Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil vom
26.10.1989
- 1 S 3448/88
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(weitere Fundstellen: DVBl. 1990, 1044 f.)
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Aus den Gründen: |
1. |
Die Verfügung der Bekl. war rechtswidrig, weil die Polizei gegen den Kl. als Nichtstörer eingeschritten ist, ohne daß die gesetzlichen Voraussetzungen einer solchen Notstandsmaßnahme (§ 9 PolG) erfüllt waren. Eine Inanspruchnahme des Kl. als Verhaltensstörer (§ 6 PolG) kam nicht in Betracht, da ihm die Gefahr rechtswidriger Übergriffe Dritter aus Anlaß der angekündigten Gegendemonstrationen nicht als polizeiwidriges eigenes Verhalten zugerechnet werden kann. Er hatte die Veranstaltung nicht öffentlich bekanntgemacht und es auch auf andere Weise nicht darauf angelegt, mit dieser rechtswidrige Übergriffe Dritter hervorzurufen ("Zweckveranlasser", vgl. dazu Urteil des Senats vom 28.8.1986, DVBl. 1987, 151 m. w. N.). Da die Rechtsordnung Veranstaltungen wie diejenige des Kl. nicht nur gestattet, sondern als Versammlung sogar unter grundrechtlichen Schutz stellt, kann er für die durch die Gegendemonstration hervorgerufenen Gefahren nicht verantwortlich gemacht werden. |
2. |
Als Maßnahme gegen unbeteiligte Personen (§ 9 PolG) ist die Untersagung des Parteitags rechtlich zu beanstanden, weil im maßgeblichen Zeitpunkt zureichende Anhaltspunkte für eine unmittelbar bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die auf andere Weise nicht oder nur durch im Blick auf den beabsichtigten Erfolg offenkundig unverhältnismäßige Maßnahmen verhindert werden konnte, nicht erkennbar waren. |
3. |
Der Senat zweifelt bereits daran, daß bei Erlaß der angef. Verfügung von einer unmittelbar bevorstehenden Störung ausgegangen werden durfte. Bei der Anwendung des § 9 Abs. 1 PolG sind, weil polizeiliche Notstandsmaßnahmen in die Rechte unbeteiligter Dritter eingreifen, an die zeitliche Nähe des Schadens ebenso wie an die Wahrscheinlichkeit seiner Eintritts strenge Anforderungen zu stellen. Allein die allgemeine Vermutung, es werde zu einer Störung der öffentlichen Sicherheit kommen, genügt nicht. Vielmehr bedarf es des Nachweises begründeter Tatsachen, die nicht nur die mehr oder weniger entfernte Möglichkeit einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eröffnen, sondern eine solche Gefährdung absehbarerweise besorgen lassen (Urteil des Senats vom 28.8.1986, aaO, m. w. N.). |
4. |
Durchgreifende Bedenken gegen die Annahme einer unmittelbar bevorstehenden Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bestehen deshalb, weil nach dem Inhalt der Akten keine ausreichend konkreten Erkenntnisse für die Erwartung der Polizei vorlagen, daß die angekündigten Gegendemonstrationen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in allernächster Zeit zu dem Eintritt des befürchteten Schadens führen würden. Aufgrund der Tatsache, daß es bei der Abhaltung von Parteitagen des Kl. in anderen Städten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen (Körperverletzungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Landfriedensbruch) gekommen sei, befürchtete die Polizei Gewalttätigkeiten vor dem Versammlungslokal. Hinreichend belegte Tatsachen, daß die angekündigte Gegenkundgebungen gaben zu dieser Befürchtung keinen hinreichenden Anlaß. Es bestanden auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür, der ca. 100 Leute umfassende Personenkreis aus dem Großraum U., der nach den Angaben des vom VG gehörten Leiters der Schutzpolizei bereit sei, in Erscheinung zu treten, und zu dem auch einige "Gewaltbreite" gehörten, werde eine Störung i. S. des § 1 PolG hervorrufen. Von seiten des Kl. wurden keine Tatsachen geschaffen, auf die die Polizei ihre Einschätzung stützen konnte; denn er hatte die Veranstaltung nicht öffentlich angekündigt und wollte mit dieser auch keine Werbung für seine Ziele machen. |
5. |
Für eine Herabsetzung der Prognosesicherheit war entgegen der Auffassung des VG im vorliegenden Fall kein Raum. Denn dies bewirkte nicht nur eine vom Gesetz nicht gedeckte Erweiterung der Zugriffsmöglichkeiten auf Nichtstörer, sondern schränkte in Fällen wie dem vorliegenden die Ausübung der Versammlungsfreiheit, die zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gehört (BVerfG, Beschluß vom 14.5.1985) DVBl. 1985, 1006), in unzulässiger Weise ein. Dementsprechend hat das BVerfG im Beschluß vom 14.5.1985 entschieden, daß ein vorbeugendes Versammlungsverbot nur unter strengen Voraussetzungen statthaft ist und daß hierzu eine hohe Wahrscheinlichkeit in der Gefahrenprognose gehört. |
6. |
Selbst wenn man den Inhalt des Flugblatts, wonach der Parteitag des Kl. dadurch verhindert werden sollte, daß sich Demonstranten innerhalb der Gaststätte zum Kaffeetrinken treffen sollten, um auf diese Weise dem Kl. die Möglichkeit zu nehmen, den Parteitag abzuhalten, als Anhaltspunkt für eine bevorstehende Störung wertet, fehlte es jedenfalls an der für ein Einschreiten nach § 9 Abs. 1 PolG erforderlichen zeitlichen Nähe des Schadens. Im Blick auf das Erfordernis der Aktualität der Störung bestand unter den gegebenen Umständen im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens am Vortag der geplanten Veranstaltung kein hinreichender Grund, der das Vorgehen der Polizei gegen den Nichtstörer hätte rechtfertigen können. |
7. |
Es ist ferner nicht zu erkennen, daß - eine unmittelbar bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit unterstellt - die befürchtete externe Störung der Veranstaltung bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht auf andere Weise hätte verhindert werden können. Es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten für die Annahme, eine Gefahrenabwehr durch Einschreiten gegen die Gegendemonstranten als mutmaßliche Störer sei unmöglich gewesen. Der Polizei stand nicht nur die Möglichkeit eines vorbeugenden Versammlungsverbots offen, sondern sie hatte, wenn sich dieses nicht als ausreichend erweisen sollte, die Befugnis zur Auflösung der Versammlung und zum Erlaß eines Platzverweises (§§ 15 Abs. 3, 18 Abs. 1, 13 Abs. 2 VersammlG; vgl. dazu Urteil des Senats vom 21.4.1986, VBlBW 1986, 305 und Urteil vom 28.8.1986, aaO). Auf diesem Wege gegen die (potentiellen) Störer einzuschreiten, war gegenüber einer Inanspruchnahme unbeteiligter Dritter vorrangig und zum Schutz der vom Kl. veranstalteten rechtmäßigen Versammlung geboten, um die Rechtsordnung zu wahren und die Grundrechtsausübung des Kl. zu gewährleisten (BVerfG, Beschluß vom 14.5.1985, aaO; Urteil des Senats vom 28.8.1986, aaO, m. w. N.).... |