Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss vom 16.5.1983
- 5 OVG B 9/83
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 (weitere Fundstellen: DVBl. 1983, 814 f.)

 

 

Tatbestand

1.

Mit Schreiben vom 24.1.1983 beantragte die Antragstellerin – Ast. –‚ eine Fraktion der Stadtverordnetenversammlung der schleswig-holsteinischen Stadt A. beim Antragsgegner – Ag. –‚ dem Bürgervorsteher der Stadt A., folgenden Punkt auf die Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung vom 7.2.1983 zu setzen:

"Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen: 'Die Stadtverordnetenversammlung ist entschlossen, im Rahmen des geltenden Rechts keine Maßnahmen zu unterstützen, die der Stationierung oder Lagerung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen im Bereich der Stadt A. dienen.'"

2.

Diesen Antrag lehnte der Ag. durch Bescheid vom 26.1.1983 mit der Begründung ab, der Antrag betreffe allgemeinpolitische Angelegenheiten, die über den örtlichen Bezug hinaus gingen und zu deren Behandlung die Selbstverwaltungsorgane nicht befugt seien.

3.

Daraufhin hat die Ast. erfolglos das VG um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes angerufen. Auch ihre Beschwerde mit dem Antrag, den Ag. im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antrag vom 24.1.1983 zum nächstmöglichen Termin auf die Tagesordnung zu setzen, blieb ohne Erfolg.

 

Aus den Gründen:

4.

Das VG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht erfüllt sind. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. mit § 920 Abs. 2 ZPO).

5.

Allerdings hat die Ast. einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er ergibt sich aus § 34 Abs. 4 der GO Schl.-H. i. d. F. vom 11.11.1977 (GVOBl. S. 410), geändert durch Gesetz vom 15.2.1978 (GVOBl. S. 28). Diese Vorschrift hat folgenden Wortlaut:

„Der Vorsitzende setzt nach Beratung mit dem Bürgermeister, in Städten mit dem Magistrat, die Tagesordnung fest; sie ist in die Ladung aufzunehmen. Zeit, Ort und Tagesordnung der Sitzung sind öffentlich bekanntzugeben. Der Vorsitzende muß eine Angelegenheit auf die Tagesordnung setzen, wenn es der Bürgermeister, in Städten der Magistrat oder ein Drittel der gesetzlichen Zahl der Gemeindevertreter oder eine Fraktion verlangt…"

6.

Nach dieser Bestimmung, die nach ihrem Wortlaut eine Ausnahme nicht vorsieht, kann die Ast. als Fraktion vom Ag. verlangen, daß er den in ihrem Antrag vom 24.1.1983 bezeichneten Beratungsgegenstand in die Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung aufnimmt. Einen rechtzeitig von einer Fraktion angemeldeten Tagesordnungspunkt kann der Vorsitzende nicht ablehnen (vgl. Foerster, Kommunalverfassungsrecht Schl.-H., 2. Aufl. 1981, § 34 Anm. 2); ein Ermessensspielraum ist ihm bei dieser Entscheidung nicht eingeräumt. Eine Ausnahme von diesem auf einem eindeutigen gesetzlichen Wortlaut beruhenden Grundsatz kommt allenfalls dann in Betracht, wenn die Stadtverordnetenversammlung für die angestrebte Entscheidung offensichtlich nicht zuständig ist; bestehen allerdings nur Zweifel an der Zuständigkeit, dann ist die Unzuständigkeit nicht offensichtlich (vgl. OVG Lüneburg, Beschluß vom 31.3.1977 – 2 OVG B 92/77 –‚ dng 1977, 176). Eine offensichtliche Unzuständigkeit der Stadtverordnetenversammlung wäre hiernach nur dann gegeben, wenn Zweifel an ihrer Unzuständigkeit für eine Behandlung des streitigen Gegenstandes vernünftigerweise schlechthin ausgeschlossen sind. Diese engen Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt. Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß der Stadtverordnetenversammlung ein allgemeines politisches Mandat nicht zusteht, sie vielmehr darauf beschränkt ist, sich mit den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu befassen. Es ist eindeutig, daß hierzu Verteidigungsfragen, namentlich die Frage der Stationierung oder Lagerung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen nicht gehören. Andererseits ist aber in diesem Bereich eine Zuständigkeit des Rates dann gegeben, wenn eine Maßnahme des für die Verteidigung zuständigen Bundes Selbstverwaltungsrechte der Gemeinde berührt (vgl. Huber, Die Erklärung des Gemeindegebiets zur »atomwaffenfreien Zone«, NVwZ 1982, 662 [664]; Thiele, Zur Problematik von Ratsbeschlüssen „Atomwaffenfreie Zone", dng 1983, 69). In diesen Fällen ist die Beteiligung der Gemeinden an den Verteidigungsangelegenheiten in Form von Anhörungsrechten gesetzlich vorgeschrieben, so z. B. in § 1 Abs. 2 des Landbeschaffungsgesetzes und in § 1 Abs. 3 des Schutzbereichsgesetzes (vgl. zum Anhörungsrecht der in ihrer Planungshoheit betroffenen Gemeinden bei der Festsetzung von Lärmschutzbereichen BVerfGE 56, 298). Da durch die Ausführung militärischer Projekte stets auch kommunale Interessen berührt werden, kann die Befugnis zur Beschäftigung mit Fragen dieses kommunalen Betroffenseins von verteidigungspolitischen Entscheidungen und Planungen einer davon möglicherweise betroffenen Gemeinde nicht abgesprochen werden (vgl. Huber, aaO). Um die Wahrung dieser kommunalverfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechte der Stadt A. geht es der Ast., wie sie es in ihrem Antrag zum Ausdruck gebracht („im Rahmen des geltenden Rechts") und im vorliegenden Verfahren hervorgehoben hat.

7.

Zweifelhaft ist indessen, ob ein hinreichend konkreter Anlaß dafür besteht, daß die Stadt A. sich mit dieser Angelegenheit befaßt. Die Ast. hält dies für geboten, weil zum verantwortlichen Handeln der Verwaltung sowie der Organe der kommunalen Selbstverwaltung auch die zukunftsorientierte Planung und deren ständige Anpassung an laufende Entwicklungen gehöre. Ob dieser Gesichtspunkt ausreicht, um das Vorliegen einer konkreten Absicht oder Planung zu bejahen, daß auf dem Gebiet der Stadt A. atomare, biologische und chemische Waffen gelagert oder stationiert werden sollen (zu diesem Erfordernis vgl. BVerfGE 8, 122 [134] und Thiele, aaO), mag sehr zweifelhaft sein, zumal die Ast in dieser Richtung Näheres nicht vorgetragen hat. Andererseits ist es aber auch nicht ausgeschlossen, daß es noch im Laufe dieses Jahres im Rahmen einer bundesweiten Diskussion über die Lagerung von Atomwaffen erforderlich werden könnte, daß sich die Stadt A. aus konkretem Anlaß mit diesem Problemkreis auseinanderzusetzen haben wird. In diesem Fall könnte es von Vorteil sein, wenn die Stadtverordnetenversammlung sich ohne Zeitdruck mit diesem Thema befaßt und Gelegenheit nimmt, im Interesse der „Waffengleichheit" gegenüber den Kompetenzen des Bundes bereits vor Einleitung konkreter Vorhaben möglichst frühzeitig eine Willensbildung darüber herbeizuführen, in welcher Weise sie in einem Anhörungsverfahren Stellung beziehen soll (vgl. Huber, aaO, S. 664). Mit diesen Fragen (konkreter Bezug, Opportunität einer vorgreifenden Stellungnahme) wird sich die Stadtverordnetenversammlung bei der Entscheidung über die Beschlußvorlage auseinanderzusetzen haben. Ein Vorprüfungsrecht hinsichtlich dieser nicht ohne weiteres in einer Richtung zu beantwortenden Fragen ist dem Ag. durch das kommunale Verfassungsrecht nicht eingeräumt worden. Da die Stadtverordnetenversammlung für die Entscheidung über den Antrag vom 24.1.1983 nicht offensichtlich unzuständig ist, weigert sich der Ag. zu Unrecht, diesen Antrag auf die Tagesordnung zu setzen.

8.

Für die begehrte einstweilige Anordnung fehlt es indessen an einem Anordnungsgrund. Die Ast. hat keine Umstände dargelegt, die den Erlaß der einstweiligen Anordnung „nötig" i. S. des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erscheinen lassen; im Hinblick auf den geltend gemachten Rechtsanspruch sind nach den Umständen des vorliegenden Falles keine sachlichen Gründe für eine drohende Rechtsbeeinträchtigung oder den Eintritt sonstiger wesentlicher Nachteile ersichtlich. Derartige Gründe wären nicht erst dann anzunehmen, wenn die Wahl des Gebietes der Stadt A. als möglicher Standort für atomare Waffen und die dadurch für die Stadt entstehenden Auswirkungen durch konkrete Tatsachen zu belegen sind, sondern schon dann, wenn eine solche Wahl nach den Umständen des Falles und der allgemein gegebenen Situation in naher Zukunft in Betracht kommen kann und eine Fraktion deshalb konkreten Anlaß hat, die ihr zustehenden Verfahrensrechte mit dem Ziel zu nutzen, daß sich die Stadtvertretung in nächster Zeit mit der Angelegenheit befaßt. So hat der für das Kommunalrecht in Niedersachsen zuständige 2. Senat des OVG mit Beschluß vom 11.5.1983 – 2 OVG B 16/83 – das Vorliegen eines Anordnungsgrundes in dem Fall einer Stadt bejaht, auf deren Gebiet bereits US-Streitkräfte stationiert sind. An derartigen Anhaltspunkten fehlt es jedoch im vorliegenden Fall völlig. Die Ast. hat nicht einmal vorgetragen, daß es in A. militärische Einrichtungen gibt. Auch sonst sind Umstände weder dargelegt noch ersichtlich, die es hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen, daß auf dem Gebiet der Stadt A. in naher Zukunft atomare, biologische oder chemische Waffen gelagert werden. Insoweit ist die Situation der Stadt A. nicht anders zu bewerten als die Situation jeder anderen deutschen Stadt und Gemeinde. Nicht jede Stadt oder Gemeinde wird aber Standort sog. ABC-Waffen sein.

9.

Bei dieser Sachlage kann es der Ast. zugemutet werden, ihr Begehren im Hauptsacheverfahren im Wege der Klage durchzusetzen, falls der Ag. sich weiterhin weigert, dem Antrag zu entsprechen. Es ist nicht ersichtlich, daß der Ast. durch die längere Verfahrensdauer wesentliche Nachteile entstehen werden. Sollten sich im Laufe des Klageverfahrens die Anhaltspunkte dafür verdichten, daß in A. ABC-Waffen stationiert werden sollen, könnte dies dann ein Grund für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung sein. Im gegenwärtigen Zeitpunkt fehlt es jedoch – wie dargelegt – an einem solchen Grunde.