Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss vom 13.8.1997
- 3 M 17/97
-

(weitere Fundstellen: NJW 1997, 2536 f.)

Tatbestand

1.

Die Kl. beanspruchten – aus ihrem Elternrecht (Art. 611 GG) – vorläufigen Rechtsschutz gegen die vom bekl. Ministerium durch Runderlaß vom 5. 11. 1996 für die Zeit bis 1. 8. 1998 (Beginn des Schuljahres 1998/99) getroffene Übergangsregelung vor Inkraftsetzung der Rechtschreibreform an den Schulen in Schleswig-Holstein, wie im deutschen Sprachraum generell beabsichtigt. Am 12. 2. 1997 haben die Kl. das VG Schleswig angerufen, mit dem Ziel der Aufhebung des Runderlasses vom 5. 11. 1996. Hilfsweise verlangen sie Unterlassung, ihre Kinder nach Maßgabe der Rechtschreibreform zu unterrichten (9 A 53/97—SchlH VG). Über diese Klage ist bislang nicht entschieden. Am 26. 2. 1997 haben beide Kl. beim VG Schleswig vorläufigen Rechtsschutz beansprucht. Ihre Anträge, dem Bekl. Im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufzugeben, seinen Runderlaß vom 5. 11.1996 insoweit einstweilen bis zum Abschluß des Klageverfahrens aufzuheben, als mit der Übergangsregelung bis zum 31. 7. 1998 die für den 1. 8. 1998 geplante Umsetzung der amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung so den Schulen in Schleswig-Holstein schon jetzt umgesetzt werde, hilfsweise, anzuweisen, für die Dauer des Klageverfahrens einen Unterricht in der neuen Schreibweise ihren Kindern gegenüber zu unterlassen, sind vom VG abgelehnt worden.

2.

Die Beschwerde der Kl. gegen den Beschluß des VG wurde zurückgewiesen.

Aus den Gründen:

3.

Im Hinblick auf den Eilbedarf der Entscheidung sieht der Senat davon ab, erst auf mündliche Verhandlung hin zu entscheiden (§§ 123 IV, 101 I VwGO). Die Bet. haben sich zu den hier zu beantwortenden Rechtsfragen zumindest in Ansätzen bereits geäußert. Die Überlegungen des Senats knüpfen daran an. Sie bis ins Detail vorab zur Diskussion zu stellen, ist im nur summarischen Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz weder erforderlich noch zweckmäßig. Der Anspruch der Bet. auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) bleibt auch so gewahrt.

4.

Die – vom Senat zugelassene – Beschwerde ist zulässig (§§ 146 I/IV/VI 2,124 a II 4 VwGO), aber unbegründet. Der angefochtene Beschluß des VG behält im Ergebnis Bestand. Den Kl. steht kein vorläufiger Rechtsschutz gegen „die Rechtschreibreform" zu.

5.

1. Nachdem das bekl. Land im Beschwerdeverfahren klargestellt hat, eine gesetzliche Übernahme der bislang durch den Runderlaß vom 5. 11. 1996 (Verwaltungsvorschriften) eingeführten Rechtschreibreform sei nicht beabsichtigt, scheidet der vom Senat im Beschluß über die Beschwerde-Zulassung erwogene vorläufige Rechtsschutz im Normenkontrollverfahren nach § 47 VI VwGO aus. Was verbleibt ist – da es hier nicht um die Vollzugsvoraussetzung eines Verwaltungsakts geht (§§ 80, 80 a, 123 V VwGO) – allein die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 123 I VwGO.

6.

Soweit die Kl. eine einstweilige Anordnung auf Aufhebung des Runderlasses vom 5. 11. 1996 über die vorläufige Umsetzung der Rechtschreibreform an den Schulen in Schleswig-Holstein (Hauptantrag) auf „Unterlassung" von Rechtschreibreform-Unterricht in Schleswig-Holstein (Hilfsantrag 1) und in der Klasse ihrer Kinder überhaupt (Hilfsantrag 2) beanspruchen, ist dies unzulässig. Insoweit fehlt ihnen die Antragsbefugnis. Wie im Klageverfahren steht ihnen auch im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz lediglich zu, eigene Rechte geltend zu machen, und keine Rechte anderer. Dies ergibt § 42 II 1 VwGO für Klagen auf Aufhebung und Vornahme von Verwaltungsakten. Es gilt entsprechend für Klagen und Anträge auf einstweilige Anordnung, die – wie hier – eine andere Leistung als einen Verwaltungsakt betreffen, nämlich die Rücknahme von Verwaltungsvorschriften (Runderlaß) oder die „Unterlassung" von Rechtschreibreform-Unterricht (vgl. Kopp, VwGO, 10. Aufl. [1994], § 42 Rdnr. 38 und § 123 Rdnr. 23; Wahl/Schütz, in: Schoch u. a., VwGO, § 42 II Rdnrn. 33 f.; Schoch, in: Schoch u. a., § 123 Rdnr. 107 – jeweils m. w. Nachw.). Aus dem Schulverhältnis ihrer Kinder (§ 31 II/1V SchlHSchulG) und aus ihrem verfassungsrechtlich verbürgten Elternrecht (Art. 6 II 1 GG) kann den Kl. ein Anspruch auf Unterlassung bzw. Erteilung von Rechtschreibunterricht nur ihren Kindern gegenüber zustehen, und nicht allgemein. Einen Antrag auf Unterlassung von Rechtschreibreform-Unterricht nur gegenüber ihren Kindern haben die Kl. im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zwar nicht ausdrücklich gestellt. Er ist aber in ihrem wörtlich weitergehenden Hilfsantrag 2 enthalten. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Hilfsantrag der Kl. im Klageverfahren vor dem VG. Dort beschränken sie den Anspruch ausdrücklich auf ihre Söhne. Wenn die Kl. aber im Hauptsacheverfahren einen derart eingeschränkten Antrag ausdrücklich stellen, ist unter Berücksichtigung von § 88 VwGO davon auszugehen, daß ein dahingehender Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch im Hilfsantrag 2 enthalten ist. Nur insoweit ist das Begehren der Kl. zulässig.

7.

Auf eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache zielt dies entgegen der Auffassung des bekl. Landes nicht. Verbleibendes Anspruchsziel der Kl. ist wörtlich ein Unterlassen von Rechtschreibunterricht gegenüber ihren Kindern. Sinngemäß (§ 88 VwGO) verlangen sie damit eine Leistung durch positives Tun, nämlich Rechtschreibunterricht in der bisherigen Schreibweise, und kein Unterlassen. Denn das hieße einen Deutschunterricht ohne Orthographie überhaupt. Darum geht es den Kl. ersichtlich nicht.

8.

Mit ihrem sinngemäßen Anordnungsantrag auf einstweilige, nämlich für die durch Erlaß vorgezogene Übergangszeit bis 31. 7. 1998, Weiter-Unterrichtung ihrer Kinder in bisheriger, statt womöglich künftiger Schreibweise der deutschen Sprache erstreben die Kl. nichts Endgültiges. Vielmehr geht es ihnen um die nur vorläufige Beibehaltung der bisherigen Unterrichtspraxis gegenüber ihren Kindern. Und genau dafür stellt § 123 I 1 VwGO die Rechtsschutzform der sogenannten Sicherungsanordnung zur Verfügung.

9.

2. Der Antrag auf eine derartige einstweilige Anordnung ist jedoch unbegründet. Das gem. § 123 I 1 VwGO zu sichernde Recht oder der nach Absatz 3 der Vorschrift i. V. mit § 920 ZPO erforderliche Anordnungsanspruch bestehen nach derzeitigem Erkenntnisstand bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht.

10.

Aus dem Schulverhältnis ihrer Kinder (§ 31 SchlHSchulG) und aus ihrem durch die staatliche Schulaufsicht relativierten (Art. 7 I GG) Elternrecht (Art. 6 II GG) haben die Kl. Anspruch darauf, daß ihren Kindern an der für sie zuständigen Domschule Lübeck (Grundschule) Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten (§ 11 I SchlHSchulG) vermittelt werden, um die Bildungs- und Erziehungsziele des § 4 SchlHSchulG zu erreichen. Daß dazu Lesen und Schreiben der deutschen Sprache gehören, versteht sich von selbst. Ebenso klar ist, daß eine künftig (zum 1. 8. 1998) zu erwartende neue Schreibweise die derzeitige deutsche Rechtschreibung – noch – nicht prägt. Der staatliche Schulauftrag ist indes darauf gerichtet, Schülerinnen und Schüler auf ein leistungsorientiertes Leben vorzubereiten, für sich, familiär, für Staat und Gesellschaft (§ 4 I/III SchlHSchulG). Dieser Zukunfts-Perspektive des Schulauftrags entspricht auch ein an künftiger Rechtschreibung orientierter Deutschunterricht, sofern es sich denn um die in absehbarer Zeit „geltende" neue Rechtschreibung handelt.

11.

Ob der Anspruch der Eltern auf korrekten Rechtschreib-Unterricht für ihre Kinder in solcher Lage auf der Grundlage gegenwärtiger oder künftiger oder beider Schreibweisen zu erfüllen ist, ergibt das Landesschulgesetz nicht. Es steckt lediglich den Rahmen dafür ab. Konkretisiert wird die danach zu erbringende Unterrichtsleistung hier durch den Runderlaß vom 5. 11. 1996. Dieser Erlaß enthält damit (rechts-)normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften. Solche Verwaltungsvorschriften sind nur begrenzt justitiabel, nämlich für Verwaltungsgerichte verbindlich, sofern gesetzlich gezogene Grenzen gewahrt bleiben (vgl. BVerwGE 72, 300 [320] = NVwZ 1986, 208; Kopp, § 47 Rdnr. 15 und § 114 Rdnr. 42 m. w. Nachw.; Gerhardt, in: Schoch u. a., § 114 Rdnrn. 63ff. m. w. Nachw.). Dies ist der Fall, soweit aufgrund der hier im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz (Eilverfahren) nur summarisch möglichen Prüfung erkennbar. Für die schulische Einführung einer künftig geltenden Schreibweise der deutschen Sprache bedarf es einer Änderung des Landesschulgesetzes deswegen nicht, weil hierdurch nicht etwa der Inhalt des Deutschunterrichts – gestaltend – verändert (zum Gesetzeserfordernis in solchen Fällen B VerfGE 34, 165 [192] = NJW 1973, 133; BVerfGE 45, 400 [417 ff.] = NJW 1977, 1723; BVerfGE 47 [46, 58] = NJW 1978, 807), sondern einer auf anderer Grundlage mit Wirkung für die Zukunft normierten Sprachänderung angepaßt wird. Schule ändert so nicht die Orthographie, sondern paßt sich allgemein zu erwartenden Rechtschreibänderungen an.

12.

Die Rechtschreibreform zielt nämlich nicht nur auf eine Änderung der Schreibweise im Unterricht und in der Amtssprache. Reformiert wird zum 1. 8. 1998 die Schreibeweise der deutschen Sprache im deutschen Sprachraum überhaupt. Dies ergibt die Wiener Absichtserklärung vom 1. 7. 1996 (BAnz 1996 Rdnr. 205 a) im Vorspann („… zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ..."), in Art. III II 1 (,‚die Kommission wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin") sowie im Vorwort der „amtlichen Regelung". Das Vorwort lautet in Nr. 1:

„Das folgende amtliche Regelwerk mit einem Regelteil und einem Wörterverzeichnis regelt die Rechtschreibung innerhalb derjenigen Institutionen (Schule, Verwaltung), für die der Staat Regelungskompetenz hat. Darüber hinaus hat es zu Sicherung einer einheitlichen Rechtschreibung Vorbildcharakter für alle, die sich an einer allgemein gültigen Rechtschreibung orientieren möchten (d.h. Firmen, speziell Druckereien, Verlage, Redaktionen – aber auch Privatpersonen). …"

13.

Unterzeichnet ist die Wiener Absichtserklärung von bundesdeutscher Seite durch den parlamentarischen Vertreter des Bundesministers des Innern sowie durch den – dazu ermächtigten – Präsidenten der Kultusministerkonferenz. Grundlage seiner Ermächtigung und des Inhalts der Wiener Absichtserklärung waren von bundesdeutscher Seite der Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 30. 11/1. 12. 1995, die Zustimmung der Konferenz der Ministerpräsidenten der Bundesländer vom 5. 3. 1996 und die Kenntnisnahme beider Beschlüsse durch das Bundeskabinett am 17. 3. 1996.

14.

Eines Gesetzes aller Bundesländer und/oder des Bundes bedurfte und bedarf es dazu von bundesdeutscher Seite nicht (a. A. Kopke, Rechtschreibreform und VerfR, 1995, S. 122ff., 202ff.; JZ 1995, 874; NJW 1996, 1081; VG Wiesbaden, NJW 1997, 2399; VG Hannover, NJW 1997, 2538 [in diesem Heft.]). Die Auffassung des Senats stützt sich auf folgende Erwägungen:

15.

Soweit aufgrund der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung erkennbar, beruht Rechtschreibung im deutschen Sprachraum auf keinen Rechtsnormen, sondern auf sprachlichen und damit außerrechtlichen Regeln. Außerrechtliche Normen können wie Naturgesetze für die Betroffenen, hier für Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft, elementare Bedeutung haben. Einer Regelung durch Gesetz bedürfen außerrechtliche Normen grundsätzlich deshalb nicht, weil ihre Geltung auf anderer als auf rechtlicher Grundlage beruht. Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und die im Rechtsstaatsprinzip sowie im Demokratiegebot wurzelnde „Wesentlichkeitstheorie" des BVerfG (BVerfGE 49, 89 [126] = NJW 1979, 359; BVerfGE 57, 295 [320 f.] = NJW 1981, 1774; BVerfGE 58, 257 [268 f .] = NJW 1982, 921= NVwZ 1982, 242 L; BVerfGE 61, 260 [275]; 77, 170 [230 f.] = NJW 1988, 1651;BVerfGE 83, 130 [142]=NJW 1991, 1471 =NVwZ 1991, 663 L = NStZ 1991, 188) erfordern für außerrechtliche Regelungen kein parlamentarisches Gesetz. Sprachliche Normen hängen im deutschen Sprachraum nicht vom Willen – unter Umständen kurzfristig wechselnder – Mehrheiten in Parlamenten ab, sondern – langfristig – von allgemeiner Akzeptanz (ähnlich bereits: BVerfG, NW 1996, 2221 [2222]). Darauf und nicht etwa auf Rechtsverbindlichkeit zielt die hier schon zitierte Wiener Absichtserklärung („Vorbildcharakter") ausdrücklich. Sprache ist wohl auch nicht – positiv – durch parlamentarische Gesetze formbar (zweifelnd insofern: Kissel, NJW 1997, 1097 [1101]). Parlamente können sich allerdings – negativ – gegen Sprach-Reformen wehren und mit ihrer Parlaments-Autorität der für die außerrechtliche Geltung reformierter Sprachnormen erforderlichen Akzeptanz vorbeugen bzw. ihr entgegenwirken.

16.

Bei Konkretisierung des gesetzlichen Schulauftrags aus § 11 1 und 4 SchlHSchulG auf die Rechtschreibreform stellte das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur sinngemäß die — gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbare — positive Prognose, die Rechtschreibreform aus der Wiener Absichtserklärung werde die für eine Sprachgeltung notwendige allgemeine Akzeptanz finden. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist diese Prognose nicht zu beanstanden.

17.

Da die außerrechtlich normierten Rechtschreibreform-Regeln mit durch staatlichen Einfluß geprägt sind, insbesondere den der Kultusministerkonferenz, hängt ihre zu erwartende Akzeptanz maßgebend von der innerstaatlichen und fachlichen Kompetenz dieser Normgeber ab. Sie wäre für eine Reform mathematischer oder physikalischer Regeln fraglos zu verneinen. Eine Rechtschreibreform hingegen wird in Deutschland seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts – im Königreich Hannover, in Württemberg, in Bayern und Preußen (vgl. Kopke, Rechtschreibreform und VerfR, 1995, S. 8 ff. m. w. Nachw.) später im Deutschen Reich nach zwei Orthographiekonferenzen 1876 und 1901 durch Beschluß des Bundesrates vom 18. 12. 1902 (vgl. Kopke, S 30 f. m. w. Nachw.), in der Bundesrepublik Deutschland 1955 durch Beschluß der Kultusministerkonferenz und erneut ab 1984 – traditionell als nach wissenschaftlicher Diskussion letztlich staatliche Aufgabe verstanden. Eine derartige Staatspraxis ist verfassungsrechtlich relevant (vgl. BVerfGE 68, 319 [328 f.] =NJW 1985,2185;BVerfGE 77, 308 [331] = NJW 1988, 1899 = NZA 1988, 355).

18.

Träger dieser staatlichen Aufgabe sind nach Art. 30 GG heute grundsätzlich die Bundesländer, die sich ihr auch gestellt haben. Zwar erfaßt die Rechtschreibreform aus der Wiener Absichtserklärung den deutschen Sprachraum insgesamt und nicht nur den bundesweiten, so daß dafür grundsätzlich die auswärtige Gewalt des Bundes zu beachten ist (Art. 32 I GG). Da jedoch die Länder nach Art. 32 III GG — (sogar) im Rahmen ihrer Gesetzgebungskompetenz – mit Zustimmung des Bundes berechtigt sind, mit auswärtigen Staaten (verbindliche) Verträge abzuschließen, gilt dies entsprechend und erst recht für die hier international vereinbarte (bloße) Wiener Absichtserklärung vom 1. 7. 1996. Die Zustimmung des Bundes zu dieser – nichtvertraglichen – Maßnahme geht aus der förmlichen Kenntnisnahme der Länderabsicht durch die Bundesregierung und aus der anschließenden Unterzeichnung der Wiener Absichtserklärung auch durch den parlamentarischen Vertreter des Bundesministers des Innern hervor.

19.

Eine gegenüber derjenigen der Bundesländer aus Art. 30 und Art. 32 III GG vorrangige Aufgabenkompetenz des Bundes enthält das Grundgesetz für die Normierung von Rechtschreib-Regeln nicht. Eine ungeschriebene Bundeskompetenz „aus der Natur der Sache" käme erst in Betracht, wenn sie zur Wahrung der deutsch-sprachigen Einheit zwingend erforderlich wäre (vgl. zu Regierungssitz, Bundessymbolen und Bundesflagge: BVerfGE 3, 407 [422] = NJW 1954, 1474; zu mit der Vereinigung Deutschlands verbundenen Aufgaben: BVerfGE 84, 133 [148] = NJW 1991, 1667 = NVwZ 1991, 766 L = DtZ 1991, 243 L). Dieses Erfordernis besteht bislang nicht. Soweit ersichtlich, halten die Beteiligten der Wiener Absichtserklärung und alle Bundesländer ausdrücklich daran fest. Dies gilt auch für Hessen, das hieran nicht etwa durch den Beschluß des VG Wiesbaden vom 28. 7. 1997 gehindert wird. Auch wenn dieser Beschluß unanfechtbar werden sollte, müßte in Hessen lediglich bis auf weiteres und zudem nur den Kindern des Ast. jenes Verfahrens gegenüber Rechtschreibreform-Unterricht unterbleiben. Gleiches gilt nach dem Beschluß des VG Hannover vom 7. 8. 1997 für Niedersachsen.

20.

Die innerstaatliche Kompetenz der Länder zur Rechtschreibreform ist ihnen weder seit 1955 noch seit 1984, als die Kultusministerkonferenz das Vorhaben einer Rechtschreibreform erneut aufnahm, bestritten worden. Die Kompetenz könnte ihnen inzwischen – außer auf Verfassungsbeschwerde hin – wohl auch nicht mehr in verfassungsprozessual zulässiger Weise streitig gemacht werden:

Einem abstrakten Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG (Art. 93 I Nr. 2 GG) stünde entgegen, daß die Rechtschreibreform keine Rechtsnormen, sondern – wie ausgeführt – außerrechtliche Normen enthält.

21.

Einem Organstreitverfahren (Art. 93 1 Nr. 1 GG), einem verfassungsrechtlichen (Art. 93 I Nr. 3 GG) und einem – etwa – nicht verfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streit (Art. 93 I Nr. 4 GG) stünde entgegen, daß die dafür jeweils maßgebende Antragsfrist von sechs Monaten seit Bekanntwerden der beanstandeten Maßnahme – sei dies nun die Wiener Absichtserklärung vom 1. 7. 1996, seien es erst die die Rechtschreibreform einführenden ministeriellen Erlasse vom Ende des Jahres 1996 – mittlerweile längst verstrichen ist (§ 64 III – jeweils i. V. mit § 13 Nr. 5, i. V. mit §§ 13, Nr.7, 69 und i. V. mit §§ 13 Nr.8, 71 II BVerfGG).

22.

Da das Reformwerk mit auf einer durchgehend wissenschaftlich begleiteten Diskussion beruht, ist es auch Ausdruck von Fachkompetenz, wie für die Akzeptanz außerrechtlich gesetzter Normen erforderlich.

23.

Die Prognose des bekl. Landes, die Rechtschreibreform werde allgemein Akzeptanz finden, ist gerechtfertigt weiter durch das Reformverfahren. Denn die Reformdiskussion war der Öffentlichkeit zugänglich, insbesondere durch die Veröffentlichung des Internationalen Arbeitskreises 1992, durch die öffentlichen Anhörungen 1993 und durch die Pressemitteilung zur Vorbereitung der 3. Wiener Gespräche im Oktober 1993.

24.

Zweifel an der vom bekl. Land erwarteten allgemeinen Akzeptanz der Rechtschreibreform werden geweckt durch die dagegen geführten Volksinitiativen in mehreren Bundesländern, durch energische Proteste von Berufsgruppen und durch politisch gegenläufige Tendenzen aus der Mitte des Bundestages. Die Vertretbarkeit der positiven Akzeptanz-Prognose des bekl. Landes wird indes durch bloße Zweifel – bei summarischer Prüfung derzeit – noch nicht erschüttert. Dazu gehörte mehr. Wenn allerdings der Bundestag und/oder Landtage durch politische Beschlüsse mit parlamentarischer Autorität gegen die Rechtschreibreform Stellung bezögen, wäre wohl nicht mehr damit zu rechnen, daß sich das Reformwerk gleichwohl noch durchsetzte. Für den Fall etwa wäre es dann kein tauglicher Gegenstand eines korrekten Deutschunterrichts mehr, wie ihn Eltern aus Schulverhältnis und Elternrecht verlangen können.