Bundesverfassungsgericht (1. Senat)
Beschluß vom 31. Januar 1952
- 1 BvR 68/
51 -

 (weitere Fundstellen: BVerfGE 1, 109 ff.)

 

Leitsätze:

1.

Im Verfahren über Verfassungsbeschwerden ist die Bewilligung des Armenrechts an den Beschwerdeführer zulässig.

2.

Die Beiordnung eines Armenanwalts ist nicht nur für die unter Anwaltszwang fallende mündliche Verhandlung, sondern auch für das schriftliche Verfahren zulässig

3.

Die Auswahl des beigeordneten Anwalts erfolgt aus der Zahl der bei deutschen Gerichten zugelassenen Rechtsanwälte.

4.

Der beigeordnete Anwalt hat im Verfahren der Verfassungsbeschwerde Ansprüche nach dem Gesetz betr. Erstattung von Rechtsanwaltsgebühren in Armensachen.

 

Aus den Gründen:

1.

1. Die als Brennhausarbeiterin tätige Beschwerdeführerin hat gegen das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie trägt vor, ihr seien unmittelbar durch das Gesetz Gehalts- und Versorgungsansprüche genommen worden, auf die sie als Erbin und Witwe ihres verstorbenen Ehemannes einen Rechtsanspruch habe; denn ihr Ehemann sei nach dem Zusammenbruch als früheres Mitglied der NSDAP automatisch vom Dienst suspendiert worden, ohne daß er dadurch seine Gehaltsansprüche verloren habe. Die durch das Gesetz bewirkte Beseitigung ihrer Rechtsansprüche verletze die Grundrechte der Art. 3 und 14 GG, sowie weitere im überstaatlichen Recht wurzelnde Grundrechte.

2.

Die Beschwerdeführerin hat beantragt, ihr zur Durchführung des Verfahrens das Armenrecht zu bewilligen und Rechtsanwalt Dr. W. in R. beizuordnen.

3.

2. a) Die Rechtsfrage, ob überhaupt im Verfahren der Verfassungsbeschwerde dem Beschwerdeführer das Armenrecht bewilligt werden kann, ist zu bejahen.

4.

Nach Art. 94 Abs. 2 GG ist die Regelung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht einem besonderen Bundesgesetz vorbehalten. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht selbst enthält keine Vorschriften über das Armenrecht. Aus seinem Schweigen kann aber nicht der Ausschluß jeder Armenrechtsbewilligung gefolgert werden. Denn das BVerfGG enthält keine erschöpfende Verfahrensregelung, sondern beschränkt sich auf wenige, unbedingt erforderliche, den Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens angepaßte Bestimmungen. Im übrigen ist es dem Gericht überlassen, die Rechtsgrundlagen für eine zweckentsprechende Gestaltung seines Verfahrens im Wege der Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrensrecht zu finden.

5.

Für die zur Entscheidung stehende Rechtsfrage ist zu beachten, daß grundsätzlich für alle Verfahren vor Gerichten des Bundes und der Länder die Möglichkeit der Bewilligung des Armenrechts vorgesehen ist. Nach Art. 20 Abs. 1 und 3 GG ist die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Diesem Verfassungsgrundsatz würde es widersprechen, wenn eine Partei lediglich durch Armut daran gehindert werden könnte, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen, sofern sie nicht mutwillig handelt und die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Deshalb gelten die Vorschriften über die Bewilligung des Armenrechts nicht nur für das Verfahren in bürgerlich-rechtlichen Rechtsstreitgkeiten gemäß §§ 114 ff. ZPO, sondern ebenso für das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gemäß § 14 FGG, sowie für das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten der Länder (§ 107 der Verordnung Nr. 165; § 133 der Verwaltungsgerichtsgesetze der Länder Bayern, Württemberg-Baden, Hessen, Bremen; § 97 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 14. April 1950; § 13 Abs. 3 des badischen Verwaltungs-Rechtspflege-Gesetzes vom 14. Juni 1884 in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Januar 1948; §§ 19 und 26 der Rechtsanordnung über die Verwaltungsrechtspflege in Württemberg-Hohenzollern vom 19.8.1946 in Verbindung mit dem württembergischen Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 16. Dezember 1876). Auch die Verfahrensordnung des früheren Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet vom 8. April 1949 (WiGBl. S. 60) sah in.§ 24 die Bewilligung des Armenrechts vor.

6.

In allen diesen Fällen werden die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung über das Armenrecht für entsprechend anwendbar erklärt. Auch im Verfahren vor dem Bayer. Verfassungsgerichtshof, das ebenfalls eine Verfassungsbeschwerde kennt, sind gemäß § 26 der Geschäftsordnung vom 24. Mai 1948 (Bayer. GVBl. S. 121) die Vorschriften des bayerischen Gesetzes Nr. 33 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit und ergänzend die Vorschriften der Zivilprozeßordnung heranzuziehen, so daß sich in jedem Falle die Armenrechtsbewilligung nach zivilprozessualen Vorschriften regelt.

7.

Angesichts dieser Rechtslage trägt das Bundesverfassungsgericht keine Bedenken, im Verfahren der Verfassungsbeschwerde die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Bewilligung des Armenrechts für den Beschwerdeführer entsprechend anzuwenden.

8.

b) Durch die Bewilligung des Armenrechts erlangt die Partei nach § 115 ZPO das Recht, daß ihr zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung ihrer Rechte ein Rechtsanwalt beigeordnet wird, "insoweit eine Vertretung durch Anwälte geboten ist". Da das Verfahren der Verfassungsbeschwerde gemäß § 34 Abs. 1 BVerfGG kostenfrei ist, besteht das entscheidende Interesse der Partei gerade an dieser Beiordnung. Allerdings ist eine Vertretung durch Anwälte gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nur in der mündlichen Verhandlung geboten.

9.

Im vorliegenden Falle hat jedoch die Beschwerdeführerin die Beiordnung des Armenanwalts für das ganze Verfahren beantragt. Auch in diesem Umfang ist der Antrag zulässig. Da die mündliche Verhandlung ohne ausdrücklichen Verzicht der Beschwerdeführerin gemäß § 25 Abs. 1 BVerfGG obligatorisch ist, könnte das ganze Verfahren der Verfassungsbeschwerde möglicherweise als "Anwaltsverfahren" angesehen werden. Auch in den sogenannten "Anwaltsprozessen" der Zivilprozeßordnung gibt es anwaltsfreie Teilverfahren - z.B. vor dem beauftragten oder ersuchten Richter -, auf die sich die Beiordnung des Armenanwalts ohne weiteres erstreckt (vgl. hierzu Stein-Jonas, 17. Aufl., § 115 Anm. V; Baumbach-Lauterbach, 20. Aufl., § 115 Anm. 5 B; ferner die in JW 1930, 731 im einzelnen angegebenen Entscheidungen).

10.

Sollte aber die entsprechende Anwendung des § 115 ZPO nur zur Beiordnung eines Anwalts für die mündliche Verhandlung führen, so könnte die Beschwerdeführerin ihren Antrag auf eine darüber hinausgehende Beiordnung jedenfalls aus den Rechtsanwaltsordnungen herleiten. Schon § 34 der früheren Reichsrechtsanwaltsordnung bestimmte, daß einer Partei, der das Armenrecht bewilligt ist, auch insoweit, als eine Vertretung durch Anwälte nicht geboten ist, auf Antrag ein Armenanwalt beigeordnet werden kann. Diese Vorschrift ergänzte die Armenrechtsvorschriften der Zivilprozeßordnung und war auch in allen Fällen ihrer entsprechenden Anwendung heranzuziehen. Allerdings besteht gegenwärtig eine einheitliche Rechtsanwaltsordnung für die Bundesrepublik nicht, sondern es sind in sämtlichen Ländern entweder völlig neue Gesetze an ihre Stelle getreten, oder es ist kraft Landesrechts die vor 1933 geltende Rechtsanwaltsordnung mit gewissen Änderungen wieder für anwendbar erklärt worden. Sämtliche geltenden Rechtsanwaltsordnungen enthalten jedoch eine dem § 34 entsprechende Regelung. Ferner bestimmt Art. 8 Nr. 89 Abs. 8 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. September 1950 (BGBl. S. 455 ff.), daß für die Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof die Rechtsanwaltsordnung für die Britische Zone gilt, deren § 44 ebenfalls die Möglichkeit der Beiordnung eines Armenanwalts für gerichtliche Verfahren ohne Anwaltszwang vorsieht. Es bestehen daher keine Bedenken, diese Vorschriften im Verfahren über Verfassungsbeschwerden entsprechend anzuwenden.

11.

3. Der zulässige Antrag auf Bewilligung des Armenrechts und Beiordnung eines Anwalts für die gesamte Verfassungsbeschwerde ist auch sachlich begründet. Die Armut der Beschwerdeführerin ist gemäß § 118 ZPO dargelegt. Die zur Entscheidung stehende Frage der verfassungsmäßigen Gültigkeit des angefochteten Gesetzes wird in der Rechtswissenschaft verschieden beantwortet. Eine große Anzahl entsprechender Verfassungsbeschwerden gegen dasselbe Gesetz liegt dem Bundesverfassungsgericht vor. Angesichts der schwierigen Rechts- und Sachlage ist die Rechtsverfolgung weder mutwillig noch ohne hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO. Auch ist es nicht mutwillig, wenn die Beschwerdeführerin auf ihr Recht zur Erörterung des schwierigen Streitstoffes in der mündlichen Verhandlung nicht verzichtet.

12.

4. a) Über die Auswahl des beizuordnenden Anwalts enthält die Zivilprozeßordnung keine Bestimmung. Sämtliche Rechtsanwaltsordnungen ergänzen sie dahin, daß die Auswahl aus der Zahl der bei dem betreffenden Gericht zugelassenen Rechtsanwälte erfolgt. Diese Vorschrift kann jedoch für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht entsprechend angewandt werden, weil es hier keine besondere Anwaltszulassung gibt. Es liegt auch kein innerer Grund vor, nur beim Bundesgerichtshof zugelassene Rechtsanwälte auszuwählen. Von der Beschränkung des Auftretens der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Anwälte auf dieses Gericht hat der Bundesjustizminister zwar zugunsten des Bundesverfassungsgerichts eine Ausnahme zugelassen (Art. 8 Nr. 89 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. September 1950 in Verbindung mit der Verfügung des Bundesjustizministers an die Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof vom 7. Mai 1951 - 3173-11368/51 -). Dadurch aber wird die Freiheit des Bundesverfassungsgerichts bei der Auswahl des Armenanwalts nicht eingeschränkt.

13.

Eine entsprechende Anwendung des § 46 der RAO BritZ oder der ihr entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen der übrigen Länder, die eine Beschränkung in der Auswahl des Armenanwalts vorsehen, scheidet daher aus. Vielmehr kann die Auswahl aus dem Kreise sämtlicher bei deutschen Gerichten zugelassener Rechtsanwälte vorgenommen werden.

14.

b) Im vorliegenden Falle ist entsprechend dem Antrage der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt Dr. W. beigeordnet worden. Dabei ist erwogen worden, daß die Beschwerdeführerin angesichts der zu entscheidenden schwierigen Tat- und Rechtsfrage und angesichts ihres Bildungsgrades nicht in der Lage wäre, einen Rechtsanwalt am Sitz des Bundesverfassungsgerichts schriftlich hinreichend zu unterrichten, und daß es, wenn nicht besondere Gründe vorliegen, angezeigt ist, dem Antragsteller den Anwalt seines Vertrauens beizuordnen.

15.

5. Es sei in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen, daß der Anwalt Ansprüche nach dem Gesetz betr. Erstattung von Rechtsanwaltsgebühren in Armensachen geltend machen kann. Denn wenn dieses Gesetz sich auch nur auf bestimmt bezeichnete Rechtsstreitigkeiten bezieht, so hängt es doch so unmittelbar mit den Armenrechtsvorschriften der Zivilprozeßordnung zusammen, daß es auch in solchen Fällen herangezogen werden muß, in denen die §§ 114 ff. ZPO entsprechende Anwendung finden und keine besonderen Vorschriften für die Erstattung von Armenanwaltsgebühren bestehen (vgl. OGH BZ in NJW 1950, 426; ferner für das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit: KG in JW 1933, 1262 und 1936, 1793; ferner Baumbach-Lauterbach, Kostengesetze, 10. Aufl., S. 646).