aufzugeben. Der Kreistag ist nicht verpflichtet, dem Ag. bestimmte Vorgaben zu machen, wie er seine sitzungsleitende Tätigkeit auszuüben hat. Dementsprechend könnte ihn auch das Gericht nicht dazu anhalten, wenn er dies ablehnt, so dass die Ast. auf jeden Fall darauf verwiesen bleibt, im Streitfall gegen den Ag. vorzugehen.

5.

Der Eilantrag ist auch begründet. Die Ast. hat die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und den Grund für eine notwendige vorläufige Regelung dargelegt und glaubhaft gemacht (§ 123 III VwGO i.V. mit § 920 II ZPO).

6.

Der Ast. geht es darum, ihre beratende und beschlussfassende Tätigkeit als Mandatsträgerin bereits in der kommenden Kreistagssitzung, die im Dezember stattfinden soll, ungehindert ausüben zu können. Bis zu diesem Zeitpunkt ist mit einer rechtskräftigen Entscheidung über ihre bereits erhobene Klage (Az.: 3 E 2482/92[1]) nicht zu rechnen. Der Ast. ist jedoch nicht zumutbar, bis zu einer solchen Entscheidung ihre Mitgliedschaftsrechte im Kreistag nur unter unzulässigen Einschränkungen wahrnehmen zu können.

7.

Der Anordnungsanspruch der Ast. ergibt sich daraus, dass der Ag. ihr gegenüber verpflichtet ist, durch sitzungsleitende Maßnahmen sicherzustellen, dass die Ast. ihr Mandat unbeeinträchtigt wahrnehmen kann.

8.

Zur "inneren Ordnung der Gemeindevertretung", die der Ag. als Kreistagsvorsitzender gem. § 32 S. 2 HessKreisO i.V. mit § 58 IV 1 HessGO zu gewährleisten hat, gehören nicht nur die den Verfahrensablauf regelnden normativen Bestimmungen der Kommunalverfassung und der Geschäftsordnung des Kreistags, sondern darüber hinaus auch der Gesamtbestand der innerorganisatorischen Verhaltensregeln, die für einen reibungslosen Geschäftsablauf notwendig sind (vgl. OVG Münster, NVwZ 1983, 485 [486]). Zu den Leitungspflichten des Vorsitzenden eines kommunalen Beschlussgremiums gehört die Sicherstellung eines reibungslosen Ablaufs der der Beratung und Beschlussfassung zu einzelnen Tagesordnungspunkten dienenden Sitzungen, in der eine Vielzahl divergierender Individualwillen zu einem organschaftlichen Gesamtwillen zusammengefasst werden müssen (hierzu OVG Münster, NVwZ 1983, 485 [486]). Die Leitungsverpflichtungen des Vorsitzenden eines kommunalen Beschlussorgans sind ihm nicht nur im öffentlichen Interesse an einer ungestörten Bildung des organschaftlichen Gesamtwillens, sondern auch im Individualinteresse der zur Mitwirkung an der Bildung des organschaftlichen Gesamtwillens berufenen Mandatsträger aufgegeben. Soweit Mandatsträger sich auf ihre grundrechtlich verbürgten Freiheiten, zum Beispiel gem. Art. 4 I oder 5 I 1 GG, berufen, stehen ihnen diese Freiheiten nicht schrankenlos zu, soweit sie sich im Rahmen staatlicher Einrichtungen und Funktionen betätigen. Insoweit müssen sie vielmehr dann Einschränkungen hinnehmen, wenn dies die Funktionsfähigkeit des jeweiligen unmittelbar oder mittelbar dem Staat zuzurechnenden Organs, dem sie angehören, verlangt (vgl. insoweit BVerwG, NVwZ 1988, 837; NJW 2002, 3344 [3345]). Dementsprechend muss unter Umständen ein Mandatsträger auf das demonstrative Tragen von Aufklebern ungeachtet seines grundsätzlichen Rechts zur freien Meinungsäußerung gem. Art. 5 I 1 GG verzichten, wenn dies die innere Ordnung der Sitzung des kommunalen Organs stört, weil dort deshalb nicht mehr eine Atmosphäre der Ruhe und Sachlichkeit gegeben ist (vgl. zu einem solchen Fall BVerwG, NVwZ 1988, 837 [838]). Art. 4 I GG gibt einer Lehrerin auch nicht das Recht, während des Unterrichts aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen, weil dies mit der grundrechtlich verbürgten Glaubensfreiheit der Schüler und ihrer Eltern kollidiert (BVerwG, NJW 2002, 3344 [3345]).

9.

Im hier zu entscheidenden Fall verlangt es aber der ungestörte Ablauf der Sitzungen des Kreistags nicht, dass die Ast. während der Ausübung ihres Mandats Einschränkungen ihres Grundrechts auf negative Bekenntnisfreiheit hinnimmt. Im Gegenteil: Bei seinen sitzungsleitenden Maßnahmen hat der Ag. darauf zu achten, dass aus der verfassungsrechtlich umfassend gewährleisteten Glaubensfreiheit das Gebot staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen folgt und staatliche Gremien in Glaubensfragen Neutralität bewahren und alles vermeiden müssen, was den religiösen Frieden und eine gedeihliche Koexistenz in der Gesellschaft gefährden kann, um in einer pluralistischen Gesellschaft ein friedliches Zusammenleben der Anhänger unterschiedlicher oder sogar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 93, 1 [16f.] = NJW 1995, 2477, ebenso BVerwG, NJW 2002, 3344 [3345]).

10.

Die Ast. hat nachvollziehbar und glaubhaft dargelegt, dass sie durch die Anbringung des Kreuzes im Sitzungssaal des Kreistags sich in ihren religiösen Gefühlen verunsichert und beeinträchtigt fühlt. Sie hat deshalb - ebenso wie fünf andere Abgeordnete - die Kreistagssitzung am 4. 9. 2002 verlassen, als der Ag. ihrem in einer persönlichen Erklärung formulierten Anliegen nicht entsprach, das von ihm im Einvernehmen mit dem Landrat aufgehängte Kreuz im Sitzungssaal zu entfernen. Das zeigt, dass eine ordnungsgemäße Beratung und Beschlussfassung im Kreistag und eine unbeeinträchtigte Mitwirkung unter anderem der hierzu als Kreistagsabgeordnete berufenen Ast. so lange nicht gewährleistet ist, als während der Sitzungen des Kreistags im Sitzungssaal das Kreuz aufgehängt bleibt. Gegen die Glaubhaftigkeit der von der Ast. bekundeten subjektiv so empfundenen Beeinträchtigung ihrer Mitwirkungsrechte spricht auch nicht, dass die Ast. nichts gegen die Einweihung und Segnung des Kreishauses bzw. des Sitzungssaals durch kirchliche Würdenträger einzuwenden hatte, denn dieser Akt fand nicht im Rahmen einer der Beratung und Beschlussfassung von Tagesordnungspunkten dienenden Sitzung des Kreistags sondern in einer Feier statt, so dass die Ast. sich mit ihrem jetzigen Begehren, während der Sitzungen des Kreistags das Kreuz zu entfernen, nicht in Widerspruch setzt zu ihrer damaligen - positiven - Haltung zur Einweihung und Segnung des Kreishauses bzw. des Sitzungssaals.