Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
 Urteil vom 16.12.1983
- 15 A 2027/83
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 (weitere Fundstellen: NVwZ 1984, 325 f.)

 

 

Zum Sachverhalt:

1.

Der bekl. Bürgermeister der Stadt B. hatte sich geweigert, den von der SPD-Ratsfraktion gestellten Antrag: "Der Rat der Stadt B. möge beschließen: Der Rat der Stadt B. unterstützt im Rahmen seiner kommunalen Zuständigkeit keine Maßnahmen, die der Produktion, dem Transport, der Stationierung und der Lagerung von atomaren, biologischen, chemischen oder anderen Massenvernichtungsmitteln dienen", auf die Tagesordnung der nächsten Ratssitzung zu setzen.

2.

Die daraufhin von der Fraktion im Rahmen einer kommunalverfassungsrechtlichen Organstreits erhobene Klage auf Aufnahme des Antrags in die Tagesordnung hatte sowohl vor dem VG wie auch vor dem OVG Erfolg.

 

Aus den Gründen:

3.

Die Berufung ist nicht begründet. Der Kl. steht, wie das VG zutreffend entschieden hat, gegenüber dem Bekl. ein aus § 33 I 2 NRWGO folgender Anspruch auf Aufnahme ihres Vorschlags in die Tagesordnung des Rates zu. § 33 I NRWGO hat - soweit hier von Interesse - folgenden Wortlaut:

4.

"Der Bürgermeister setzt nach Benehmen mit dem Gemeindedirektor die Tagesordnung fest. Er hat dabei Vorschläge aufzunehmen, die ihm innerhalb einer in der Geschäftsordnung zu bestimmenden Frist von einem Fünftel der Ratsmitglieder oder einer Fraktion vorgelegt werden ..."

5.

Der Inhalt der Vorschrift ist eindeutig: Sie statuiert die Pflicht des Bürgermeisters, Vorschläge zur Tagesordnung, die aus der Mitte des Rates kommen, aufzunehmen, sofern - wie hier - die formalen Merkmale der Frist und der Antragsberechtigung (Fraktion oder Quorum) erfüllt sind. Insoweit hat der Bürgermeister nur festzustellen, ob überhaupt eine auf die Aufnahme in die Tagesordnung gerichtete wirksame Willenserklärung vorliegt. Voraussetzung dafür ist, daß der Vorschlag den Anforderungen der auch auf Willenserklärungen im Bereich des öffentlichen Rechts entsprechend anzuwendenden allgemeinen Grundsätze des bürgerlichen Rechts genügt. Daran kann es im Einzelfall z. B. aus Gründen der mangelnden Ernstlichkeit (vgl. § 118 BGB) oder auch dann fehlen, wenn der Vorschlag keinen verständlichen Sinn ergibt und deshalb aus tatsächlichen Gründen nicht beratungsfähig ist. Im übrigen ist der Vorschlag als Willenserklärung grundsätzlich abstrakt, so daß seine Wirksamkeit nicht davon abhängt, ob die Rechtsordnung die mit ihm erstrebte Tätigkeit des Rates billigt.

6.

Einen wirksamen Vorschlag, der die formalen Voraussetzungen des § 33 I 2 NRWGO erfüllt, darf der Bürgermeister nicht zurückweisen, denn eine auf den Inhalt des Vorschlags bezogene Verwerfungskompetenz steht ihm nach der gemeindeinternen Zuständigkeitsordnung nicht zu (vgl. dazu NRW Innenminister, RdErl. v. 29. 12. 82, - AZ III A 1 - 11.00.10 - 3301/82, Mitteilungen des Nordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeindebundes (MittNRWStuGemB) 1983, 36; v. Loebell-Salmon, NRWGO, 4. Aufl. (Stand: März 1982), § 33 Anm. 7; Süß, BayVBl 1983, 518; Huber, NVwZ 1982, 662; OVG Lüneburg, DVBl 1983, 814 (offenlassend für den Fall der offensichtlichen Unzuständigkeit der Gemeinde)).

7.

Die demgegenüber in einem Teil der Literatur vertretene Auffassung, der Bürgermeister habe eine Ablehnungsbefugnis jedenfalls hinsichtlich solcher Vorschläge, deren Behandlung im Rat die Verbandskompetenz der Gemeinde überschreite (vgl. dazu Kottenberg-Rehn, NRWGO, 10. Aufl. (Stand: März 1983), § 33 Anm. I 2; Kruse, Städte- und Gemeindebund (StuGemB) 1983, 292; Stellungnahme des Nordrhein-Westfälischen Städte- und Gemeindebundes vom 17.1.1983, MittNRWStuGemB 1983, 37) nimmt ein Recht des Bürgermeisters zur materiellen Vorprüfung von Fraktionsvorschlägen an, das diesem aus folgenden Gründen nicht zusteht:

8.

1. Die Frage, in welcher Weise der Bürgermeister mit Fraktionsvorschlägen zu verfahren hat, ist in § 33 I 3 NRWGO abschließend geregelt. Diese Vorschrift läßt schon ihrem Wortlaut nach für eine andere Rechtsfolge als die Aufnahme des Vorschlags in die Tagesordnung keinen Raum. Die vom Landesgesetzgeber bei Vorliegen der formalen Aufnahmevoraussetzungen als zwingend festgelegte Rechtsfolge entzieht den Inhalt des Vorschlags der rechtlichen Überprüfung im Aufstellungsverfahren und schließt - entgegen der vom Städte- und Gemeindebund (aaO, S. 37) vertretenen Rechtsauffassung - insbesondere die Annahme eines - auf der Rechtsfolgenseite der Norm angesiedelten - Ermessens aus. Dem entspricht der Sinn der Vorschrift. Der mit ihr bezweckte Minderheitenschutz (vgl. die amtl. Begr. der Landesreg. zum Entwurf der Neufassung des § 33 NRWGO v. 16. 4. 78, LT-Dr 8/3152, S. 62) erfordert zu seiner sachgerechten Verwirklichung die organisations- und verfahrensrechtliche Gewährleistung, daß die Minderheit - über die Aufnahme ihres Vorschlags in die Tagesordnung - jede von ihr für bedeutsam gehaltene Angelegenheit vor den Rat bringen kann und sodann allein der Rat darüber befindet, ob und in welcher Weise er sich mit der aus seiner Mitte an ihn herangetragenen Angelegenheit befassen will. Die Effektivität des in § 33 I 2 NRWGO normierten Minderheitenschutzes würde gerade bei kommunalpolitisch kontrovers diskutierten Fragen wesentlich verkürzt, wenn es in die Hand des Bürgermeisters gegeben wäre, schon im Vorbereitungsstadium der Ratssitzungen Vorschläge von Ratsmitgliedern je nach dem Ergebnis seiner Rechtsprüfung unbeachtet zu lassen und damit der Entscheidung des Rates vorzugreifen.

9.

Die aus Wortlaut und Sinn der § 33 I 2 NRWGO folgende uneingeschränkte Aufnahmepflicht des Bürgermeisters wird im übrigen durch ihren sachlich-logischen Zusammenhang mit dem in § 39 NRWGO geregelten System der gemeindlichen Selbstkontrolle und Selbstkorrektur bestätigt. Danach ist der Bürgermeister ausschließlich auf die nachträgliche Rechts- und Zweckmäßigkeitsprüfung von Ratsentscheidungen beschränkt; präventive Kontrollbefugnisse gegenüber einem Organ der Gemeinde sind ihm nicht eingeräumt.

10.

2. Ein auf die Einhaltung der Verbandskompetenz der Gemeinde begrenztes materielles Vorprüfungsrecht des Bekl. läßt sich auch nicht mit verfassungsrechtlichen Erwägungen aus der Funktion des Bürgermeisters bei der Aufstellung der Tagesordnung herleiten.

11.

Bei der Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit einer Behandlung der von der Kl. vorgeschlagenen Angelegenheit durch den Rat ist davon auszugehen, daß Art. 78 II NRWVerf. und § 2 NRWGO den nordrhein-westfälischen Gemeinden das Recht garantieren, im Rahmen der Gesetze alle öffentliche Verwaltung im Gemeindegebiet zu regeln. Darin liegt jedoch keine - allenfalls noch an eine gewisse Gebietsbeziehung geknüpfte - Zuweisung eines sachlich prinzipiell unbegrenzten allgemeinpolitischen Mandats der Gemeinden. Im gesamtstaatlichen Gefüge ist ihr Selbstverwaltungsrecht mit Blick auf die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern vielmehr beschränkt auf die in Art. 28 II 2 GG genannten "Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" (vgl. dazu u. a. BVerfGE 8, 122 ff. (132, 134) = NJW 1958, 1341, 1771 L; NRWVerfGH, OVGE 33, 318 ff. (319); Maunz, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 28 Rdnr. 61; Roters, in: v. Münch, GG II, 2. Aufl. (1983), Art. 28 Rdnr. 32; Penski, ZRP 1983, 162).

12.

Zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (des örtlichen Wirkungskreises) zählen nur solche Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf die örtliche Gemeinschaft einen spezifischen Bezug haben und von dieser örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich und selbständig bewältigt werden können (vgl. BVerfG 18, 122 (123, 134) = NJW 1958, 1341, 1771 L, sowie BVerfGE 52, 95 ff. (120)). Danach beurteilt, darf eine Gemeinde sich nicht mit Maßnahmen befassen, die der Sache nach die in die ausschließliche Zuständigkeit des Bundes fallende Verwirklichung der verteidigungspolitischen Konzeption der Bundesrepublik betreffen (vgl. Art. 73 Nr. 1 GG), wenn deren örtlicher Bezug für diese Gemeinde - ebenso wie für die überwiegende Zahl aller Gemeinden - allenfalls denkbar, nicht aber konkret gegeben ist, weil für die Absicht des Bundes, derartige Maßnahmen mit Auswirkung auf das Gebiet der Gemeinde auszuführen, kein greifbarer Anhalt besteht. Denn in einem solchen Fall weist die Befassung des Rates mit einer derartigen Angelegenheit nicht einen spezifischen Bezug zur örtlichen Gemeinschaft auf, sie bezweckt vielmehr einen auf die überörtliche gesamtstaatliche politische Willensbildung abzielenden Effekt (vgl. dazu BVerfGE 8, 122 ff. (134, 135) = NJW 1958, 1341, 1771 L; Süß, BayVBl 1983, 517; Uechtritz, NVwZ 1983, 334; Penski, ZRP 1983, 163; Röper, Verwaltungsrundschau 1983, 99; Stober, ZRP 1983, ZRP Jahr 1983 Seite 212 (ZRP Jahr 1983 Seite 213); Schmitt-Kammler, DÖV 1983, DÖV 871 (872, 875 Anm. 43); Schunck-de Clerk, StaatsR, 11. Aufl. (1983), S. 251; a. A.: Huber, NVwZ 1982, 664; Däubler, ZRP 1983, 115; Ladeur, DuR 1983, 36 (37)).

13.

Die hier aufgezeigte und vom Bekl. für entscheidungserheblich gehaltene Zuständigkeitsproblematik bedarf indes im vorliegenden Verfahren keiner weiteren Vertiefung. Insbesondere bedarf es keiner Aufhellung, ob der Antrag der Kl. - wie es sein Wortlaut nahelegt - lediglich an die abstrakte Möglichkeit einer zukünftigen kommunalen Betroffenheit anknüpft. Überschreitet die von der Kl. beantragte gemeindliche Willensbildung die in Art. 28 II 2 GG umgrenzte Verbandskompetenz der Gemeinde, führt dies gleichwohl nicht kraft Verfassungsrechts zu einer Anreicherung der Kompetenzen des Bürgermeisters.

14.

Aus der Zuständigkeitseingrenzung in Art. 28 II 2 GG läßt sich nur folgern, daß eine den örtlichen Wirkungskreis überschreitende Willensbildung der Gemeinde zu unterbleiben hat; das bedeutet, daß sich der Rat als Willensbildungsorgan der Gemeinde mit der Angelegenheit weder sachlich befassen noch dazu einen Sachbeschluß fassen darf. Die davon zu unterscheidende Frage hingegen, welche Stelle innerhalb der Gemeinde zu prüfen und darüber zu befinden hat, ob sich das zuständige Willensbildungsorgan bei der Befassung mit einer Angelegenheit im Rahmen der kommunalen Verbandskompetenz bewegt, ist nicht Regelungsgegenstand des Art. 28 II 2 GG, sondern des (Landes-) Kommunalrechts. Der Landesgesetzgeber aber hat dem Bürgermeister kein Prüfungsrecht zugewiesen, so daß es in die Kompetenz des Rates fällt, über die Vorfrage seiner sachlichen Zuständigkeit im vollen Umfang selbst zu entscheiden. Die demgegenüber im Schrifttum (vgl. Kruse, StuGemB 1983, 293, 294; in demselben Sinne wohl auch Kottenberg-Rehn, aaO) vertretene Auffassung, Art. 28 II 2 GG begründe unmittelbar die verfassungsrechtliche Pflicht aller kommunalen Aufgabenträger, also auch des Bürgermeisters, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben die Einhaltung des örtlichen Wirkungskreises der Gemeinde zu gewährleisten, verkennt, daß Art. GG Artikel 28 GG Artikel 28 Absatz II 2 GG (nichts anderes gilt für Art. 78 II NRWVerf.) Grenzen nur für die - nach außen wirkende - hoheitliche Ausübung des Selbstverwaltungsrechts setzt. Adressat dieser Verpflichtung ist deshalb stets nur das Gemeindeorgan, das im Einzelfall in Wahrnehmung des Selbstverwaltungsrechts den Willen der Gemeinde bildet. Das ist bei der Behandlung von Fraktionsanträgen allein der Rat als Beratungs- und Beschlußorgan der Gemeinde, nicht der Bürgermeister. Dieser wird dementsprechend bei der Aufstellung der Tagesordnung und der Einberufung von Ratssitzungen auch nicht etwa - im Kontrast zum Rat - als selbständiges Organ der Gemeinde, sondern nur als - mit ratsinternen Vorbereitungsaufgaben befaßtes - Unterorgan des Rates tätig (zur Stellung des Bürgermeisters vgl. Wolff-Bachof, VerwR II, 4. Aufl. (1976), § 74 I,f 10 (S. 53), § 75 Ie 1 (S. 67, 68), § 87 Ic (S. 229)). Insofern trifft den Bürgermeister weder "von Verfassungs wegen eine Prüfungspflicht" (so (ohne Begründung) MittNRWStuGemB 1983, 37) noch besitzt seine Funktion als Unterorgan des Rates eine der organisationsrechtlich festgelegten Befassungskompetenz des Rates vorgehende "eigene verfassungsrechtliche Qualität" (so Kruse, StuGemB 1983, 296).

15.

3. Ein Prüfungsrecht des Bekl. läßt sich schließlich auch nicht mit verfassungsrechtlichen Erwägungen zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung begründen. Der Senat läßt dahingestellt, ob Art. 28 II 2 GG mit der Beschränkung der gemeindlichen Verbandskompetenz auf den örtlichen Wirkungskreis (auch) bezweckt, die Kommunen im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit von der Befassung mit überörtlichen, allgemeinpolitischen Angelegenheiten abzuhalten, sie "von wesensfremden Elementen und Wünschen freizuhalten" (so Kruse, StuGemB 1983, 295, 296). Denn weder die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Gemeinde noch der des Rates erfordert, daß bereits bei der Aufstellung der Tagesordnung durch den Bürgermeister verhindert wird, daß der Rat in die Situation gerät, über einen Fraktionsvorschlag unter Überschreitung der Verbandskompetenz zu beraten und zu beschließen. Die Gemeindeordnung stellt dem Rat, der als Kollegialorgan bei der Entscheidung über seine eigene sachliche Zuständigkeit prinzipiell über keine geringere Einsichts- und Beurteilungsfähigkeit verfügt als der von ihm gewählte Vorsitzende, ein hinreichend effektives Instrumentarium zur Wahrung seiner Funktionsfähigkeit zur Verfügung. Die Aufnahme eines Fraktionsvorschlages in die Tagesordnung zwingt den Rat nach der Gemeindeordnung allenfalls dazu, der Fraktion in der Sitzung Gelegenheit zur Erläuterung ihres Antrags zu geben; eine Aussprache zur Sache ist nicht gefordert. Danach hat es der Rat in der Hand, die Behandlung der Angelegenheit, z. B. durch Übergang zur weiteren Tagesordnung, durch eine Geschäftsordnungsentscheidung zügig zu beenden (vgl. insoweit den RdErl. des NRW Innenministers v. 29.12.1982, MittNRWStuGemB 1983, 37) er muß sie sogar in dieser Weise abschließen, wenn die Befassung mit der Sache wegen Überschreitung der Verbandskompetenz unzulässig wäre.

16.

Der Senat verkennt nicht, daß die dem Minderheitenschutz dienende Vorschrift des § 33 I NRWGO Ratsminderheiten dazu verleiten kann, die öffentliche Sitzung des Gemeinderates bewußt als Bühne für eine nicht in die Zuständigkeit des Rates fallende allgemeinpolitische Willensbekundung zu benutzen. Es ist Sache des Rates, dem zu begegnen. Im Falle eines offenbar kompetenzwidrig - unter Umständen wiederholt - gestellten Antrages ist es ihm nicht verwehrt, zur weiteren Tagesordnung überzugehen, ohne daß der antragstellenden Fraktion Gelegenheit zur mündlichen Begründung ihres Antrages gegeben wurde.