Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
Urteil vom 18.6.1996
- 5 A 769/95
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 (weitere Fundstellen: NJW 1997, 1180 f.)

 

 

Tatbestand

1.

Der Kl. trat seit Jahren nackt in der Öffentlichkeit auf und bezeichnete sein Verhalten als "Interaktionskunst". Der Bekl. untersagte ihm das Zurschaustellen des nackten Körpers auf allen öffentlichen Straßen und Wegen sowie in allen öffentlichen Anlagen und Gebäuden in H. durch Ordnungsverfügung. Die hiergegen gerichtete Klage blieb in zwei Instanzen erfolglos.

 

Aus den Gründen:

2.

Der Bekl. durfte die Ordnungsverfügung auf § 14 NW OBG stützen, um eine Störung der öffentlichen Ordnung abzuwehren. Der Begriff der öffentlichen Ordnung, der in Art. 13 III GG und Art. 35 II 1 GG seine verfassungsrechtliche Anerkennung gefunden hat, umfaßt die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird (OVG Münster, Urt. v. 31. 5.1988 – 5 A 2638/85; Beschl. v. 22. 6.1994 – 5 B 193/94 sowie NWVBl 1995, 473; Franßen, in: Festg. aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des BVerwG, 1978, S. 201 [206]; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. [1986], S. 245). Ob ein nacktes Auftreten in der Öffentlichkeit gegen die herrschenden Anschauungen über die unerläßlichen Voraussetzungen eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens verstößt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere der jeweiligen Örtlichkeit, dem situativen Rahmen sowie gegebenenfalls Anlaß und Zweck des Nacktseins ab.

3.

Hiervon ausgehend widersprechen die "Nacktauftritte" des Kl. den anerkannten Regeln der Gemeinschaftsordnung zur Wahrung der schutzwürdigen Interessen des einzelnen und der Allgemeinheit. Ein nacktes Auftreten an den vom Kl. gewöhnlich für seine "Darbietung" aufgesuchten Orten verletzt – trotz in den letzten Jahrzehnten gewandelter Moralvorstellungen – das natürliche, nicht übertriebene Schamgefühl der Betroffenen. Die "Auftritte" des Kl. sind dadurch gekennzeichnet, daß er seinem "Publikum" den Anblick seines nackten Körpers aufdrängt, ohne daß dieses frei entscheiden könnte, ob es mit dem Anblick konfrontiert werden will oder nicht. Gerade die unfreiwillige Konfrontation an Orten, an denen Nacktdarstellungen nicht zu erwarten sind, tangiert das Schamgefühl in besonderer Weise. Entgegen der Ansicht des Kl. ist seinem Verhalten weniger ein natürliches Verhältnis zur Nacktheit eigen als vielmehr das zur Schau gestellte Bedürfnis, andere Personen mit seinem nackten Körper zu konfrontieren und zu provozieren. So präsentiert er sich insbesondere auch bei Veranstaltungen oder sonstigen größeren Menschenansammlungen oder auch in den Medien und versteht sein Nacktsein als "Auftritt".

4.

Die Behauptung des Kl., es handele sich bei seinen Nacktauftritten um Kunst, führt zu keinem anderen Ergebnis. Die vom Kl. seit Jahren betriebene Freikörperkultur fällt nicht in den Schutzbereich des Grundrechts der Kunstfreiheit (Art. 5 III 1 GG).

5.

Nachdem weiten "materialen" Kunstbegriff des BVerfG ist das Wesentliche der künstlerischen Betätigung die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden. Das künstlerische Schaffen, bei dem Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammenwirken, ist "unmittelbarster" Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers. Die Freiheitsverbürgung des Art. 5 III 1 GG betrifft den "Werkbereich" des künstlerischen Schaffens in prinzipiell gleicher Weise wie den "Wirkungsbereich" der Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks (BVerfGE 30, 173 [188 f.] = NJW 1971, 1645; BVerfGE 67, 213 [224 ff.] = NJW 1985, 261; ferner BVerwGE 84,71 [73f.] = NJW 1990, 2011).

6.

Den so beschriebenen Anforderungen an Kunst wird das Auftreten des Kl. nicht gerecht. Auch bei großzügigem Verständnis der begrifflichen Anforderungen ist nicht erkennbar, daß das Verhalten des Kl. dem Bereich des künstlerischen Schaffens zugeordnet werden könnte. Dem bloßen Nacktsein des Kl. ist keinerlei schöpferische Ausstrahlungskraft eigen. Zwar ist nicht ausgeschlossen, daß ein Nacktauftritt im Einzelfall als Kunst oder jedenfalls als Teil einer künstlerischen Aktion aufzufassen sein kann. Der Kl. hat jedoch weder darlegen können noch sind hinreichende Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß sein bloßes Nacktsein nicht als Nichtkunst-Normalfall, sondern ausnahmsweise als künstlerische Äußerung verstanden werden könnte. So führt etwa der Kl. auch seine alltäglichen Verrichtungen, wie Einkaufen, Fahrradfahren oder Aufsuchen anwaltlichen Beistands, in nacktem Zustand durch. Auch die aufgrund der aufgedrängten Konfrontation mit dem nackten Körper des Kl. provozierten Reaktionen von Betroffenen machen den Regelverstoß nicht bereits deshalb zum Kunstwerk. Die banale Zurschaustellung des eigenen Körpers mit vereinzelten – wechselnden – Kleidungsstücken wie Mütze oder rechtem/linkem Strumpf weist schließlich ebensowenig die Merkmale des Schöpferischen, des Ausdrucks persönlichen Erlebnisses oder der kommunikativen Sinnvermittlung auf wie das wechselnde Bekleidungsverhalten der übrigen Bevölkerung. Allein die Präsentation des eigenen nackten Körpers ist noch nicht künstlerische Betätigung im Sinne "freier schöpferischer Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium der Formensprache zur unmittelbarer Anschauung gebracht werden" (BVerfGE 30, 173 [189] = NJW 1971, 1645).

7.

Sieht man das Wesentliche eines Kunstwerks darin, daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gestaltungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind, legt man also einen eher formalen Kunstbegriff zugrunde (vgl. BVerfGE 67, 213 [226 f.] = NJW 1985, 261 m. w. Nachw. aus der Lit.), sind diese Voraussetzungen hier ebenfalls nicht erfüllt. Das bloße Präsentieren des nackten Körpers ist weder eine "klassische" Form des Straßentheaters noch eine avantgardistische Form künstlerischer Installation oder Aktion.

8.

Sieht man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung schließlich darin, daß sie wegen der Mannigfaltigkeit ihrer Aussage ständig neue, weiterreichende Interpretationen zuläßt (vgl. BVerfGE 67, 213 [227] = NJW 1985, 261), so fehlt es auch an diesem Merkmal. Der Nacktauftritt des Kl. reicht weder über seine alltägliche Aussagefunktion hinaus noch führt er zu einer unerschöpflichen, vielstufigen Informationsvermittlung (vgl. dazu Henschel, NJW 1990, 1937 [1939]).

9.

Das Verbot ist auch verhältnismäßig und führt zu keinen Nachteilen, die zudem angestrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis stehen (§ 15 NW OBG).

10.

Die Entscheidung, ob es bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 14 NW OBQ zweckmäßig und sachgerecht ist, die "Auftritte" des Kl. zu verbieten, stand im Ermessen des Bekl. und ist nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Ermessensfehler sind insoweit, nicht erkennbar.