Oberverwaltungsgericht des Saarlandes
Beschluss vom 13. April 1993
- 2 W 5/93 -

 (weitere Fundstellen: BRS 55 Nr. 189)

 

Leitsätze:

1.

Zum Beurteilungsmaßstab bei Nachbaranträgen auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen behördlicherseits für sofort vollziehbar erklärte Baugenehmigungen.

2.

In den nur auf eine summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage ausgerichteten Antragsverfahren nach den §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 - entsprechend- VwGO oder nach § 123 VwGO ist in aller Regel kein Raum für die inzidente Kontrolle eines Bebauungsplans. Allerdings kann das Gericht in Anbetracht der weitreichenden Folgen einer „vorzeitigen" Ausnutzung einer Baugenehmigung vor offenkundigen oder hinreichend wahrscheinlichen Fehlern einer Planung nicht die Augen verschließen und gleichwohl - gewissermaßen unbesehen - die Gültigkeit der Planung unterstellen.

3.

Auf der Grundlage von § 11 Abs. 2 BauNVO ist die Ausweisung eines Sondergebietes „Büro- und Verwaltungsgebäude" möglich.

4.

Daß ein Bebauungsplan auf der Grundlage eines konkreten Projektentwurfes eines Vorhabenträgers erarbeitet wird, stellt für sich allein nicht einmal ein regelmäßiges Indiz für einen Abwägungsfehler dar (im Anschluß an BVerwG, Beschluß v. 28. 8. 1987, BRS 47 Nr. 3).

 

Zum Sachverhalt:

1.

Der Beigeladenen wurde im Oktober 1992 die Baugenehmigung zur Errichtung eines Verwaltungsgebäudes erteilt. Mit der Genehmigung wurde der 1. Bauabschnitt eines im Endausbau im wesentlichen 7 Türme, einen zentralen Rundbau und eine Tiefgarage für 924 Kraftfahrzeuge umfassenden Verwaltungsgebäudes zugelassen. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans "P-Z.-Straße", der ein Sondergebiet für Büro- und Verwaltungsgebäude ausweist und dessen Festsetzungen auch ansonsten auf das Vorhaben abgestimmt sind. Der Bebauungsplan ist als Änderungsplanung an die Stelle eines Planes aus dem Jahre 1983 getreten, der den betreffenden Bereich als allgemeines Wohngebiet auswies.

2.

Gegen die für sofort vollziehbar erklärte Baugenehmigung erhoben die Antragsteller, Eigentümer von Wohnanwesen „oberhalb" des Baugrundstücks, die bereits im Planaufstellungsverfahren Einwendungen gegen die Planung und das Projekt erhoben hatten, Widerspruch. Ihr Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit der Baugenehmigung blieb in zwei Instanzen erfolglos.

 

Aus den Gründen:

3.

Die gerichtliche Entscheidung in Verfahren nach den §§ 80 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 80 Abs. 5 - entsprechend - VwGO ist auf der Grundlage einer Abwägung der für und wider die Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit streitenden öffentlichen und privaten Interessen zu treffen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Lasten der Antragsteller aus.

4.

Da auch Verfahren der vorliegenden Art der Gewährung von Individualrechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) dienen, kann ein Nachbarantrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit nur Erfolg haben, wenn der Nachbar in die Abwägung eine schützenswerte Rechtsposition einzubringen vermag. Hiervon ausgehend verlangt der Senat in Fällen des behördlicherseits angeordneten Sofortvollzugs, daß nach dem Ergebnis der in dem Antragsverfahren nur möglichen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage die ernstzunehmende Möglichkeit der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte des antragstellenden Nachbarn besteht (vgl. zusammenfassend Beschluß des Senats v. 3. 2. 19921) - 2 W 35/91 -, BauR 1992, 489). Das Kriterium der ernstzunehmenden Möglichkeit beschreibt dabei einen vergleichsweise geringen Grad an Wahrscheinlichkeit der Nachbarrechtsverletzung. Das ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß die auf der Grundlage einer Vollzugsanordnung mögliche (vorläufige) Bauausführung, obwohl- wie hervorzuheben ist - mit dem Risiko späterer Beseitigungsforderungen behaftet, namentlich in Fällen wie dem vorliegenden zu einer Veränderung der Verhältnisse unter nicht unerheblichem Mitteleinsatz führt, die auch im Falle eines Obsiegens des Nachbarn in der Hauptsache nur unter Schwierigkeiten wieder rückgängig zu machen ist, und erweist sich als Konsequenz von § 80 Abs. 1 VwGO, demzufolge die aufschiebende Wirkung eines Nachbarrechtsbehelfs die gesetzliche Regel darstellt (vgl. Beschluß des Senats v. 3. 2. 1992 - 2 W 35/91 - a. a. O., auch zu der von dieser Regel abweichenden gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit von Wohnbaugenehmigungen). Eine in diesem Sinne zu verstehende ernstzunehmende Möglichkeit einer Verletzung von unter Verwaltungsrechtsschutz stehenden Rechten der Antragsteller ist indes vorliegend nicht gegeben.

5.

Insbesondere besteht nach dem Ergebnis der überschlägigen Würdigung der Sach- und Rechtslage kein Grund zu der Annahme, die angefochtene Baugenehmigung verstoße zum Nachteil der Antragsteller gegen Vorschriften des Bauplanungsrechts. Ausgangspunkt der planungsrechtlichen Beurteilung des Vorhabens sind die Festsetzungen des Bebauungsplans. Der Senat sieht keine Veranlassung, diesen Bebauungsplan im vorliegenden Verfahren als unwirksam zu behandeln. Nach seiner ständigen Rechtsprechung ist in den nur auf eine summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage ausgerichteten Antragsverfahren nach den §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 - entsprechend - VwGO oder nach § 123 VwGO in aller Regel kein Raum für eine inzidente Normenkontrolle. Vielmehr ist im Grundsatz von der Gültigkeit der als Rechtsnorm (Satzung) ergangenen planerischen Festsetzungen auszugehen (vgl. in diesem Zusammenhang Beschluß des Senats v. 1. 2. 1991 - 2 W 53/90 -). Dementsprechend hat der Senat in früheren Antragsverfahren Behörden und Bauherren an einer umstrittenen Baumaßnahme entgegenstehenden Satzungsbestimmungen festgehalten und ist Einwendungen, der Bebauungsplan sei ungültig, nicht weiter nachgegangen. Für Nachbaranträge auf Aussetzung der nunmehr gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit von Wohnbaugenehmigungen hat er anknüpfend an diese Rechtsprechung mit Blick auf den „heraufgestuften" Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinsichtlich der Erfolgsaussichten von Rechtsbehelfen in der Hauptsache die Auffassung vertreten, eine Nachbarrechtsverletzung durch Abweichung von planerischen Festsetzungen könne dann nicht als hinreichend wahrscheinlich angesehen werden, wenn die Satzungsregelung nach dem Ergebnis einer überschlägigen Prüfung mit Sicherheit oder aller Voraussicht nach unwirksam ist (vgl. hierzu Beschluß des Senats v. 1. 2. 1991 - 2 W 53/90 -). In Fällen der behördlicherseits angeordneten sofortigen Vollziehung, in denen der Nachbar die Ungültigkeit des Bebauungsplans einwendet, wird entsprechend dem eingangs dargelegten Grundsatz ebenfalls für den Regelfall von der Gültigkeit der Norm auszugehen sein. Allerdings kann das Gericht auch bei derartigen Sachverhalten in Anbetracht der weitreichenden Folgen einer „vorzeitigen" Ausnutzung der Baugenehmigung vor offenkundigen oder hinreichend wahrscheinlichen Fehlern der Planung nicht die Augen verschließen und gleichwohl - gewissermaßen unbesehen - die Gültigkeit des Bebauungsplans unterstellen. Jedoch gibt die „bloße", nicht auszuschließende Möglichkeit, der Plan könnte an einem Rechtsfehler leiden, noch keine Veranlassung, ihn in einem auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gerichteten Verfahren als unwirksam anzusehen.

6.

Eine Verletzung von zwingenden Vorschriften des Bauplanungsrechts kann nicht darin gesehen werden, daß die Stadt S. das Plangebiet als sonstiges Sondergebiet gemäß § 11 Abs. 2 BauNVO – „Sondergebiet für Büro- und Verwaltungsgebäude" - ausgewiesen hat. Auch hierzu hat das VG bereits das Erforderliche ausgeführt. Ergänzend ist zu bemerken, daß das planerische Ziel, im Geltungsbereich der Planänderung ausschließlich Büronutzung zuzulassen und Nutzungen mit einem potentiell stärkeren Störungsgrad auszuschließen, nicht über die Ausweisung einer anderen Gebietsart und Ausnutzung der - hier in Betracht zu ziehenden - Gestaltungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO hätte verwirklicht werden können. Denn die Gestaltungsmöglichkeiten nach § 1 Abs. 5 BauNVO und die nur im Rahmen dieser Bestimmung eröffnete Möglichkeit einer weiteren Differenzierung nach § 1 Abs. 9 BauNVO setzen voraus, daß die allgemeine Zweckbestimmung des festgesetzten Baugebietes erhalten bleibt. Das schließt es etwa aus, ein auf die Zulässigkeit von zentralen Büro- und Verwaltungsgebäuden beschränktes Kerngebiet (§ 7 BauNVO) auszuweisen (vgl. zu diesem Beispiel Fickert/Fieseler, BauNVO, 6. Aufl. 1990, § 1 Rdnr. 2; Ziegler, in: Brügelmann, BauGB, § 11 BauNVO, Rdnr. 7, 8, 9). Ein auf Büro- und Verwaltungsgebäude beschränktes Baugebiet läßt sich keinem der in den §§ 2 bis 9 BauNVO geregelten Gebietstypen zuordnen. Zudem kommt dem in dem Plangebiet vorgesehenen integrierten Verwaltungszentrum eine den Gebietscharakter abschließend bestimmende Wirkung zu. Unter diesen Voraussetzungen bestehen gegen die Ausweisung eines sonstigen Sondergebietes nach § 11 Abs. 2 BauNVO keine durchgreifenden Bedenken (vgl. in diesem Zusammenhang auch Fickert/Fieseler, a. a. O., § 11 Rdnr. 4; Ziegler, in: Brügelmann, BauGB, § 11 BauNVO Rdnr. 7, 8, 9; im übrigen BVerwG, Beschlüsse v. 25. 7. 1986, BRS 46 Nr. 21, betreffend die Festsetzung eines Sondergebietes „Möbeleinzelhandel" , und v. 18. 12. 1990, BRS 50 Nr. 19, betreffend die Festsetzung eines Sondergebietes „Stellplätze").

7.

Ebensowenig wie danach ein Verstoß gegen zwingende Vorschriften des die Aufstellung von Bauleitplänen regelnden materiellen Bauplanungsrechts ist vorliegend die Verletzung der Grundsätze des Abwägungsgebotes erkennbar.

8.

Das Gebot, bei der Aufstellung von Bauleitplänen die von der Planung betroffenen öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen, ist Ausdruck, aber auch Schranke der planerischen Gestaltungsfreiheit. Es setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (u. a. Urteile v. 5. 7. 1974, BRS 28 Nr. 4, und v. 1. 11. 1974, BRS 28 Nr. 6) voraus, daß eine Abwägung überhaupt stattfindet, daß in sie an Belangen eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muß, daß die Bedeutung der betroffenen Belange nicht verkannt wird und daß der Ausgleich zwischen ihnen nicht in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht.

9.

Die Notwendigkeit, den planerischen Gestaltungsspielraum zu respektieren, setzt der inhaltlichen Nachprüfung eines Bebauungsplans durch die Gerichte Grenzen. Die Gerichte sind nicht befugt, ihre Vorstellungen über die planerische Gestaltung an die Stelle der von der Gemeinde getroffenen Entscheidungen zu setzen oder deren Planung deshalb zu beanstanden, weil sie andere Lösungen für "besser" halten. Die gerichtliche Kontrolle hat sich vielmehr im Ansatz auf die Frage zu beschränken, ob die aufgezeigten Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit eingehalten wurden. Darüber hinaus bestimmt § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB für das Bauplanungsrecht, daß Mängel im Abwägungsvorgang nur dann erheblich sind, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluß gewesen sind (zur Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden in § 155 b Abs. 2 Satz 2 BauGB 1979 enthalten gewesenen Vorgängerregelung BVerwG, Urteil v. 21. 8. 1981, BRS 38 Nr. 37; im übrigen zu § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB BVerwG, Beschlüsse v. 20. 1. 19922), Buchholz 406.11 § 214 BauGB Nr. 5, und v. 29. 1. 19923), Buchholz 406.11 § 214 BauGB Nr.6).

10.

Die Überprüfung des Bebauungsplans unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ergibt vorliegend zunächst, daß überhaupt eine Abwägung stattgefunden hat. Insbesondere läßt sich kein Abwägungsfehler in Form einer unzulässigen Vorwegbindung des Planungsträgers feststellen. Eine solche Vorwegbindung ist nicht schon deshalb anzunehmen, weil sich die Planung ersichtlich auf das Vorhaben eines einzelnen Bauinteressenten bezieht und das Ziel verfolgt, die bodenrechtlichen Voraussetzungen für die Realisierung dieses Projektes zu schaffen (vgl. in diesem Zusammenhang BVerwG, Beschluß v. 28.8.1987, BRS 47 Nr. 3, betreffend ebenfalls die Planung für ein umfangreiches Verwaltungsgebäude einer Versicherungsgesellschaft). Nach der zitierten Entscheidung kann in dem Umstand, daß eine Gemeinde einen Bebauungsplan auf der Grundlage eines konkreten Projektentwurfs eines Vorhabenträgers erarbeitet hat, für sich allein nicht einmal ein regelmäßiges Indiz für einen Abwägungsfehler gesehen werden. Es kann vielmehr aus der Sicht des Planungsträgers durchaus zweckmäßig sein, den Bebauungsplan unter Berücksichtigung des ihm bereits in allen Einzelheiten bekannten Projektentwurfs des Vorhabenträgers zu erstellen. Auch ansonsten läßt sich eine unzulässige Vorwegbindung des Satzungsgebers vorliegend nicht feststellen. (Wird ausgeführt.)