Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss vom 17.10.1997
- 13 M 4160/97
-

 (weitere Fundstellen: NJW 1997, 3456 f.)

 

 

Tatbestand:

1.

Die Antragstellerin, die gemäß § 1705 BGB (allein) sorgeberechtigt für ihre 1989 geborene Tochter J. ist, wendet sich dagegen, daß diese nach den Regeln der reformierten Rechtschreibung unterrichtet wird.

2.

J. besucht im Schuljahr 1997/98 die 3. Klasse der Grundschule B. in O. i.O. Bereits im vergangenen Schuljahr (1996/97; 2. Klasse) wurde sie nach der Neuregelung unterrichtet, weil die dortige Fachkonferenz Deutsch dieser Schule am 23. September 1996 die "Einführung des neuen Regelwerks" in allen Klassen empfohlen hatte. Auch in einer Gesamtkonferenz (vom 27.1.1997) bestand Einigkeit darüber, daß schon ab dem Schuljahr 1996/97 in allen Klassen und in allen Fächern nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet wird. Grundlage dieser Beschlüsse war, daß der Antragsgegner bestimmt hatte (Erlaß vom 25.8.1996), daß die Erstkläßler vom Schuljahr 1996/97 an nach den Regeln der geänderten Rechtschreibung unterrichtet werden, und u.a. den Schulen freigestellt hatte, die neue Rechtschreibung schon jetzt in allen Fächern einzuführen.

3.

Der sog. Rechtschreibreform liegt im staatlichen Bereich folgende Entwicklung zugrunde:

Mit Beschluß der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 1. Dezember 1995 (wiedergegeben im Erl. MK vom 25.8.1996 - SVBl. 1996 S. 373) verständigten sich die Kultusminister der Bundesrepublik darauf, einen Neuregelungsvorschlag "Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis" vom 1. August 1998 an als verbindliche Grundlage in allen Schulen einzuführen, wenn die Ministerpräsidenten und der Bund ihm zustimmten und eine angestrebte zwischenstaatliche Erklärung von Deutschland, Österreich und der Schweiz rechtzeitig unterzeichnet würde. Ferner ermächtigte die KMK ihre Präsidentin (vorbehaltlich der Zustimmung durch die Ministerpräsidenten), die zwischen den deutschsprachigen Ländern abzustimmende gemeinsame Erklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zu unterzeichnen. Letzteres geschah am 1. Juli 1996 in Wien, wo von deutscher Seite der KMK-Präsident (Reck) und der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern (...) eine "Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung - Wiener Absichtserklärung" unterzeichneten. Nach dieser Erklärung nehmen die Unterzeichner das auf der Grundlage der "Dritten Wiener Gespräche" vom 22. bis 24. November 1994 entstandene Regelwerk "Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis" zustimmend zur Kenntnis; sie erklären ihre Absicht, sich innerhalb ihres Wirkungsbereiches für die Umsetzung dieses Regelwerks einzusetzen; es wurde in Aussicht genommen, die Neuregelung zum 1. August 1998 wirksam werden zu lassen und für die Umsetzung eine Übergangszeit bis zum 31. Juli 2005 vorzusehen; ferner bezieht sich die Absichtserklärung auf die Einsetzung einer Rechtschreibkommission, die auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hinwirken, die Einführung der Neuregelung begleiten, die künftige Sprachentwicklung beobachten sowie ("soweit erforderlich") Vorschläge zur "Anpassung des Regelwerks" erarbeiten soll. Die Wiener Absichtserklärung (einschließlich Anlage) wurde am 31. Oktober 1996 im Bundesanzeiger (Nr. 205 a) veröffentlicht.

4.

Der KMK-Beschluß vom 1. Dezember 1995, der bereits von den in der Absichtserklärung vom 1. Juli 1996 genannten Daten, insbesondere der (verbindlichen) Einführung der neuen Rechtschreibregeln zum 1. August 1998 (Schuljahr 1998/99), ausgeht, bestimmt, daß Schulbücher, die das neue Regelwerk beachten, bereits vor dem 1. August 1998 genehmigt werden können und daß im übrigen die Länder bis dahin in eigener Zuständigkeit weitere Übergangsregelungen treffen können; bis zum 31. Juli 2005 seien "bisherige Schreibweisen" nicht als falsch, sondern (nur) als überholt zu kennzeichnen und bei Korrekturen durch die neuen Schreibweisen zu ergänzen. Für den Fall, daß die (siebenjährige) Übergangsfrist zu großzügig oder zu eng bemessen sei, wird eine Änderung in Aussicht gestellt. Schließlich werden in dem KMK-Beschluß "bisherige Festlegungen zur Rechtschreibung", insbesondere der KMK-Beschluß vom 1955, mit Wirkung vom 1. August 1998 aufgehoben. Nach diesem Beschluß aus dem Jahre 1955 (s. Erl. MK vom 27.1.1956, SVBl. 1956, S. 33) sollen die 1901 und später festgelegten Schreibweisen und Rechtschreibregeln weiterhin Grundlage des Unterrichts und in Zweifelsfällen die im "Duden" gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich sein (zur Geschichte des KMK-Beschlusses von 1955 s. Kopke, JZ 1995, 874/879; ders., Rechtschreibreform und Verfassungsrecht, 1995, S. 46 ff.).

5.

Mit Erlaß vom 25. August 1996 (SVBl. 1996, S. 373) setzte der Antragsgegner den KMK-Beschluß vom 1. Dezember 1995 für die Niedersächsischen Schulen in Kraft - und damit offenbar die Rechtschreibregeln nach der Anlage ("Anhang") der Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996. Bereits zuvor waren die "wichtigsten bevorstehenden Änderungen" im "Nichtamtlichen Teil" des Schulverwaltungsblattes dargestellt worden (SVBl. vom 15.5.1996, S. 165 ff.). Noch früher (Ende 1994) hatte der "Duden"-Verlag eine Broschüre herausgegeben, in der er über die "neue deutsche Rechtschreibung" ("nach den Beschlüssen der Wiener-Orthographie-Konferenz" vom 22. bis 24.11.1994) informierte.

6.

In dem Erlaß des Antragsgegners vom 25. August 1996 werden - bis zum 1. August 1998 folgende "Übergangsregelungen" getroffen: Ab sofort (= Schuljahr 1996/97) soll die neue Schreibung neben der alten als korrekt akzeptiert und im 1. Schuljahrgang (nur) die neue Rechtschreibung vermittelt werden; "überholte Regeln und Schreibungen" sollen nicht mehr geübt werden. Darüber hinaus wird den Schulen freigestellt, die neuen Rechtschreibregeln in allen Fächern einzuführen, wozu nach Beratungen im Schuleltern- und Schülerrat ein Beschluß der Gesamtkonferenz erforderlich sei. Im jeden Falle sei aber sicherzustellen, daß vom Schuljahr 1996/97 an alle Schulabgänger über die neuen Regeln hinreichend informiert werden.

7.

Die Antragstellerin, deren Tochter - wie ausgeführt - im Schuljahr 1996/97 in der 2. Grundschulklasse in den Regeln der neuen Rechtschreibung unterwiesen worden ist, betreibt (als Gründungsmitglied) ein Volksbegehren (Art. 48 NV) "Wir gegen die Rechtschreibreform". In dieser Funktion wandte sie sich mit anderen Initiatoren im Juni 1997 - erfolglos an den (jetzigen) Antragsgegner - derzeit Präsident der KMK - mit der Bitte, zum Schuljahr 1997/98 die Reform auszusetzen.

8.

Am 18. Juli 1997 erhob sie Klage gegen das Land Niedersachsen mit dem Ziel, dieses zu verpflichten, die Unterrichtung ihrer Tochter J nach den neuen Rechtschreibregeln zu unterlassen. Gleichzeitig hat sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, daß die Unterweisung ihrer Tochter in die geänderten Rechtschreibregeln in ihr Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) eingreife und dies durch das Recht des Staates zur staatlichen Schulaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG) nicht gedeckt sei; denn die Rechtschreibreform führe bisher nicht gebräuchliche Schreibweisen ein, was jedenfalls ohne eine gesetzliche Ermächtigung nicht zulässig sei.

9.

Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag mit Beschluß vom 7. August 1997 (NJW 1997, 2538) entsprochen. Es hat dem Antragsgegner vorläufig untersagt, die Tochter der Antragstellerin nach Maßgabe seines Erlasses vom 25. August 1996 "Amtliche Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" unterrichten zu lassen, und dies wie folgt begründet:

Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung sei nötig i.S. von § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO, weil der Antragstellerin ein Warten auf die Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten sei. Denn bis dahin hätte ihre Tochter das neue Regelwerk erlernt und verinnerlicht. Außerdem müsse sie befürchten, daß die Entscheidung für die Neuregelung bis dahin faktisch unumkehrbar würde. Dagegen könne den Schulen ein Aufschub der Neuschreibung zugemutet werden.

10.

Der Antrag habe auch in der Sache Erfolg, weil die Antragstellerin ihren Unterlassungsanspruch im Klageverfahren aller Voraussicht nach durchsetzen werde. Durch den Erlaß des Antragsgegners vom 25. August 1996 werde die Antragstellerin sowohl in ihrem Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) als auch in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt. Denn eine Maßnahme dieser Tragweite bedürfe einer Regelung durch den Gesetzgeber. Als Mutter werde die Antragstellerin schon insoweit betroffen, als ihre Tochter in einem Bereich der natürlich erworbenen Sprache anders unterwiesen werde, als die Antragstellerin das für richtig halte und ihrem Kind vermittelt habe. Als Mensch deutscher Zunge erlebe sie durch die Einführung neuer Orthographie in Schulen und Behörden eine Isolierung, wenn sie die alte Schreibung beibehalten wolle, werde indessen mittelbar zur Beachtung der neuen Regeln gezwungen.

11.

Seit dem Beschluß BVerfGE 47, 46 habe sich die Ansicht durchgesetzt, daß alle wesentlichen Entscheidungen in einem Rechtsgebiet vom parlamentarischen Gesetzgeber zu treffen seien. Das gelte auch im Schulrechtsverhältnis. Die verbindliche Einführung der neuen Rechtschreibung stelle eine "wesentliche Entscheidung" dar. Eine gesetzliche Ermächtigung für ihre Einführung fehle; auch auf § 2 NSchG könne der Antragsgegner sich nicht stützen. Die "Wesentlichkeit" ergebe sich daraus, daß die Sprache als "Mittel zur Erfassung der Welt" und wichtigstes Kommunikationsmittel für den Menschen von elementarer Bedeutung sei. Ihre Schreibung teile Eigenart und Rechtsschicksal der Sprache. Eine Reform der Rechtschreibung sei (daher) "Sprachbeeinflussung", gegen die der Bürger sich kraft grundgesetzlicher Positionen wehren könne (Kirchhoff in Isensee/Kirchhoff, HStR I, 1987, S. 764). Die Neuregelung stelle eine solche "Sprachbeeinflussung" dar. Sie verfolge eine Neuformulierung der Regeln nach einem einheitlichen Konzept, was zu umfangreichen Änderungen im Bereich der Orthographie, Interpunktion und Trennung geführt habe. Diese stellten nicht eine Festschreibung von Tatbeständen sprachlicher Fortentwicklung dar, sondern seien im wesentlichen "am Reißbrett der Linguisten" geschaffen worden. Der Umfang dieser Neuregelungen zeige sich an der Zahl der zweifelhaften Schreibungen, die verschiedentlich mit 8.000 Fällen angegeben seien; eine Überarbeitung werde auf mindestens ein Jahr veranschlagt. Die Wesentlichkeit der Neuordnung könne nicht mit dem Hinweis darauf abgetan werden, die Reform führe nur bei maximal 2 % der Wörter zu einer Änderung der Schreibweise. Schon der Umfang neuer Schreibung könne nicht vernachlässigt werden; zudem kämen weitere Neuregelungen hinzu (Zeichensetzung, Trennung am Zeilenende). Aufgrund der Änderung der Rechtschreibregeln werde alles Schreiben in Mitleidenschaft gezogen (Literatur aller Art, EDV-Software). Schon im Schulbereich beanspruche die Neuregelung nicht nur im Deutschunterricht, sondern grundsätzlich in allen Fächern Geltung. Darüber hinaus habe sie über kurz oder lang Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Jegliches Schreiben werde am neuen Regelwerk gemessen. Die Orthographiereform könne nicht isoliert als schulisches Phänomen angesehen werden: Was heute in der Schule gelehrt werde, werde morgen als richtig gelten und jegliche abweichende Schreibweise als altmodisch und falsch verdrängen.

12.

Gegen diesen Beschluß richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners, die der Senat mit Beschluß vom 26. August 1997 (13 M 3958/97) zugelassen hat.

 

Aus den Gründen:

13.

Die Beschwerde bleibt erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsbegehren zu Recht entsprochen. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt eine andere Entscheidung nicht. Die Antragstellerin hat einen Anspruch glaubhaft gemacht, daß ihre Tochter J. derzeit nicht nach den geänderten Rechtschreibregeln unterrichtet wird. Zur Sicherung dieses Anspruches ist der Erlaß einer einstweiligen Anordnung erforderlich, mit der dem Antragsgegner vorläufig untersagt wird, die Tochter der Antragstellerin nach Maßgabe seines Erl. vom 25. August 1996 unterrichten zu lassen. Zwar könnte die Antragstellerin diesen Anspruch auch gegenüber der Schule geltend machen; gleichwohl besteht er auch gegenüber dem Antragsgegner. Dieser ist dafür verantwortlich, daß die Rechtschreibreform in Niedersachsen für die Schulen verbindlich eingeführt ist, und kann im Rahmen seiner Befugnisse als oberste Schulbehörde die Unterrichtung nach den geänderten Rechtschreibregeln wieder aussetzen (§§ 119 ff. NSchG).

14.

Seine Verpflichtung dazu - im vorliegenden Verfahren bezogen auf den der Tochter der Antragstellerin zu erteilenden Unterricht - ergibt sich daraus, daß die Einführung der geänderten Schreibungen bei der hier gebotenen und auch nur möglichen summarischen Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig ist. Diese Feststellung beschränkt sich auf die vorgezogene Einführung der Reform aufgrund der im Erlaß vom 25. August 1996 für die Zeit bis zum 31. Juli 1998 getroffenen "Übergangsregelungen". Die vorgezogene Einführung der neuen Rechtschreibung durch den Erlaß vom 25. August 1996 war rechtswidrig, weil dieser Erlaß nicht mit Nr. 2 des KMK-Beschlusses vom 1. Dezember 1995 vereinbar war (a.), über eine in Nr. 4 b) des KMK-Beschlusses zugelassene Übergangsregelung hinausgeht (b.) und nicht entsprechend § 122 Abs. 2 NSchG als Entwurf rechtzeitig dem Landtag vorgelegt wurde. Eine abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der endgültigen Einführung der Reform zum 1. August 1998 erscheint im gegenwärtigen Zeitpunkt in diesem Anordnungsverfahren weder erforderlich noch angezeigt. Dafür würde es an dem Anordnungsgrund fehlen, weil eine mögliche Gefährdung von Rechten der Antragstellerin und ihrer Tochter insoweit noch nicht unmittelbar bevorsteht, die Einführung der Reform in der jetzigen Gestalt im politischen Raum nicht gesichert erscheint und in der Zwischenzeit eine weitere rechtliche Klärung durch eine Entscheidung in der Hauptsache, vor allem aber durch eine Entscheidung des BVerfG erwartet werden kann (Hess. VGH, Beschl. v. 5.9.1997 - 7 TG 3183/97 -; VG Gelsenkirchen, Beschl. vom 11.8.1997 - 4 L 2293/97 -). Es bestehen allerdings gewichtige Bedenken auch gegen die Rechtmäßigkeit der endgültigen Umsetzung der Rechtschreibreform in der bisher vorliegenden Fassung, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen waren (2.).

15.

1. a) Schon nach dem KMK-Beschluß vom 1. Dezember 1995 war der Antragsgegner nicht berechtigt, die neue Rechtschreibung einzuführen. Denn es fehlte (und fehlt noch immer) an einer Voraussetzung, die nach dem KMK-Beschluß erfüllt sein muß, um die Rechtschreibreform als "verbindliche Grundlage für den Unterricht in allen Schulen einzuführen". Nach Nr. 2 des Beschlusses ist Voraussetzung dafür auch, daß der Bund dem neuen Regelungsvorschlag zustimmt. Eine derartige Zustimmung fehlt indessen bis heute, da das Bundeskabinett die Neuregelung am 17. April 1996 lediglich "zur Kenntnis genommen" hat. Das ergibt sich aus dem vom Antragsgegner vorgelegten Schreiben des BMI vom 29. April 1996. Eine schlichte Kenntnisnahme unterscheidet sich rechtlich von einer zustimmenden Kenntnisnahme und kann entgegen der Ansicht des Antragsgegners einer inhaltlichen Zustimmung nicht gleichgesetzt werden. Tatsächlich kann die Meinungsbildung auf Bundesebene weiterhin nicht als abgeschlossen angesehen werden. So hat der Rechtsausschuß des Bundestages aufgrund eines interfraktionellen Antrages vom 21. Februar 1997 (BT-Drucks. 13/7028), der auf eine Ablehnung der von der KMK beschlossenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung gerichtet war, am 2. Juni 1997 eine öffentliche Anhörung durchgeführt (vgl. RdJB 1997, 223). Zwar wurde dieser ursprüngliche Antrag fallen gelassen, im Rechtsausschuß aber ein neuer Entschließungsentwurf vom 12. Juni 1997 vorgelegt, der u.a. die KMK aufruft, "innezuhalten und auf die sofortige Umsetzung der Rechtschreibreform zu Beginn des nächsten Schuljahres zu verzichten" (vgl. VG Hamburg, Beschl. v. 26.8.1997, S. 11). Eine Beschlußfassung des Rechtsausschusses und des Bundestages steht noch aus. Mangels Zustimmung des Bundes ist die Einführung der Rechtschreibreform - zum 1. August 1998 - derzeit nach den eigenen Vorgaben der KMK danach nicht zulässig. Dieser Mangel berührt erst recht die vorgezogene Einführung schon zum 1. August 1996.

16.

b) Der Antragsgegner hat für seinen Bereich insofern gegen den KMK-Beschluß verstoßen, als er die neue Rechtschreibung schon vor dem 1. August 1998 für den Schulunterricht verbindlich gemacht hat. Er hat bestimmt, daß bereits "ab sofort", d.h. schon im Schuljahr 1996/97 (ab 1.8.1996) die als "überholt" bezeichnete alte Orthographie nicht mehr geübt werden solle, dagegen die neue Schreibung als "korrekt" zu akzeptieren sei, (nur) die neue Schreibung im 1. Schuljahrgang vermittelt werden und alle Schulabgänger über sie informiert werden sollen (Nrn. 1 bis 3 und 5 des Erl. v. 25.8.1996). Darüber hinaus hat er den Schulen freigestellt, die neuen Rechtschreibregeln durch Beschluß der Gesamtkonferenz sofort in allen Fächern einzuführen (Nr. 4 Satz 1 des Erl.), was im konkreten Fall - anders als in dem der Entscheidung des HessVGH vom 5.9.1997 zugrundeliegenden Fall - in der von der Tochter der Antragstellerin besuchten Schule auch geschehen ist. Damit wurde die Rechtschreibreform praktisch schon zum Schuljahr 1996/97 verbindlich gemacht, was sich an der Gegenüberstellung der Begriffe "überholt" und "korrekt" deutlich zeigt.

17.

Ein solcher Vorgriff auf den Zeitpunkt der Einführung der reformierten Rechtschreibung verstößt indessen gegen den KMK-Beschluß vom 1. Dezember 1995. Denn er kann nicht als "weitere Übergangsregelung" i.S. von Nr. 4 b des Beschlusses angesehen werden. Der Einführungszeitpunkt - 1. August 1998 - steht nach dem KMK-Beschluß fest und ist als solcher einer "Übergangsregelung" nicht zugänglich. Nach Sinn und Zweck einer die Rechtschreibreform betreffenden Übergangsregelung kann eine solche nur die Frage der Behandlung der bisherigen Rechtschreibregeln betreffen. Insoweit ist eine Übergangsregelung naturgemäß aber erst nach Einführung der neuen Regeln, also ab dem 1. August 1998, relevant. Dazu ist im KMK-Beschluß eine Übergangszeit vom 1.8.1998 bis 31.7.2005 vorgesehen, wobei diese (durch KMK-Beschluß) abgekürzt, aber auch verlängert werden kann. Wenn die Kultusminister für die Zeit davor, d.h. bis zum 1. August 1998, "weitere Übergangsregelungen" sollen treffen dürfen, kann sich das nur auf solche Dinge beziehen, die die Einführung der Reform am 1. August 1998 vorbereiten, also vorher zu regeln sind. Das schließt jedenfalls die Frage des Zeitpunktes des "Inkrafttretens" der Neuregelung selbst nicht ein. Durch die vom Antragsgegner vorgenommene Vorverlegung des Einführungstermins wird dagegen die Übergangszeit als solche um ein weiteres Jahr eigenmächtig (nach vorn) verlängert, was dem KMK-Beschluß widerspricht. Wenn die Kultusminister im übrigen ausdrücklich ermächtigt werden, Schulbücher, die das neue Regelwerk beachten, schon vor dem Inkrafttreten der Reform (1.8.1998) zu genehmigen, ist auch das nicht eine Frage einer die Reform betreffenden Übergangsregelung, sondern eine solche, die sich auf die Vorbereitung ihrer Einführung bezieht. Die "Vorweg-Genehmigung" von Schulbüchern hat technische Gründe und mit der Frage ihrer Einführung im Schulunterricht (ab 1.8.1998) nichts zu tun.

18.

Das mithin dem KMK-Beschluß vom 1. Dezember 1995 widersprechende unzulässige Vorziehen der Rechtschreibreform verletzt auch Rechte der Antragstellerin. Als Erziehungsberechtigte kann sie verlangen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), daß ihre Tochter in der Schule der geltenden Rechtslage gemäß unterwiesen wird (Art. 20 Abs. 3). Das ist nicht der Fall, weil das Vorziehen der Rechtschreibreform von dem KMK-Beschluß nicht gedeckt ist. Dieser Beschluß sieht vor, daß die Rechtschreibreform im gesamten Bundesgebiet einheitlich in Kraft gesetzt wird, also auch zu demselben Zeitpunkt (1.8.1998). Das ist unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung und dem der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie aus der Natur der Sache auch geboten; denn eine geänderte Orthographie kann nur insgesamt, also bundesweit, dem Schulunterricht zugrunde gelegt werden, und nicht in einem Land zu diesem, in einem anderen Land zu einem anderen Zeitpunkt. Sprache ist insofern ein überregionaler Sachverhalt; über die Notwendigkeit der Bundeseinheitlichkeit besteht allgemeine Übereinstimmung (Löwer, RdJB 1997, 226 ff). Zudem bedeutet das Vorziehen der Reform in Niedersachsen, daß die niedersächsischen Schüler ein erhöhtes Risiko zu tragen haben, wenn die Rechtschreibreform geändert oder für unzulässig erklärt wird. Da Schüler in anderen (Bundes-)Ländern dieses Risiko in gleichem Maße nicht zu tragen haben, sind die niedersächsischen Schüler damit gegenüber diesen benachteiligt (zur Unterschiedlichkeit der länderweise getroffenen "Übergangsregelungen", vgl. FAZ v. 13.8.1997, S. 2). Diese gleichheitswidrige Behandlung kann die Antragstellerin kraft ihres Erziehungsrechtes als Verletzung von Rechten ihrer Tochter J. geltend machen. Diese ist vom Vorziehen der Rechtschreibreform in Niedersachsen zwar nicht als Erstkläßlerin betroffen. Sie wird aber bereits seit dem Schuljahr 1996/97 (nur) nach den neuen Rechtschreibregeln unterwiesen, wofür der Antragsgegner verantwortlich ist. Denn zum einen hat er ein Üben nach den als "überholt" bezeichneten alten Regeln untersagt, während (nur) die neue Rechtschreibung als "korrekt zu akzeptieren" sei. Zum anderen hat er die Schulen auch ausdrücklich zu einem allgemeinen "Vorziehen" der Rechtschreibreform ermächtigt. Denn im Erlaß vom 25. August 1996 ist den Schulen bis zum 31. Juli 1998 freigestellt worden, die neuen Rechtschreibregeln in allen Fächern sofort einzuführen (Nr. 4 Satz 1). Das ist an der von der Tochter der Antragstellerin besuchten Grundschule geschehen, wobei hier offen bleiben kann, ob der Beschluß der Gesamtkonferenz vom 27. Januar 1997 in vollem Umfang rechtsfehlerfrei zustande gekommen ist.

19.

Dem Verstoß des Erlasses vom 25. August 1996 gegen den KMK- Beschluß vom 1. Dezember 1995 kann hier die rechtliche Relevanz auch nicht unter Hinweis auf die beschränkte Bindung solcher Beschlüsse abgesprochen werden. Zwar haben KMK-Beschlüsse keine Gesetzeskraft. Sie sind aber auch nicht in allen Fällen nur politische Versprechen oder gar Empfehlungen (so Stein/Roell, Handbuch des Schulrechts, 1988, S. 275 f; für den Regelfall Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, 6. Aufl., S. 9, 181). Nach ganz überwiegender Auffassung kann den Beschlüssen der KMK vielmehr je nach Gegenstand und Inhalt durchaus ein Rechtsfolgewille zukommen, der dem Beschluß als Koordinierungsabsprache eine rechtliche Bindung wie ein Verwaltungsabkommen (Ressortabkommen) verleiht, von dem sich die Koordinierungsabsprache nur dadurch unterscheidet, daß sie nicht "self-executing" ist, sondern noch der innerstaatlichen Umsetzung bedarf (vgl. im einzelnen Rudolf, HStR IV, S. 1115/1118 f. m.w.N.; Knoke, Die KMK und die MP-Konferenz, 1966, S. 49 ff., 89 f. m.w.N.; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 182 ff, 571 m.w.N.; Hofmann, Die Bundesrepublik Deutschland, ein gouvernementaler Bundesstaat, 1980, S. 15 ff., 25 ff. m. N.). Danach besteht hier kein Zweifel, daß eine auch rechtliche Bindung aller Kultusminister an den Beschluß zur Rechtschreibreform vom 1. Dezember 1995 eingetreten ist. Denn schon der auf eine bundeseinheitliche Umsetzung angewiesene Gegenstand des Beschlusses begründet bei der Rechtschreibung nach dem Verfassungsprinzip der Bundestreue (vgl. Leibholz/Rinck, GG. Art. 20 Rn. 66 ff. m. N.) eine Rechtspflicht der Länder zur Kooperation und übereinstimmenden Regelung. Da die Auswirkungen dieser Regelung nicht auf den Raum eines Landes begrenzt werden können, besteht im Rahmen dieses "Interförderationsrechts" damit auch eine verfassungsrechtliche Unterlassungspflicht jedenfalls des Kultusressorts, von dem KMK-Beschluß durch ein Vorziehen der Reform abzuweichen (vgl. Rudolf, a.a.O., S. 1119; Hofmann, a.a.O., S. 15; Oppermann, a.a.O., S. 161).

20.

c) Der Erlaß vom 25. August 1997 ist ferner verfahrensfehlerhaft ergangen, weil er nicht entsprechend § 122 Abs. 2 NSchG im Entwurfsstadium dem Landtag zur Stellungnahme zugeleitet worden ist.

21.

Nach dieser Vorschrift hat das Kultusministerium, bevor Rahmenrichtlinien erlassen werden, den Landtag rechtzeitig über den Entwurf und die Stellungnahme des Landesschulbeirats zu unterrichten. Das gilt auch dann, wenn solche Richtlinien auf Bundesebene vereinbart worden sind, und hat so rechtzeitig zu geschehen, daß die Stellungnahme des Landtags noch berücksichtigt werden kann (Woltering/Bräth, NSchG, 3. Aufl., § 122 Anm. 8; Seyderhelm/Nagel, NSchG, § 122 Anm. 9). Dieses nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwGE 57, 360, 364; OVG Lüneburg, OVGE 36, 401, 409 m.N.; ebenso Seyderhelm/Nagel, a.a.O., Anm. 7; Heckel/Avenarius, a.a.O., S. 170 m. N.; a.A. Evers, RdJB 1982, 227 ff m. N.; Stein/Roell, a.a.O., S. 15) den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Gebot erfaßt nach seinem Wortlaut nur die fächerbezogenen Grundzüge von Lernzielen, didaktischen Grundsätzen und Unterrichtsinhalten in Konkretisierung des gesetzlichen Bildungsauftrags (§ 2 Abs. 1 NSchG). Nach ihrem Sinngehalt ist die Pflicht zur vorherigen Beteiligung des Landtags aber auch auf andere Verwaltungsvorschriften des MK zu erstrecken, die die Rechtssphäre der Schüler/innen mit vergleichbarem Gewicht berühren. Diese Voraussetzung ist - wie noch auszuführen - bei dem Erlaß vom 25. August 1996 zur Umsetzung der Rechtschreibreform erfüllt.

22.

2. Kann die Antragstellerin schon wegen des unzulässigen Vorziehens der Rechtschreibreform verlangen, daß die Unterrichtung ihrer Tochter danach vorläufig unterbleibt, so kann offen bleiben, inwieweit sich ein derartiger Anspruch auch aus einer Unzulässigkeit der endgültigen Einführung der Rechtschreibreform zum vorgesehenen Zeitpunkt ergibt. Diese Frage ist - wie unter 1. dargelegt - hier nicht abschließend zu entscheiden. Gleichwohl bestehen in dieser Richtung erhebliche Zweifel. Sie ergeben sich nicht erst aus dem Vorbehalt des Gesetzes (dazu b.), sondern folgen schon aus der Frage, inwieweit die Sprache - als mündliche wie als schriftliche - Verfügungsgut des Staates (Mahrenholz, SZ v. 23./24.8.1997; so in Ansatz auch OVG-Schleswig, Beschl. v. 13.8.1997 - 3 M 17/97 - DVBl. 1997, 1193 f) und damit hoheitlicher Regelung zugänglich ist (a.).

23.

a) Es spricht vieles dafür, daß die Rechtschreibung als Teil der gelebten Sprache staatlicher Regelungsgewalt weithin entzogen ist (Mahrenholz a.a.O.). Als Orthographie bezieht sie sich auf die Schriftsprache und deren "richtige" Schreibweise. Die Schriftsprache setzt sich von der gesprochenen Sprache, die sich im deutschen Sprachraum vielfach unterscheidet, dahingehend ab, daß sie in Form der (einheitlichen) "Hochsprache" auftritt (Schriftdeutsch). Wie die mündliche Sprache könnte auch die Schriftsprache allein Sache des ("Sprach"-)Volkes sein. Dieses hat im Laufe der Zeit dabei vielfache Veränderungen vorgenommen, insbesondere die Schreibweise von Wörtern Wandlungen unterworfen, und zwar ohne staatliche Einwirkung. Es ist möglich, daß es dabei weiterhin zu verbleiben hat, so daß staatliche Eingriffe in der Art der vorliegenden Reform nicht zulässig sind, und zwar auch nicht für den Bereich des Rechtschreibunterrichts in Schulen. Denn in der verfassungstheoretischen Unterscheidung von Staat und Gesellschaft gehört die Sprache zu den Gegenständen, die der Staat prinzipiell nicht ordnet; ihr vorstaatlicher Charakter bewirkt eine fortdauernde grundsätzliche Entstaatlichung der Sprache (Löwer, RdJB 1997, 226 m. N.). Dazu im einzelnen:

24.

Mit der Rechtschreibreform, wie sie der Anlage der "Wiener Absichtserklärung" vom 1. Juli 1996 zugrunde liegt, die wiederum Gegenstand des KMK-Beschlusses vom 1. Dezember 1995 und durch den Erlaß des Antragsgegners vom 25. August 1996 für die Schulen in Niedersachsen verbindlich gemacht worden ist, sind einschneidende Veränderungen in den Bestand der geltenden Orthographie verbunden. Intention der Reformer war, die Rechtschreibung zu vereinfachen, um der (allgemein verbreiteten) Bewertung von Rechtschreibfehlern als Zeichen von Mangel an Bildung entgegenzuwirken (s. Drosdowski im Vorwort zur "Duden"-Broschüre "Information zur neuen deutschen Rechtschreibung", 1994; vgl. z.B. auch schon Vorwort zur 17. Aufl. des "Duden", 1973). Die danach vorgenommenen Änderungen, die z. T. auch in einer Systematisierung bestehen, der Beseitigung von "Ausnahmen" von (vermeintlichen) Regeln, können hier nicht im einzelnen dargestellt werden, zumal auch durchaus unklar sein mag, was im Einzelfalle "geltende" Rechtschreibregel sein soll. Hervorzuheben sind aber immerhin folgende Neuregelungen:

25.

1. Neuschreibungen aufgrund eines sog. "Stammprinzips" (z.B. behände statt behende; belämmert statt belemmert; Gämse statt Gemse; nummerieren statt numerieren; platzieren statt plazieren; schnäutzen statt schneutzen; Stängel statt Stengel; überschwänglich statt überschwenglich; verbläuen statt verbleuen; Ausnahme aber weiterhin: Eltern statt "Ältern");

26.

2. ß nur nach langem Vokal oder Diphthong, sonst ss; § 25 des neuen Regelwerks (z.B. Boss statt Boß; Entschluss statt Entschluß; Fluss statt Fluß); hierzu gehört auch die Konjunktion "daß", die neu "dass" zu schreiben ist;

27.

3. Zulässigkeit von Doppelschreibungen bei bestimmten Fremdwörtern, § 20 Abs. 2 und § 32 Abs. 2 (z.B. Foto neben Photo; fantastisch neben phantastisch; danach wohl auch zulässig: Fantasie neben Phantasie; Jogurt neben Joghurt; Spagetti neben Spaghetti; Majonäse neben Mayonnaise; Kommunikee neben Kommunique; Nessessär neben Nessesaire; Orthografie neben Orthographie; potenziell neben potentiell; Justiziar neben Justitiar);

28.

4. Schreibungen dreier Konsonanten hintereinander (z.B. Schifffahrt statt Schiffahrt);

29.

5. Konsonantenverdoppelung (z.B. Ass statt As; Tipp statt Tip);

30.

6. Wegfall des "h" am Wortende (rau statt rauh; Substantiv - wie bisher - Rauheit; aber Rohheit statt Roheit - bei bleibendem "roh", ebenso Zähheit statt Zäheit);

31.

7. Neuschreibungen (selbstständig statt selbständig; Zierrat statt Zierat);

32.

8. Kleinschreibung des Anredepronomens "Du", § 66;

33.

9. unverbindliche Kommaregel bei Infinitivsätzen (§ 76) und bei mit "und", "oder" verbundenen Sätzen (§ 72, 73).

34.

In der "Duden"-Information heißt es zur Rechtschreibreform u.a.: Eingriffe in die historisch gewachsene Rechtschreibung seien nicht "mit der Brechstange" möglich; sie bräuchten Augenmaß und Behutsamkeit; es sei ein Anfang gemacht, weitere Vereinfachungen und Verbesserungen könnten folgen (S. 7). Bei der Fremdwörterschreibung werde die Anpassung an die "deutsche Schreibung" dort, wo sie bereits angebahnt sei, "vorsichtig gefördert", und zwar i.S. einer "gezielten Variantenführung" (S. 24), die, wenn sich im Laufe der Zeit eine eindeutschende Schreibung beim überwiegenden Teil der Schreibenden durchgesetzt haben werde, zugunsten der Neuschreibungen entfallen könne (S. 25). Hiernach und nach den dargestellten Änderungen steht außer Frage, daß es den Reformern auch um eine "Weiterentwicklung der deutschen Rechtschreibung" gegangen ist (so ausdrücklich "Duden"- Information S. 14 und 19), wobei auch einer (etwaigen) sprachlichen Entwicklung bewußt vorgegriffen, bzw. eine solche erst in Gang gesetzt werden sollte.

35.

Das Ergebnis dieser Reformbemühungen ist die Anlage zur Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996, wonach die Unterzeichner bekunden, sich innerhalb ihres Wirkungsbereiches für die Umsetzung des Regelwerkes einzusetzen. Dieses, "Deutsche Rechtschreibung - Regeln und Wörterverzeichnis - Amtliche Regelung" genannt, soll nach seinem Vorwort als "amtliches Regelwerk" die Rechtschreibung innerhalb derjenigen Institutionen (Schule, Verwaltung) regeln, für die der Staat Regelungskompetenz hinsichtlich der Rechtschreibung habe. Darüber hinaus wird festgestellt, daß das amtliche Regelwerk zur Sicherung einer einheitlichen Rechtschreibung Vorbildcharakter für alle habe, die sich an einer allgemein gültigen Rechtschreibung orientieren möchten. Danach kann nicht mit Fug daran gezweifelt werden, daß das Regelwerk in der Bundesrepublik Deutschland einheitlich gelten soll. Nur dies entspricht der Absicht der Unterzeichner der "Wiener Absichtserklärung". Nur so ist die Veröffentlichung des neuen Regelwerks im Bundesanzeiger zu begreifen, nur so kann auch der KMK-Beschluß vom 1. Dezember 1995 verstanden werden. Daß danach die Rechtschreibreform (ab 1.8.1998) "nur" für den Schulunterricht für verbindlich erklärt ("in Kraft gesetzt") werden soll, steht dem nicht entgegen. Denn dies beruht offensichtlich (allein) darauf, daß die Kultusminister eine darüber hinausgehende Regelungsbefugnis selbst nicht für sich in Anspruch nehmen. Ihre Absicht, die reformierte Rechtschreibung Allgemeingut werden zu lassen, kann indessen nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Denn zum einen würde sie dies ohnehin über kurz oder lang, da kaum anzunehmen ist, daß Schüler sich später von der erlernten Rechtschreibung abwenden. Zum anderen vertrauen die Kultusminister fraglos auch auf die "Kraft des Faktischen" (nach Ickler, FAZ vom 29.1.1997: "vorauseilender Gehorsam"; Hufeld, JuS 1996, 1272/1275 spricht insoweit von "Beflissenheit"). Insoweit zeigt sich auch bereits jetzt deutlich der "Vorbildcharakter" der Rechtschreibreform: Die neuen Regeln/Schreibungen werden auch in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht (s. etwa die Beilage zur Zeitung "Die Woche" Nr. 35/97 oder die "Hörzu-special"-Beilage zu Heft 37/97) und auch schon selbst praktiziert ("Die Woche", Leitartikel in Nr. 35: "Die Rechtschreib-Lüge"). Auch sonst ist verschiedentlich angekündigt worden, die Rechtschreibreform zu übernehmen (vgl. dazu Kissel, NJW 1997, 1097/98 f).

36.

Vor allem wären die Kultusminister - und so auch der Antragsgegner - gar nicht berechtigt, eine gesonderte "Schul- Rechtschreibung" einzuführen. Denn das wäre mit dem Recht auf Bildung (Art. 4 Abs. 1 NV), das sich in dem Bildungsauftrag der Schule manifestiert, unvereinbar. Das Erlernen gesonderter, d. h. vom allgemeinen Schreibgebrauch abweichender Rechtschreibregeln als spezielle "Schülerrechtschreibung" würde dem staatlichen Erziehungsziel widersprechen, dem Schüler die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die ihn befähigen, seine Ausdrucksmöglichkeiten zu entfalten und sich im Berufsleben zu behaupten (§ 2 Abs. 1 Sätze 3 und 4 NSchG), jedenfalls solange, bis sich die neue Rechtschreibung (infolge ihrer schulischen Vermittlung) allgemein durchgesetzt hat.

37.

Ist danach davon auszugehen, daß die streitige Rechtschreibreform mit ihren gegenüber der derzeitigen Schreibpraxis erheblichen Änderungen, dem gezielten Vorgriff auf nur möglichen Entwicklungen und ihrem "Vorbildcharakter" bisher übliche Schreibungen allgemein ersetzen soll, folgt daraus zwangsläufig, daß bereits mit ihrer Einführung an den Schulen ihre Allgemeinverbindlichkeit angestrebt wird. Die Schule soll eine "Vorreiterrolle" für eine in Teilbereichen völlig neue und bisher ungebräuchliche Rechtschreibung übernehmen und die Gesellschaft anleiten, wie sie "richtig" zu schreiben hat (Mahrenholz a.a.O.; VG Hamburg a.a.O.). Gegenüber dieser Absicht ist unerheblich, daß eine rechtliche Durchsetzbarkeit dieser Wirkung nicht besteht (insoweit differenzierend BVerfG, Kammerbeschl. v. 21.6.1996, 1 BvR 1057/96 u.a., NJW 1996, 2221/22; Hufeld, JuS 1996, 1072/75; Hufen, JuS 1997, 170/71; Roellecke a.a.O.; Jauernig, JuS 1997, 191). Die Betonung dieses rein rechtlichen Aspekts übersieht - über die Absicht der Kultusminister hinaus - die faktische Bedeutung und den sich daraus ergebenden "Anpassungsdruck" (s. dazu Kopke, JZ 1995, 874/877 f; NJW 1996, 1081/84; Gröschner/ Kopke, JuS 1997, 298/299).

38.

Soll aber mit der Rechtschreibreform die Orthographie der gesamten (schreibenden) Bevölkerung beeinflußt und verändert werden, so stellt sich die Rechtsfrage, ob die damit bezweckten Eingriffe in den vorhandenen (gewachsenen) Bestand der Rechtschreibung durch vom Staat - in welcher Form auch immer - vorgegebene Änderungen überhaupt zulässig sind. So weist Kopke (JZ 1995, 874/75) darauf hin, daß offenbleibe, woraus sich die von den Reformern (im Vorwort zum "amtlichen Regelwerk" angesprochene und) in Anspruch genommene staatliche Regelungsgewalt ergebe; auch die - letztlich - geübte "Zurückhaltung" der Reformer spreche eher für die "Unzulässigkeit staatlicher Eingriffe in die Orthographie" (NJW 1996, 1081/82). Auch Löwer (a.a.O., S. 226) vertritt die Ansicht, daß die Sprache nach dem GG überhaupt nicht Gegenstand durchgreifender hoheitlicher Ordnung sein soll, und spricht dem Staat grundsätzlich die Kompetenz ab, seinen Bürgern Sprache - auch in deren Schreibweise - hoheitlich vorzuschreiben. Hufen hält immerhin die Frage für klärungsbedürftig, ob die staatliche Verfügung über die Sprache als ein wesentliches Element der Persönlichkeitsentfaltung in einem so wenig transparenten Verfahren wie geschehen vonstatten gehen kann; das schließe die Frage ein, wie weit die Macht von ebensowenig transparent zusammengesetzten Expertengremien reichen darf. Auch Kissel spricht von einer Frage der "Regelbarkeit überhaupt" (NJW 1997, 1097/99). Diese Frage kann nicht, wie es das OVG Schleswig getan hat (a.a.0), dadurch umgangen werden, daß lediglich auf eine Akzeptanz-Prognose abgestellt wird. Denn damit wird verkannt, daß die Rechtschreibreform nicht "Diskussionsgrundlage", sondern für Schüler/innen verbindlich ist und darüber hinaus mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit auftritt, und das nicht nur für den Fall einer allgemeinen Akzeptanz. Daß die Rechtschreibreform für künftige Änderungen offen sein mag, ändert nichts daran, daß durch sie die jetzt gültige Rechtschreibung geregelt werden soll. Ebensowenig kann die - nicht begründete und infolgedessen auch nicht als mehr denn ein obiter dictum zu wertende - Aussage der Kammer des BVerfG (a.a.O., S. 2222) als letztes Wort zu der in Rede stehenden Problematik angesehen werden, Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip schützten nicht davor, daß der Bf. mit neuen Schreibweisen konfrontiert werde, weil diese in der Schule gelehrt würden (ebenso Wimmer, DVBl. 1996, 1208 f.). Das gilt jedenfalls insoweit, als damit ein Abwehrrecht verneint worden sein sollte. Nach Ansicht des Senats begegnet eine staatliche Regelungskompetenz in bezug auf die Schreibung der (Schrift-) Sprache weiterhin durchgreifenden Zweifeln. Sprache ist nicht einfach "Manövriermasse" staatlicher Instanzen (Häberle, JZ 1996, 719), so daß dem Bürger insoweit durchaus ein Abwehrrecht zur Seite stehen kann.

39.

Nach Kirchhoff (in Isensee/Kirchhoff, HStR, I, 1987, S. 745 ff.), der nicht zwischen Wort- und Schriftsprache unterscheidet und auf den das Verwaltungsgericht zu Recht verwiesen hat, ist individuelle Handlungsfreiheit in personaler Würde auch "Sprechfreiheit" (Rdnr. 7); sie ergibt sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG). Sprache ist ein im Gemeingebrauch stehendes Gut (Rdnr. 15). Der Staat Bundesrepublik Deutschland baue auf einer vorgefundenen, natürlichen, deutschsprachigen Gemeinsamkeit der in seinem Gebiet lebenden Menschen auf (Rdnr. 30), die eine Sprachgemeinschaft bildeten. "Deutsch" sei als Umgangs- und Staatssprache das Mittel, das den Einzelnen in die Kultur- und Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland einbindet; diese müsse deshalb die einheitsbildende und einheitswahrende Sprache pflegen und stets zu neuer Entfaltung bringen (Rdnr. 50), d. h. den vorgefundenen Bestand an deutscher Sprache wahren und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten fördern (Rdnr. 51). Der "kulturstaatliche Auftrag zur Sprachpflege" sei aber nicht Blankettvollmacht zur Sprachbeeinflussung und Sprachlenkung; Sprachpflege wahre Bestand und sichere seine Entfaltung, Sprachbeeinflussung dagegen suche, die Begriffsbildungen und Sichtweisen innerhalb der gemeinsamen Sprache zu formen und dadurch die Sprachgemeinschaft auf bestimmte Ziele auszurichten, ihr Werte zu vermitteln, sie zur Ablehnung oder Unterstützung bestimmter Ziele zu veranlassen, ihre Kritik oder Zustimmung zu gewinnen. Diese Sprachbeeinflussung plane Sprachentwicklungen, z. B. durch eine Reform der Schreibweise und Begriffsbildung, mißbillige von Amts wegen bestimmte, z. B. einer fremden Sprache entlehnte Sprechweisen, empfehle andere Wortprägungen (Rdnr. 52).

40.

Die hier streitige Rechtschreibreform kann durchaus als eine derartige Sprachbeeinflussung angesehen werden, indem sie neue Schreibungen "empfiehlt", teilweise sogar neue Wörter schöpft und möglicherweise auch auf persönliche Einstellungen einwirken will (s. Kleinschreibung des Anredepronomens "Du", § 66 des Regelwerks; dazu "Duden"-Information S. 27). Hinzukommt, daß eine Rechtschreibreform des hier in Rede stehenden Ausmaßes (schon die Änderungen bei der ß-Schreibung sind ganz beträchtlich; dazu vielfache Doppelschreibungen bei Fremdwörtern) auf Jahre hinaus uneinheitliche Schreibungen zur Folge hätte, was mit der Verpflichtung des Staates, die Gemeinsamkeit der Sprache zu fördern (Kirchhoff, Rdnr. 63), unvereinbar ist.

41.

Auch Mahrenholz (a.a.O.) meint, daß die Sprache weder als mündliche noch als schriftliche Verfügungsgut des Staates sei. Insofern gebe es kein Recht, über die Schule die Gesellschaft anzuleiten, wie sie richtig zu schreiben hat, was aber unausweichliche Folge der Änderung der zu lehrenden Schriftsprache an den Schulen sei. Die Kultusminister mögen im Interesse ihrer Verantwortung dafür, daß das Erlernen der Rechtschreibung nicht unnötig erschwert wird, Fehlerquellen dort beseitigen können, "wo sie das Schriftgewand nicht beschädigen und nicht den Ausdruck gedanklicher Nuancen unterbinden". Bei der "Neuregelung der Daß-Schreibung" sei eine solche Kompetenz aber überschritten. Auch ein Gesetzgeber könne das nicht regeln. Im freiheitlichen Staat gebe es keine "Totalität der Parlamentskompetenz": Wo die Kultusminister "ihr Recht verloren haben, haben die Landtage keins gewonnen". Zu Recht spricht auch Kopke (Rechtschreibreform und Verfassungsrecht, 1995) von einer "Eigengesetzlichkeit der deutschen Rechtschreibung", die sich aus ihrer geschichtlichen Entwicklung ergebe (S. 393); diese bestehe darin, daß sie mit geringfügigen staatlichen Eingriffen durch die Arbeit von Schriftstellern und Grammatikern geprägt wurde, vor 200 Jahren im wesentlichen unseren heutigen Stand erreichte und in der Folgezeit - mit Ausnahme der Eindeutschung von Fremdwörtern - nur noch um ihre Vielfalt reduziert wurde (S. 400). Das "Kulturstaatsprinzip" verpflichte Bund und Länder, die deutsche Rechtschreibung in ihrer Eigengesetzlichkeit zu achten und zu schützen; eine Rechtschreibreform, bei der bislang völlig unbekannte Schreibweisen eingeführt würden, sei daher unzulässig (S. 400).

42.

Selbst wenn unterstellt würde, daß die streitige Reform sich ausschließlich auf den Bereich der Schule beschränkt, würden die aufgezeigten rechtlichen Bedenken damit nicht entfallen. Denn auch dann wäre eine staatliche Normierung der Rechtschreibung nicht inhaltlich frei gestaltbar. Kinder lernen die kulturellen Grundfertigkeiten auf die Integration in jene Gesellschaft hin, zu der sie gehören, sollen also auch jene Sprache schreiben lernen, die diese Gesellschaft sich gibt (Löwe a.a.O., S. 227). Die staatliche Normierung darf deshalb auch in diesem Bereich grundsätzlich nur Nachvollzug eines gesellschaftlichen status quo in einem bestimmten Zeitpunkt sein, also Revision i. S. der Anpassung an eingetretene Wandlungen und nicht eigentlich Reform i.S. des Motors der Änderung (Löwer a.a.O.). Diese Grenze dürfte indessen von der vorliegenden Reform überschritten sein (zweifelnd insoweit Löwer a.a.O.).

43.

b. Unabhängig von der Frage staatlicher Regelungskompetenz überhaupt spricht aus den unter a.) dargelegten und den vom Verwaltungsgericht ausgeführten Gründen vieles dafür, daß bei Bejahung der Frage die vorliegende Reform als "wesentliche" Entscheidung jedenfalls einer gesetzlichen Grundlage bedürfte. Insoweit wird im einzelnen ergänzend auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses verwiesen.

44.

Nicht stichhaltig erscheint der dagegen erhobene Einwand, eine gesetzliche Regelung könnte insoweit keinerlei "rechtsstaatlichen Gewinn" bringen, weil sie notwendig ebenso pauschal und blanquettartig sein müßte, wie ein KMK-Beschluß und ein darauf beruhender Erlaß. Denn der in der Verfassungsordnung des GG statuierte Steuerungsanspruch des formellen Gesetzes (Schuppert, DVBl. 1997, 993, 896) ist durchaus der Abstufung zugänglich und reicht in seiner Intensität vom Gesetzesbefehl bis zur Handlungsermächtigung oder gesetzlichen Schrankenziehung. Deshalb ließe sich eine gesetzliche Regelung im Bereich der Rechtsschreibreform auch auf eine parlamentarische Leitentscheidung jedenfalls hinsichtlich der Reichweite und Richtung einer über den Nachvollzug (sprach)gesellschaftlicher Wandlungen hinausgehenden Reform sowie der von ihr ggf. anzulegenden linguistischen Kriterien beschränken.

45.

Ebensowenig überzeugen die Einwände gegen die Annahme eines "Eingriffs" in die rechtlich geschützte Sphäre durch die Inkraftsetzung der Reform. Daß die verbindliche Einführung der neuen Rechtschreibung im Schulunterricht jedenfalls für die betroffenen Schüler - und damit hier die Tochter der Antragstellerin - einen Eingriff in diesem Sinne darstellt, dürfte nicht zweifelhaft sein. Soweit es die Auswirkungen auf das Schreibverhalten der Sprachgemeinschaft insgesamt betrifft, ist auf die unter a.). aufgezeigte, von der Reform beanspruchte allgemeine "Vorbildfunktion" und die bewußte Indienstnahme der Schule als Vorreiter und Instrument zur Sprachbeeinflussung der gesamten Gesellschaft zu verweisen. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung "mittelbare Grundrechtseingriffe" auch bei staatlichen Maßnahmen mit lediglich warnendem bzw. empfehlenden oder appellativen Charakter bejaht worden sind (vgl. z. B. BVerwGE 82, 76, 79; 87, 37, 42; 90, 112, 119 ff jeweils m.w.N.; zum "appellativen" Eingriff BVerfGE 93,1, 20).