Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil vom
29. April 1987
- 7 N 86.00388 -

(weitere Fundstellen: NJW 1988, 1405 f.)

Leitsatz:

Der an bayerischen Gymnasien nur für Mädchen vorgesehene Pflichtunterricht im Fach Handarbeiten ist mit dem Gleichberechtigungssatz (Art. 3 Abs. 2 GG) nicht vereinbar.

Aus den Gründen

1.

1. Die Normenkontrollanträge (§ 47 VwGO, Art. 5 AGVwGO) sind zulässig. Sie sind dahin auszulegen, daß die Nichtigkeit der Stundentafeln in der Anlage 1 zur Gymnasialschulordnung – GSO – vom 16.6.1983 (GVBl. S. 681), geändert durch Verordnung vom 6.3.1986 (GVBl. S. 29), geltend gemacht wird, soweit darin für die Jahrgangsstufen 5 und 6 Handarbeiten als Pflichtfach nur für Mädchen festgelegt ist. Da die Antragstellerin zu 1 die Jahrgangsstufen 5 und 6 bereits durchlaufen hat, ist des weiteren davon auszugehen, daß sich ihr Antrag allein auf die Stundentafel des von ihr besuchten Neusprachlichen Gymnasiums (Anlage 1 Buchst. C zu § 19 GSO) bezieht. Der Antrag der Antragstellerin zu 2 hingegen, die derzeit die 5. Jahrgangsstufe besucht, richtet sich nach Sinn und Wortlaut gegen die Stundentafeln aller Gymnasien, die Pflichtunterricht in Handarbeiten nur für Mädchen vorsehen (Anlage 1 Buchst. A, B, C, D, E und G).

2.

Für die so auszulegenden Anträge besteht die nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO erforderliche Antragsbefugnis. ...

3.

2. Die Normenkontrollanträge sind auch begründet. Der in der Gymnasialschulordnung ausschließlich für Mädchen vorgesehene Pflichtunterricht im Handarbeiten ist mit Art. 3 Abs. 2 GG nicht vereinbar. Für den Normenkontrollantrag ist allein die Ungleichbehandlung der Mädchen von Bedeutung.

4.

a) Art. 3 Abs. 2 GG ("Männer und Frauen sind gleichberechtigt") enthält eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes (BVerfGE 3, 225/239 f.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich dabei um eine Spezialregelung der Gleichheit von Mann und Frau, welche die sonst dem Gesetzgeber zustehende Freiheit weiter einschränkt, innerhalb gewisser äußerster Grenzen selbst die Vergleichstatbestände zu bestimmen, an denen er seine Regelung ausrichten will (vgl. BVerfGE 37, 217/259 = BayVBl. 1974, 668; 52, 369/374; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Rdnr. 4 zu Art. 3 Abs. 2). Danach darf die Verschiedenheit der Geschlechter grundsätzlich nicht zum Anlaß einer differenzierenden Regelung genommen werden. Ausnahmsweise können biologische und funktionale Unterschiede zwischen Mann und Frau dann zu verschiedener Behandlung im Recht führen, wenn sie das zu ordnende Lebensverhältnis so entscheidend prägen, daß vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten (BVerfGE 31, 1/4 f.; 52, 369/374; 63, 181/194). Es ist allerdings in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch anerkannt, daß nicht jede geringfügige Ungleichbehandlung der Geschlecht er einen Verfassungsverstoß darstellt; eine Zurücksetzung gegenüber dem anderen Geschlecht kann deshalb wegen ihrer vergleichsweisen Unbeachtlichkeit hinzunehmen sein (vgl. BVerfGE 10, 59/78 = BayVBl. 1959, 378 [amtlicher Leitsatz]; 19, 177/183).

5.

b) Die Benachteiligung der Mädchen durch die alleinige Verpflichtung zur Teilnahme am Handarbeitsunterricht in den Klassen 5 und 6 des Gymnasiums kann nicht als geringfügig und daher als beachtlich angesehen werden. Die wöchentliche Unterrichtsbelastung in den Pflichtfächern steigt im Verhältnis zu den Buben von 30 auf 32 Stunden. Diese Belastung wird – jedenfalls an gemischten Schulen – dadurch noch verstärkt, daß der Handarbeitsunterricht aus organisatorischen Gründen gewöhnlich in die Rand- oder Nachmittagsstunden gelegt werden muß. Hinzu kommt ein gewisser von den Fertigkeiten der Schülerinnen und den Anforderungen der Lehrkräfte abhängender Aufwand für Hausaufgaben, der nach Angaben des Antragsgegners durchschnittlich 15 Stunden im Jahr beträgt. Auch ohne Berücksichtigung der Hausaufgaben liegt aber bereits eine merkbare zusätzliche Mehrbelastung vor, die die 10- bis 12jährigen Schülerinnen im Vergleich zu den gleichaltrigen männlichen Schülern bewältigen müssen. Auch wenn unterstellt werden kann, daß dieser Unterricht einem Großteil der Mädchen nicht nur Arbeit und Mühe, sondern auch Freude bereitet, ist allein im Hinblick auf die zeitliche Inanspruchnahme eine verfassungsrechtliche Unbeachtlichkeit ausgeschlossen.

6.

c) Die ungleiche Belastung der Mädchen durch Pflichtunterricht in Handarbeiten ist mit funktionalen Unterschieden nicht zu rechtfertigen; eine Rechtfertigung mit biologischen Unterschieden scheidet von vornherein offenkundig aus. Nimmt der Normgeber funktionale (arbeitsteilige) Unterschiede zwischen Mann und Frau zum Anlaß für Differenzierungen, so verstößt dies nur dann nicht gegen Art. 3 Abs. 2 GG, wenn sie das zu ordnende Lebensverhältnis so entscheidend prägen, daß vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten und die verschiedene rechtliche Regelung mit den Begriffen "Benachteiligen" und "Bevorzugen" nicht mehr sinnvoll zu erfassen ist (BVerfGE 10, 59/74; 31, 1/4 f. m.w.N.). Dies ist hier nicht der Fall.

7.

Auch heute noch wird allerdings die Haushaltsführung überwiegend bei der Arbeitsteilung in den Familien als Aufgabe der Frauen angesehen (vgl. BVerfGE 52, 369/377 f.; VerfGH 38, 16/22 = BayVBl. 1986, 77/78). Trotz geänderter Lebensverhältnisse können Handarbeiten wie Stricken und Nähen auch weiterhin als Teilbereiche der Haushaltsführung gelten. Wenn der Verordnungsgeber bei der Gestaltung des Schulunterrichts an diese gesellschaftlichen Gegebenheiten anknüpft, hält er sich grundsätzlich auch im Rahmen des Verfassungsauftrags des Art. 131 Abs. 4 BV, die Mädchen in Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft zu unterweisen, der nach wie vor besondere Bedeutung hat (VerfGH, a.a.O.). Die Vorschrift indes will nur sicherstellen, daß die Mädchen eine Ausbildung erhalten, die ihren voraussichtlichen späteren Aufgaben in besonderer Weise entspricht, sie verbietet jedoch nicht, auch männliche Schüler entsprechend zu unterrichten (VerfGH 38, 16/23 = BayVBl. 1986, 77/78). Die auch heute noch bestehenden Unterschiede der Arbeitsteilung in den Familien reichen aber nicht hin, eine – nicht völlig unerhebliche – Mehrbelastung der Mädchen mit Unterrichtsstunden zu begründen (vgl. auch Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 1986, 649/651). Dem Verordnungsgeber standen vielmehr mehrere Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung, sein Unterrichtsziel, eine Unterrichtung vor allem der Mädchen in Handarbeiten zu gewährleisten, ohne Benachteiligung der Mädchen zu verwirklichen. Handarbeitsunterricht hätte als Pflichtunterricht für Buben und Mädchen gleichermaßen eingeführt werden können, wie dies an den Sozialwissenschaftlichen Gymnasien bereits der Fall ist (Anlage 1 Buchst. I zur GSO). Möglich wäre auch die Einführung von Wahlunterricht für Schüler beiderlei Geschlechts oder von Wahlpflichtunterricht mit den Fächern Textilarbeit/Werken, wie sie für den Volksschulbereich erfolgt ist (vgl. Anlage 3.2 Nr. 2 zur Volksschulordnung – VSO – vom 21.6.1983, GVBl. S. 597, zuletzt geändert durch Verordnung vom 22.8.1986, GVBl. S. 313). Im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit (vgl. VerfGH 32, 156/159; 38, 16/21 = BayVBl. 1986, 77/78) hält der Verordnungsgeber im übrigen die Verwirklichung der weiteren, eher gewichtigeren Ziele des Art. 131 Abs. 4 BV (Säuglingspflege, Kindererziehung, Hauswirtschaft) offensichtlich nicht für gefährdet, auch wenn dafür am Gymnasium – mit Ausnahme des Sozialwissenschaftlichen Gymnasiums und den kaum praktisch werdenden Möglichkeiten eines Wahlunterrichts – keine entsprechenden Unterrichtsfächer angeboten werden. Unter diesen Umständen kann nicht die Rede davon sein, daß die Unterschiede zwischen Mann und Frau das zu ordnende Lebensverhältnis – Unterricht in Handarbeiten – so entscheidend prägten, daß vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten müßten. Gegen derartige bis in das Schulverhältnis hineinwirkende prägende funktionale Unterschiede spricht ferner, daß der Antragsgegner nicht dartun konnte, daß in anderen Bundesländern vergleichbare einseitige Belastungen der Mädchen existierten. Es kommt hinzu, daß der Lehrplan für Handarbeiten neben den Tätigkeitsbereichen Häkeln und Nähen, die eher als "typisch weiblich" empfunden werden könnten, Unterricht in Färben, Drucken, Weben und Knüpfen vorsieht, Fertigkeiten, für die wohl seit langem keine geschlechtsspezifische Zuweisung innerhalb der Familie mehr besteht (vgl. KMBl. I 1983 Sondernummer 3 S. 45). Überdies ist gerade bei der Konkretisierung des staatlichen Erziehungsauftrags im Schulwesen zu beachten, daß der Gleichberechtigungssatz nicht von der traditionellen Überzeugung der Betroffenen abhängt, sondern Art. 3 Abs. 2 GG für die Zukunft die Gleichwertigkeit der Geschlechter durchsetzen will (vgl. BVerfGE 15, 337/345 = BayVBl. 1963, 183 [amtliche Leitsätze]; 56, 363/389).

8.

Soweit der Antragsgegner aus personalwirtschaftlichen und organisatorischen Gründen an der angefochtenen Regelung festhält, erscheinen diese Probleme lösbar, wie die für andere Schulformen und Ausbildungsrichtungen getroffenen Bestimmungen zeigen. Sie könnten außerdem für sich allein eine an das Geschlecht anknüpfende Benachteiligung der Mädchen nicht rechtfertigen.

9.

d) Nach alledem waren die angefochtenen Vorschriften für nichtig zu erklären. Für das laufende Schuljahr war die Regelung aber übergangsweise aufrechtzuerhalten, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand geschaffen wird, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige (vgl. BVerfGE 37, 217/261 = BayVBl. 1974, 668). Ein Außerkrafttreten der Rechtsgrundlage für den Handarbeitsunterricht während des laufenden Schuljahrs hätte neben erheblichen organisatorischen Schwierigkeiten zur Folge, daß Schülerinnen, die im Vertrauen auf die Gültigkeit der Gymnasialschulordnung Leistungen erbracht haben, hierfür keine Bewertung erhielten. Diese Interessen hatte der Bayer. Verwaltungsgerichtshof bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Die vom Antragsgegner gewünschte, das folgende Schuljahr (1987/88) einschließende Übergangsregelung konnte hingegen nicht getroffen werden. Gemäß § 47 Abs. 6 Satz 2 VwGO hat das Gericht die Rechtsvorschrift für nichtig zu erklären. Soll von diesem Grundsatz eine im Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehene Ausnahme gemacht werden, so ist ein strenger Maßstab anzuwenden. Ein Hinausschieben der Ungültigkeitserklärung ist auf die Fälle zu beschränken, in denen sie erhebliche, anders nicht zu vermeidende Störungen oder Schäden für das Gemeinwohl zur Folge hätte oder schutzwürdiges Vertrauen der Betroffenen auf den Bestand der Rechtsvorschrift verletzen würde (vgl. Kopp, VwGO, Rdnr. 64 zu § 47). Diese Voraussetzungen hat der Antragsgegner für die Zeit nach Abschluß des laufenden Schuljahrs nicht ausreichend dargetan. Dem Verordnungsgeber steht im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit eine große Bandbreite denkbarer Regelungen zur Verfügung. Er kann – wenn er dabei eine Benachteiligung der Mädchen vermeidet – selbst Übergangsregelungen treffen, die sich nur auf das nächste Schuljahr beziehen. Hierfür hat er bis zum Beginn des Schuljahrs noch mehr als vier Monate Zeit. Es kommt hinzu, daß auf Grund eines Beschlusses des Bayer. Landtags der Verordnungsgeber ohnehin die Änderung der angefochtenen Bestimmungen vorbereitet hat (Handarbeiten und Werken als Wahlpflichtfächer für Mädchen und Buben) und die lehrplanmäßigen Voraussetzungen dafür schon geschaffen wurden.