Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
Urteil vom 23.1.1963
– III A 355/57 -

(weitere Fundstellen: DVBl 1963, 290 ff.)

 

Leitsatz

 

Die Kommunalaufsichtsbehörde darf nur im Interesse des öff. Wohls eingreifen,  nicht aber mit dem Ziele, einem einzelnen zu seinem Recht zu verhelfen, wenn dieser seine Rechte in einem Zivilprozeß oder in einem Verwaltungsstreitverfahren geltend machen kann.

 

Tatbestand

1.

Seit alters her hatten die Haushaltsvorstände in einer Gemeinde das Recht, auf den Gemeindewiesen für eigene Rechnung Pappeln anzupflanzen. Im Jahre 1953 beabsichtigte die Gemeinde, einen Teil der Gemeindewiesen für eigene Rechnung mit Pappeln zu bepflanzen, und beschloß, einzelnen Pappelpflanzern, darunter auch dem Beigel., aufzugeben, ihre Pappeln zu fällen. Der Beigel. legte vergeblich Einspruch ein und wandte sich danach beschwerdeführend an den Bekl. (OKD) . Dieser hielt das Verlangen der Gemeinde für rechtswidrig und wies den Amtsdirektor an den Beschluß des Rates der Gemeinde zu beanstanden, Dies geschah. Der Rat verblieb aber bei seinem Beschluß, und der Bürgermeister ließ durch Gemeindearbeiter neun Pappeln des Beigel. fällen.

2.

Der Beigel. verfocht nunmehr seine Ansprüche in einem Zivilprozeß gegen die Gemeinde. Das OLG setzte den Rechtsstreit aus, "bis die .Verwaltungsbehörden bzw. das Verwaltungsgericht über die Rechtsgültigkeit der Beschlüsse des Gemeinderats endgültig entschieden haben".

3.

Diesen Beschluß teilte der Beigel. dem Bekl. mit und bat ihn schriftlich, "das Erforderliche zu veranlassen". Daraufhin hob der Bekl. die Beschlüsse des Gemeinderates auf, weil sie das geltende Recht verletzten.

4.

Der Anfechtungsklage des Gemeinderates gab das VG statt. Die Berufung des Beigel. hatte keinen Erfolg.

 

Aus den Gründen:

5.

Die angef. Verfügung des Bekl. muß aufgehoben werden, weil sie nach der Überzeugung des Senates nicht aus Gründen des "bonum commune", sondern ausschließlich im privaten Interesse des Beigel. zur Unterstützung von dessen Rechtsansprüchen gegen die Gemeinde erlassen worden ist. Maßnahmen der Kommunalaufsichtsbehörde dürfen nämlich nicht ausschließlich dem Interesse eines einzelnen dienen.

6.

Eine solche Einschränkung des Beanstandungs- und Aufhebungsrechts der Kommunalaufsichtsbehörde ist zwar weder aus dem Wortlaut des § 108 GO NW (GS NW 167) zu entnehmen, noch ist sie in den maßgeblichen Bestimmungen über die Selbstverwaltungsgarantie – Art. 28 GG und Art. 78 NW Verf. (GS NW 100) – und über die Kommunalaufsicht – §§ 9 und 106 GO NW – ausdrücklich enthalten. Sie ergibt sich jedoch aus der historischen Entwicklung der Kommunalaufsicht in Deutschland. Dazu hat der NW VGH ausgeführt (Urteil vom 21. 8. 1954, VGH 3/53, OVGE 9, 74, 83; Urteil vom 4. 2. 1956, VGH 6/55, OVGE 10, 282, 285 = DÖV 1956, 369):

7.

"Die Selbstverwaltung begreift nach ihrem inneren Sinn und der historischen Entwicklung in Deutschland eine Beteiligung des Staates im Wege der Kommunalaufsicht und daneben auch durch organisatorische staatliche Mitwirkung bei gemeindlichen Akten in sich, wie z. B. zum Ausdruck kommt bei der Genehmigung von Satzungen, Haushaltsplänen oder Anleihen und der Zustimmung zu Ernennungen. Der Sinn dieser Maßnahmen geht dahin, das Wohl der Gemeinde durch ,verständige‘ Mittel in Einklang zu halten mit dem bonum commune."

8.

Der Umfang der garantierten Wesenbestandteile der Selbstverwaltung läßt sich nach der Rspr. des VerfGH begrifflich nicht definieren. Die Selbstverwaltung ist kein Begriff a priori, sondern ein Inbegriff historisch entwickelter Beziehungen, die nach Art und Zeit wechseln können. Die verfassungsrechtliche Garantie der Selbstverwaltung schließt also keine rechtlichen Einschränkungen aus, die bei Erlaß der Verfassung allgemeinhin als verständig und mit dem Sinn der deutschen Selbstverwaltung als vereinbar angesehen wurden.

9.

Daraus zieht der Senat die Folgerung, daß die Rechte der Kommunalaufsicht gegenüber den beaufsichtigten Gemeinden mindestens so begrenzt sind, wie sie es zur Zeit der Weimarer Republik oder der Preußischen Monarchie waren; sofern diese Begrenzung bei Erlaß des Grundgesetzes allgemein als verständig galt. Das PrOVG entschied in feststehender Rspr., daß die Kommunalaufsichtsbehörde nur im öff. Interesse tätig zu sein hat, also nicht eingreifen darf, um einem Privatmann zu seinem Recht zu verhelfen, wenn dieser auch auf einem anderen Wege zu seinem Recht kommen kann, sei es im Wege eines Zivilprozesses oder eines VerwStreitververfahrens. Das PrOVG hat dies z. B. ausgesprochen in einer Grundsatzentscheidung für den Fall, daß eine Stadtkasse für die kommunale Ortspolizeibehörde von einem Einwohner der Stadt Beträge beigetrieben und sie verausgabt hatte, um mit ihnen die Kosten einer von der Ortspolizeibehörde im Wege der Ersatzvornahme durchgeführten, zuvor dem Einwohner aufgegebenen baulichen Maßnahme zu decken. Die Kommunalaufsichtsbehörde hatte die Anordnung der baulichen Maßnahme beanstandet und die Rückzahlung der Beträge angeordnet. Dazu hat das PrOVG ausgeführt, den Betroffenen stehe der ord. Rechtsweg offen für die Frage, ob ihm ein Anspruch auf Erstattung der beigetriebenen Geldbeträge zustehe. "Der Entscheidung hierüber vorzugreifen hat die Aufsichtsbehörde keinen Beruf." Eine Ausnahme wurde nur dann zugelassen, wenn das öff. Interesse bei der Sache beteiligt war; was abgesehen von dem Gebiet der Beamtenbesoldung in der Regel nur dann anerkannt wurde, wenn der ordnungsmäßige Gang der Gemeindeverwaltung durch das Unterbleiben einer Leistung der Gemeinde beeinflußt wird (PrOVG, Urteil vom 20. 1. 1916, PrOVGE 70, 57; PrOVG, Urteil vom 26. 4. 1923, PrOVGE 78, 58; ebenso Stier-Somlo in Handbuch des Kommunalverfassungs- und Kommunalverwaltungsrechts in Preußen, 1. Band 1919, S. 392; Peters, Grenzen der Selbstverwaltung, Berlin 1926, 218 und 221; Surén-Loschelder, DGO, 1936, Bd. II, Anm. zu § 109 DGO, S. 458).

10.

Für den Fall, daß dem Betroffenen ein besonderes VerwVerfahren offenstand, galt das gleiche (PrOVG, Urteil vom 28. 11. 1928, PrOVGE 83, 99; PrOVG, Urteil vom 11. 6. 1929, PrOVGE 84, 106, 112).

11.

Zur Begründung führt das PrOVG aus, wenn der Betroffene den Rechtsweg beschreiten könne, bestehe bei einem Eingreifen der Kommunalaufsichtsbehörde die Gefahr, daß widersprechende Entscheidungen der Gerichte ergingen. Es herrsche dann keine Klarheit darüber, welche Entscheidung maßgebend sei.

12.

Diese Beschränkung des Kommunalaufsichtsrechts besteht nach der Überzeugung des Senats auch heute; denn sie mußte angesichts der erhöhten Garantien, mit denen das GG den Kern der Selbstverwaltung geschützt hat (Art. 28 GG), jedenfalls im Jahre 1949 nach wie vor als verständig gelten. Sie ist der Institution der Kommunalaufsicht immanent, folgt also nicht etwa daraus, daß es im Ermessen der Kommunalaufsicht steht, ob sie einschreitet (Kunze-Schmidt, Bad.-Württ. GO 1956, Anm. VII zu § 118 S.798; Gerth, DÖD, 1959, 130; Helmreich-Widtmann, Bayer. GO, 2. Aufl. 1959, Anm. 3 zu Art. 109 S. 646, der dies aber nur für Verpflichtungen der Gemeinde auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts gelten lassen will; anderer Meinung: Becker im Handbuch der Kommunalen Wissenschaft und Praxis, herausgegeben von Peters, Bd. 1, 1956, 169; Muntzke-Schlempp, Kommentar zur Hess. GO 1954, Anm. II zu § 138 S. 1137).

13.

Die Literatur zur NW GO hat mit Ausnahme von Gerth, aaO (der aber meint, es handele sich um Anwendung des Ermessens innerhalb des Opportunitätsprinzips), das Problem übersehen. Rechtsprechung über die Frage gibt es seit 1933, insbesondere seit 1945 nicht.

14.

Der erk. Senat will damit nicht sagen, daß jedes Eingreifen der Kommunalaufsicht zugunsten von Privaten ausgeschlossen sei. Es ist nämlich der Fall denkbar, daß das bonum commune mit dem Vorteil eines Privatmannes zusammenfällt, etwa wenn eine Gemeinde eine Maßnahme trifft, die einen so hohen Schadensersatzanspruch zur Folge hat, daß sie die Finanzwirtschaft und damit die ordnungsmäßige Verwaltung der Gemeinde gefährdet. In derartigen Fällen sieht der Senat ein Eingreifen der Kommunalaufsicht als zulässig an.

15.

Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, daß eine solche Beschränkung der Kommunalaufsicht nicht besteht, wenn die Gemeinde einen einzelnen rechtswidrig begünstigt hat; denn der einzelne wird sich gegen die begünstigende Maßnahme nicht wehren. Ohne ein Einschreiten der Aufsichtsbehörde bestände in diesen Fällen keinerlei Rechtskontrolle.

16.

Im vorl. Fall bestehen keine Zweifel, daß die Aufhebungsverfügung ausschließlich im Interesse des Beigel. erging. […]

17.

Der Beigel. hatte und hat auch die Möglichkeit, ohne Eingriff der Kommunalaufsicht zu seinem Recht zu gelangen. […]

18.

Da also die angef. kommunalaufsichtliche Verfügung des Bekl. nicht im Interesse des bonum commune ergangen ist und schon deshalb rechtswidrig war, bestand für den Senat keine Veranlassung mehr, zu erwägen, ob etwa die angef. Verfügung auch deshalb unhaltbar ist, weil die aufgehobenen Beschlüsse des Kl. bereits ausgeführt sind und die Ausführung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.