Verwaltungsgericht Augsburg
Urteil vom 31.03.1982
- Au 4K 81 A.623
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 (weitere Fundstellen: KirchE 19, 285 f.)

 

 

Zum Sachverhalt:

1.

Die Kläger, die etwa 150 m entfernt von der kath. Stadtpfarrkirche in N. wohnen, fühlen sich durch das nächtliche Stundenschlagen der Turmuhr belästigt. Sie wandten sich daher zunächst an das Stadtpfarramt mit der Bitte, das Schlagwerk der Turmuhr zur Nachtzeit — etwa von 21.00 Uhr bis 7.00 Uhr — abzustellen. Nachdem dieser Bitte nicht stattgegeben wurde, stellten die Kläger beim Ordnungsamt der Stadt N. den Antrag, den Betrieb des Schlagwerks der Turmuhr der Stadtpfarrkirche zwischen 22.00 und 6.00 Uhr zu untersagen. Die Stadt versuchte zunächst, zwischen den Klägern und dem Kath. Stadtpfarramt eine einvernehmliche Regelung der Angelegenheit herbeizuführen und schaltete auch die Bischöfliche Finanzkammer sowie die Regierung von Schwaben in die Verhandlungen ein. Sie ließ ferner an Ort und Stelle Schallmessungen durchführen.

2.

Mit dem angefochtenen Bescheid lehnte die Stadt den Antrag der Kläger auf Erlaß einer immissionsschutzrechtlichen Anordnung ab.

3.

Widerspruch und Klage blieben ebenfalls erfolglos.

 

Aus den Gründen:

4.

1. Die Klage ist zulässig.

5.

Die Kläger begehren Verpflichtung der Beklagten, durch immissionsschutzrechtliche Anordnung den Stundenschlag der Kirchturmuhr der Stadtpfarrkirche während der Nachtzeit (22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) zu untersagen. Die insoweit statthafte Verpflichtungsklage wurde frist- und formgerecht bei dem sachlich und örtlich zuständigen Verwaltungsgericht erhoben (§§ 40, 42 Abs. 1, 52 Nr. 3, 74, 81, 82 VwGO). Die Kläger sind auch klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO. Zwar stellt das Bundesimmissionsschutzgesetz in § 24 das Einschreiten gegen Betreiber nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen in das Ermessen der zuständigen Behörde; doch ergibt sich aus der heute allgemein anerkannten nachbarschützenden Funktion des Bundesimmissionsschutzgesetzes, daß den Klägern jedenfalls ein Rechtsanspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde zusteht. Die Kläger machen geltend, durch die ablehnenden Behördenentscheidungen in ihren geschützten Nachbarrechten verletzt zu sein. Das nach § 68 VwGO vorgeschriebene Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) wurde ordnungsgemäß und für die Kläger erfolglos durchgeführt.

6.

II. Die Klage ist jedoch unbegründet.

7.

Der ablehnende Bescheid der Beklagten ... erweist sich jedenfalls in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Regierung von Schwaben ... als rechts- und ermessensfehlerfrei. Die Kläger werden daher durch die Ablehnung ihres Antrages auf behördliches Einschreiten gegen den nächtlichen Stundenschlag der betreffenden Kirchturmuhr nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

8.

1. Das Schlagwerk einer Kirchturmuhr fällt als „sonstige ortsfeste Einrichtung" unter den Begriff der „Anlage" im Sinne der §§ 2 und 3 Abs. 5 des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) vom 15. 3. 1974 (BGBl. I S. 721).

9.

Da es aber nicht zu den nach § 4 BImSchG in Verbindung mit der 4. Verordnung zur Durchführung des BImSchG (4. BImSchV) genehmigungsbedürftigen Anlagen zählt, finden darauf die Vorschriften über nicht genehmigungsbedürftige Anlagen (§§ 22 ff. BImSchG) Anwendung. Da der Betrieb einer Kirchturmuhr — anders als das Läuten der Kirchenglocken aus liturgischen Gründen — nicht gottesdienstlichen Zwecken dient, sondern unstreitig eine profane Nebenaufgabe der Kirche darstellt, wird die Anwendung der immissionsschutzrechtlichen Bestimmungen insoweit durch das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG, Art. 107 Abs. 2 BV) weder eingeschränkt noch sonst berührt.

10.

Nach § 22 Abs. 1 BImSchG sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen — unter anderem — so zu errichten und zu betreiben, daß schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind. Unter schädlichen Umwelteinwirkungen versteht das Gesetz (vgl. § 3 Abs. 1 BImSchG) „Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen". Nach § 24 BImSchG können die zuständigen Immissionsschutzbehörden die zur Durchführung des § 22 und der auf das BImSchG gestützten Rechtsverordnungen erforderlichen Anordnungen für den Einzelfall treffen. Das Einschreiten gegen die Betreiber nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen ist nach dem Wortlaut des Gesetzes in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde gestellt.

11.

2. Das Gericht ist — obwohl es einer abschließenden Entscheidung über diese Frage aus den unter 3. dargelegten Gründen nicht bedarf— der Auffassung, daß es im Streitfalle schon an den gesetzlichen Voraussetzungen eines behördlichen Einschreitens nach § 22, 24 BImSchG fehlt. Denn von der streitgegenständlichen Kirchturmuhr gehen keine schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG aus. Das Vorbringen der Kläger, die sich durch den nächtlichen Stundenschlag der Kirchturmuhr „belästigt fühlen", wäre immissionsschutzrechtlich nur dann relevant, wenn es sich bei den beanstandeten Beeinträchtigungen um „erhebliche Belästigungen" handelte. Die vom Gesetzgeber vorgenommene Einschränkung, den Menschen aufgrund des BImSchG nicht vor jeder Beeinträchtigung schlechthin, sondern nur vor Gefahren, erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen schützen zu wollen (vgl. § 1, 3 Abs. 1 BImSchG), ist — wie sich aus der amtlichen Begründung zu§ 3 ergibt — „das Ergebnis einer Güterabwägung, auf die in einem hochindustrialisierten und dichtbesiedelten Lande nicht verzichtet werden kann". Der hiernach erforderliche Interessenausgleich kann sich bei der Beurteilung der Erheblichkeit von Einwirkungen nur daran ausrichten, was der Allgemeinheit und dem einzelnen an Beeinträchtigung ihrer Rechtsgüter billigerweise zugemutet werden kann (vgl. Landmann—Rohmer, GewO, 13. Aufl. Bd. III „Umweltrecht", Rd.Nr. 14 zu § 3 BImSchG). Demgemäß werden Nachteile und Belästigungen nur dann als „erheblich" angesehen, wenn sie durch Stärke, Intensität oder Dauer das übliche und zumutbare Maß überschreiten (vgl. Ule, BImSchG, Rd.Nr. 4 zu § 3; Landmann-Rohmer a.a.O.). Auch das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Rechtsprechung den Gedanken der Zumutbarkeit stark betont und in diesem Zusammenhang auch auf die Situationsgebundenheit eines Grundstücks abgestellt. In seinem Urteil vom 12.12.1975 (GewArch 1976, 99) hat es zur Frage der Erheblichkeit von Belästigungen folgendes ausgeführt:

"...Als nicht ‚erheblich’ im Sinne des § 5 Nr. 1 BImSchG sind Belästigungen anzusehen, die der Umgebung zuzumuten sind. Diese Zumutbarkeit ist nicht nur dort gegeben. wo sich die Belästigungen unterhalb der Schwelle haften, die die TA-Lärm als Grenze bezeichnet. Vielmehr liegen ‚erhebliche Belästigungen im Sinne des § 5 Nr. 1 BImSchG auch dann nicht vor, wenn sich die Eigentümer oder sonstige Benutzer der die Lärmquelle umgebenden Grundstücke die Belästigungen aus eigentumsrechtlichen Gründen zumuten lassen müssen. Das ist in der Reichweite eines - durch Art. 14 Abs. 1 GG begründeten - Bestandsschutzes der Fall. Der Bestandsschutz, den ein Grundstück genießt, ist Bestandteil der ‚Situation‘, in die dieses Grundstück und seine Umgebung hineingestellt sind; sie erweist sich nach der einen Seite als Situations-Berechtigung, nach der anderen hingegen als Situations-Belastung. Soweit die Situations-Belastung reicht, sind etwaige Belästigungen eigentumsrechtlich gerechtfertigt. Sie liegen — aus diesem Grund — innerhalb des Zumutbaren und sind deshalb nach § 5 Nr. 1 BImSchG nicht 'erheblich'."

12.

Die Kläger und der Vertreter des öffentlichen Interesses wollen die Unzumutbarkeit der streitgegenständlichen Geräuscheinwirkung allein aus dem Umstand herleiten, daß die einzelnen Schläge der Kirchturmuhr nach dem unbestrittenen Ergebnis der Schallmessungen der Beklagten einen Pegelwert von ca. 68 dB(A) erreichen. Es trifft zu, daß damit der nach Ziffer 2.321 d) der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TALärm) in einem allgemeinen Wohngebiet — ein solches liegt hier unstreitig vor — einzuhaltende Nachtrichtwert von 40 dB(A) erheblich überschritten wird. Zwar würde dies nicht für den nach Ziffer 2.422.5 TALärm zu ermittelnden Beurteilungspegel gelten, weil die gesamte Einwirkdauer der Turmuhrschläge mit ca. 2,5 Minuten im Verhältnis zur achtstündigen Nachtzeit außerordentlich kurz ist. Jedoch gilt der Immissionsrichtwert für die Nachtzeit gemäß Ziffer 2.422.6 TALärm auch dann als überschritten; wenn — wie hier — einzelne Meßwerte den Immissionsrichtwert um mehr als 20 db(A) überschreiten.

13.

Mag auch grundsätzlich davon auszugehen sein, daß die in der TALärm und anderen Lärmschutzrichtlinien festgesetzten Richtwerte die Grenze der jeweils noch zumutbaren Geräuscheinwirkung bezeichnen und darüber hinausgehende Immissionen in der Regel unzumutbar sind, so liegen im Streitfalle doch erhebliche Besonderheiten vor, die einer schematischen, unbesehenen Anwendung der — vorrangig auf Geräuschemissionen gewerblicher Anlagen zugeschnittenen — Vorschriften der TALärm entgegenstehen. Zunächst darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Schläge einer Kirchturmuhr ihrer Art nach (vgl. § 3 Abs. 1 BImSchG) kein typisches Störgeräusch — wie Gewerbe-, Bau-, Verkehrs- oder Fluglärm — darstellen, sondern daß es sich dabei um den Klang einer technischen Einrichtung zum Zweck der öffentlichen Zeitangabe handelt. Entsprechend dem objektiven Charakter des Geräusches als eines Schallzeichens zum Zwecke öffentlicher Information wird der Stundenschlag einer Kirchturmuhr auch subjektiv überwiegend nicht als störend empfunden, wofür ausschlaggebend sein dürfte, daß der Glockenschlag einer Kirchturmuhr ein nicht unangenehmes, sich in regelmäßigen Zeitabständen wiederholendes und daher vertrautes Geräusch ist, an das sich das menschliche Ohr in besonders hohem Maße gewöhnt; auch der Vertreter des öffentlichen Interesses hat in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, daß hinsichtlich der Zumutbarkeit dieser Geräuscheinwirkung psychologische und weltanschauliche, also subjektive, vom objektiven Meßwert unabhängige Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle spielten. Schließlich spricht auch die Tatsache, daß im Bezirk des erkennenden Gerichts Beschwerden wegen des nächtlichen Stundenschlags von Kirchturmuhren noch niemals zum Gegenstand gerichtlicher Klageverfahren gemacht wurden — auch nicht seit Inkrafttreten des Bundesimmissionsschutzgesetzes am 1. 4. 1974 —, nachhaltig dafür, daß derartige Geräusche vom normalen, nicht überempfindlichen Durchschnittsbürger schon ihrer Art nach nicht als „Lärmbelästigung" empfunden werden. Selbstverständlich hängt die weitgehende Gewöhnung der Bevölkerung an das Schlagen von Kirchturmuhren — auch zur Nachtzeit — mit der allgemeinen Verbreitung und Ortsüblichkeit dieser Einrichtungen zusammen. Der Betrieb von Kirchturmuhren mit akustischem Stundenschlag hat sich seit dem 14. Jahrhundert im gesamten christlichen Europa — und darüber hinaus — verbreitet, so daß diese Einrichtungen auf einer langen, alteingewurzelten Tradition beruhen. Auch im konkreten Streitfall besteht die Kirche mit dem von den Klägern beanstandeten Schlagwerk bereits seit 1955, ohne daß bisher seitens der Anwohner Beschwerden wegen Störung der Nachtruhe laut geworden wären. Die Stadtpfarrkirche mit ihrem Zubehör prägt somit seit mehr als 25 Jahren die örtlichen Gegebenheiten in ihrer Umgebung. Zur örtlichen Situation gehört auch der von der Kirchturmuhr regelmäßig ausgehende Stundenschlag. Den Klägern, die sich freiwillig in dieser örtlichen Umgebung niederließen, ist es zuzumuten, diese Geräusche als ortsüblich hinzunehmen, zumal andere Anwohner bisher noch keinen Anlaß sahen, wegen der Glockenschläge der Kirchturmuhr Beschwerde zu führen.

14.

Nach alldem ist das Gericht der Auffassung, daß sich die von den Klägern geltend gemachten Belästigungen — trotz rechnerischer Überschreitung des Nachtrichtwertes der TALärm — in einem ortsüblichen und daher zumutbaren Rahmen halten und deshalb nicht erheblich im Sinne von § 3 Abs. 1 BImSchG sind.

15.

3. Selbst wenn man dieser Auffassung nicht folgen und das Ausmaß der Geräuschbelästigung im Hinblick auf den festgestellten Meßwert als erheblich ansehen wollte, könnte die Klage dennoch keinen Erfolg haben, weil die Ablehnung des Antrages der Kläger auf behördliches Einschreiten nach § 24 BImSchG nicht wegen fehlerhafter Ermessensausübung beanstandet werden kann (§ 114 VwGO). Wie bereits oben (vgl. II 1) dargelegt, sind Maßnahmen nach § 24 BImSchG — wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen— nicht zwingend vorgeschrieben, sondern in das pflichtgemäße Ermessen der Immissionsschutzbehörde (d. i. in Bayern die Kreisverwaltungsbehörde gemäß Art. 2 Abs. 1 BayImSchG) gestellt. Ein Fall der sogenannten Ermessensreduzierung auf Null — in dem als einzige ermessensfehlerfreie Entscheidung nur noch die Antragstattgabe in Betracht käme — liegt im Hinblick auf Art und Intensität der Geräuscheinwirkung sowie auf die geringe Zahl der Betroffenen offensichtlich nicht vor. Bei der im übrigen vorzunehmenden Nachprüfung der Ausübung des behördlichen Ermessens war auch hinsichtlich der angestellten Ermessenserwägungen auf den Widerspruchsbescheid der Regierung von Schwaben abzustellen. Gegenstand der Klage ist gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO — dies gilt auch für die Versagungsgegenklage (vgl. Eyermann-Fröhler, VwGO, 8. Aufl., Rd.Nr. 8 zu § 79) — grundsätzlich der Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Da es sich bei dem hier zu beurteilenden Verwaltungsakt um eine Entscheidung der Beklagten in deren übertragenem Wirkungskreis handelt, war die Regierung als Widerspruchsbehörde — anders als bei Verwaltungsakten kommunaler Behörden im eigenen Wirkungskreis — befugt, auch die Ermessensseite der Entscheidung in vollem Umfang nachzuprüfen und gegebenenfalls Ermessenserwägungen der Ausgangsbehörde durch eigene Ermessensüberlegungen zu ersetzen bzw. zu ergänzen (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO in. Verb. mit Art. 119 Nr. 2 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern); die im Bereich der Fachaufsicht zu beachtenden Beschränkungen für Eingriffe in das Verwaltungsermessen der Gemeinden (Art. 109 Abs. 2 Satz 2 GO) gelten im Widerspruchsverfahren nach ausdrücklicher Bestimmung in Art. 119 Nr. 2 Satz 2 GO nicht. Selbst wenn einzelne Überlegungen in der Begründung des Erstbescheides der Beklagten unter dem Gesichtspunkt fehlerfreier Ermessensausübung Bedenken begegnen sollten — was insbesondere auf den angestellten Vergleich zwischen Lautstärke des Glockenschlags und Verkehrslärm bei Tag zutrifft—, ist dies somit rechtlich bedeutungslos, wenn nur der ablehnende Bescheid unter Berücksichtigung der von der Widerspruchsbehörde berichtigten und ergänzten Begründung ermessensfehlerfrei erscheint. Dies ist der Fall.

16.

a) In sachgerechter, nicht zu beanstandender Weise hat die Widerspruchsbehörde sinngemäß darauf abgestellt, daß der Stundenschlag von Kirchturmuhren — mag die „Service-Funktion" dieser öffentlichen Zeitangabe heute auch an praktischer Bedeutung verloren haben — dennoch eine geschichtlich gewachsene, zum Bestandteil der sozialen Ordnung gewordene Tradition darstelle, an der weite Bevölkerungsschichten festhalten wollten und deren Abschaffung nicht von einer verschwindend geringen Minderheit sich belästigt fühlender Personen gefordert werden könne. Die Widerspruchsbehörde hat damit zutreffend dargelegt, daß ein öffentliches Interesse am Stundenschlag von Kirchturmuhren während der Nachtzeit auch unter den heutigen Gegebenheiten noch zu bejahen ist, wobei sich die praktische Bedeutung der akustischen Zeitangabe gegenüber früheren Verhältnissen zwar erheblich verringert hat, aber keineswegs völlig entfallen ist. Die Auffassung der Klägerseite und des Vertreters des öffentl. Interesses über die völlige Funktionslosigkeit des nächtlichen Stundenschlags von Kirchturmuhren kann demgegenüber nicht geteilt werden. Insbesondere für Personen, die in ihrer optischen Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt sind, ist diese Form der akustischen Zeitangabe nach wie vor von praktischem Nutzen. Dies wird im vorliegenden Streitfall konkret bestätigt durch die Äußerung einer blinden Nachbarin der Stadtpfarrkirche; die Nachbarin betonte gegenüber der Presse die Notwendigkeit des Glockenschlags wie folgt: Da sie nicht sehen könne, sei sie sehr dankbar, wenn die Turmuhr schlage, weil sie dann wisse, wie spät es sei. … Im übrigen hat auch der Vertreter des öffentlichen Interesses eingeräumt, daß der Glockenschlag von Kirchturmuhren bei Tage zur „Stadtlandschaft", d.h. zum „Tongefüge eines Gemeinwesens" gehöre. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum für die Nachtzeit grundsätzlich etwas anderes gelten sollte, daß eine Stadt zur Nachtzeit womöglich einen völlig ausgestorbenen Eindruck machen müsse und ihr „Tongefüge" dann allenfalls durch Verkehrsgeräusche und sonstigen Lärm bestimmt werden dürfe.

17.

b) Ermessensfehlerfrei haben die mit der Angelegenheit befaßten Verwaltungsbehörden ein Einschreiten nach § 24 BImSchG ferner deshalb abgelehnt, weil es den Klägern zumutbar sei, ihre nachbarlichen Rechte — gestützt auf § 906 BGB — im Zivilrechtsweg unmittelbar gegenüber der Beigeladenen geltend zumachen. In der obergerichtlichen Rechtsprechung, auf die auch der Vertreter des öffentlichen Interesses hingewiesen hat, ist anerkannt, daß ein Anspruch auf behördliches Einschreiten nicht besteht, wenn Nachbarn die Möglichkeit haben, Unterlassungsansprüche gegenüber einem Störer unmittelbar durchzusetzen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 25. 1. 1967, DVBl. S. 546; BVerwG Urteil vom 25.2.1969, DVBl. S. 586; OVG Lüneburg Beschluß v. 21.5.1976, DVBl. S. 719). In der neuesten dieser Entscheidungen, im Beschluß des OVG Lüneburg vom 21. 5. 1976 — der Fall betraf Lärmbelästigungen seitens eines baurechtlich nicht genehmigten Sportplatzes —‚ wird hierzu folgendes ausgeführt:

"Im vorliegenden Verfahren ist entscheidend, ob die Antragsteller auf das Einschreiten einer Behörde einen Rechtsanspruch haben, solange sie ihre Ansprüche unmittelbar gegen diejenigen geltend machen können, denen sie eine Beeinträchtigung ihrer Rechte vorwerfen. Diese Möglichkeit beeinflusst den Ermessensspielraum, der der Bauaufsichtsbehörde bei ihrer Entscheidung über ein etwaiges Einschreiten gegen den Störer zusteht. … Der Senat hat bereits früher (vgl. Urteil vom 10. 5. 1963 — IOVGA 186/62—, BRS 14, 231 = DÖV 1963, 769 m.w.N.) ausgesprochen, daß in Fällen dieser Art keine Pflicht zum Einschreiten besteht. Es kann auch nicht der Sinn des öffentlichen Baurechts sein, daß Nachbarn, die Unterlassungsansprüche direkt gegen den Störer durchsetzen können, von der Behörde die Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes verlangen können, zumal damit ohne Not ein Dritter, und zwar der Staat, in einen Nachbarsstreit hineingezogen würde, der unter den Betroffenen allein ausgetragen werden kann."

18.

Dem ist beizupffichten. Der zitierten Rechtsprechung liegt der Gedanke zugrunde, daß die Behörden auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung grundsätzlich öffentliche Interessen, also Interessen der Allgemeinheit, nicht aber Individualinteressen privater Beteiligter wahrzunehmen haben. Zwar wird der Schutz wichtiger individueller Rechtsgüter sehr oft zugleich auch im öffentlichen Interesse geboten sein; dies ist jedoch dann nicht oder nur in wesentlich geringerem Maße der Fall, wenn der Einzelne — wie gerade in nachbarrechtlichen Streitigkeiten — seine Rechte auf bürgerlich-rechtlicher Ebene hinreichend wahren kann. Vor allem erscheint die Ablehnung behördlicher Maßnahmen aber dann gerechtfertigt, wenn — wie hier — dem Individualinteresse eines einzelnen oder ganz weniger Betroffener gegenläufige öffentliche Interessen gegenüberstehen. Die Behörden haben somit keinesfalls ermessensfehlerhaft gehandelt, wenn sie die Kläger bezüglich ihrer nachbarlichen Einwendungen gegen eine herkömmliche, vom Konsens der weitaus überwiegenden Bevölkerungsmehrheit getragene Einrichtung auf den Zivilrechtsweg verwiesen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß die Kläger im Widerspruchsverfahren eine von 9 weiteren Nachbarn unterzeichnete Erklärung ... vorgelegt haben, wonach sich diese dem Antrag der Kläger an das Ordnungsamt der Beklagten anschlossen. Diese zusätzliche Erklärung weiterer Nachbarn erforderte weder eine abweichende Ermessensentscheidung der Widerspruchsbehörde noch ein Wiederaufrollen der gesamten Sachprüfung, weil die Nachbarn zum Teil ausdrücklich erklärten, es handle sich nicht um einen „Antrag im Sinne des Verwaltungsverfahrens- oder Verwaltungsgerichtsgesetzes", und im übrigen Intensität und Auswirkungen der angeblichen Lärmbelästigungen mit keinem Wort konkret dargelegt haben. Ein eigener, auf eine Sachprüfung durch die Behörde gerichteter Beschwerdewille kann dieser Nachbarerklärung somit nicht beigemessen werden; es handelt sich vielmehr um eine reine Gefälligkeits- und Solidaritätserklärung.

19.

c) Im Rahmen der nach § 24 BImSchG zu treffenden Ermessensentscheidung ohne Bedeutung ist die landesrechtliche Verbotsnorm des Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 BayImSchG, auf die die Kläger und der Vertreter des öffentlichen Interesses sich im Verfahren wiederholt berufen haben. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese Vorschrift — wonach es verboten ist, „mit Hilfe von Geräten Schallzeichen zu geben" — entsprechend ihrem weitgefaßten Wortlaut auf den Glockenschlag einer Kirchturmuhr anwendbar ist oder ob derartige öffentlichen Zwecken dienende Einrichtungen von der Vorschrift ihrem Sinn nach nicht betroffen werden sollten (vgl. die Ausnahmebestimmung in Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 BayImSchG). Denn eine Übertretung dieser Bestimmung könnte als Ordnungswidrigkeit gemäß Art. 18 Abs. 2 Nr. 3 BayImSchG zwar die Verhängung einer Geldbuße zur Folge haben; außenstehenden Dritten wie den Klägern stünde insoweit aber keinerlei geschützte Rechtsposition zu. Zu denken wäre allenfalls an ein Einschreiten der Beklagten als Sicherheitsbehörde zur Unterbindung ordnungswidrigen Handelns gemäß Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG in Verb. mit Art. 13 Abs. 1 Nr. 1, 18 Abs. 2 Nr.3 BayImSchG. Art. 7 Abs. 2 LStVG stellt aber nur eine subsidiäre Rechtsgrundlage für ein behördliches Einschreiten dar und wird hier durch § 24 Satz 1 BImSchG verdrängt. Im übrigen würde sich auch im Rahmen des Art. 13 Abs. 1 BayImSchG unter dem Gesichtspunkt der „Störung anderer" die Frage nach der Erheblichkeit der Geräuscheinwirkung ergeben, und bezüglich eines Einschreitens nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG würde ebenso wie bei § 24 BImSchG der Grundsatz des pflichtgemäßen Ermessens gelten (vgl. Bengl/Berner/Emmerig, LStVG, 4. Aufl., Rd.Nr. 3d zu Art. 7). Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 BayImSchG könnte also selbst im Falle seiner Anwendbarkeit auf eine Kirchturmuhr für die nach § 24 Satz 1 BImSchG zu treffende Ermessensentscheidung nicht relevant sein.

20.

Die Klage erwies sich somit als unbegründet und war daher abzuweisen.