Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss vom 29.4.1983
- 1 S 1/83 -
(weitere Fundstellen: NJW 1984, 507 f.)
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Zum Sachverhalt: |
1. |
Gegen den Ast. wurde mit Bußgeldbescheid vom 4. 10. 1982 wegen eines Verstoßes nach § 3 Nr. 2, § 5 der Polizeiverordnung der Ag. zur Bekämpfung der Bettelei und zur Sicherung der öffentlichen Ordnung im Stadtkreis Baden-Baden v. 19. 1. 1978 - PolVO - eine Geldbuße festgesetzt. Die entsprechenden Vorschriften der Polizeiverordnung lauten wie folgt:
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2. |
Über den Einspruch des Ast. gegen den Bußgeldbescheid hat das AG noch nicht entschieden. Zur Begründung seines Normenkontrollantrags macht der Ast. geltend, die im Bußgeldverfahren angewandten Vorschriften der Polizeiverordnung seien nicht hinreichend bestimmt. Er beantragt, § 3 Nr. 2 und § 5 I Nr. 4 II PolVO für nichtig zu erklären. |
3. |
Sein Antrag hatte weitgehend Erfolg. |
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Aus den Gründen: |
4. |
... II. 1. Der Normenkontrollantrag ist unzulässig, soweit er sich gegen § 5 I Nr. 4 II PolVO richtet. Die Polizeiverordnung der Ag. unterliegt als im Range unter dem Landesgesetz stehende Vorschrift der Normenkontrolle durch den VGH nur im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit (§ 47 I Nr. 2 VwGO i. V. mit § 5 AGVwGO). Diese erstreckt sich nicht auf Vorschriften, die wie § 5 PolVO rein ordnungswidrigkeitsrechtlicher Natur sind und deren Vollzug durch die Verwaltungsbehörde allein von den ordentlichen Gerichten kontrolliert werden kann (§ 68 OWiG), nicht dagegen zu öffentlichrechtlichen Streitigkeiten i. S. von § 40 VwGO führen kann. Daran vermag der enge Zusammenhang mit der ebenfalls angefochtenen Bestimmung in § 3 Nr. 2 PolVO nichts zu ändern. Auch wenn beide Vorschriften zusammen zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden und die Ungültigkeit der Verbotsnorm die Bewehrungsvorschrift leerlaufen läßt, ist der VGH nicht befugt, die letztere mit der in § 47 VI 2 Halbs. 2 VwGO angeordneten Wirkung für nichtig zu erklären. Ein weitergehendes Verständnis des Begriffs der Gerichtsbarkeit in § 47 I 1 VwGO erscheint dem Senat unter Rechtsschutzgesichtspunkten nicht geboten. Auch der Zweck dieser Beschränkung der Kontrollbefugnis nötigt zu keiner anderen Auffassung. Sie soll verhindern, daß der VGH die Gerichte anderer Gerichtszweige für Streitigkeiten präjudiziert, für deren Entscheidung diese im Einzelfall ausschließlich zuständig sind (Beschl. des Senats v. 29. 7. 1968, ESVGH 19, 14 (15 f.)). Eine solche präjudizierende Wirkung ist zwar unvermeidbar, soweit die Ungültigkeit der im Normenkontrollverfahren überprüften polizeilichen Verbotsnorm auf die entsprechende Bußgeldvorschrift durchschlägt. Da die Prüfung anderer Nichtigkeitsgründe und darum eine umfassende Kontrolle der Bußgeldvorschrift dem VGH jedoch nach Wortlaut und Zweck des § 47 I 1 VwGO verwehrt ist, läßt sich auch eine begrenzte Prüfungskompetenz hinsichtlich der Bewehrungsvorschrift in Fällen wie dem vorliegenden nicht begründen (im Ergebnis ebenso VGH München, BayVBl 1979, 176). Im übrigen ist der Normenkontrollantrag zulässig. Der Prüfungsbefugnis des VGH steht die in § 5 PolVO normierte Sanktion für Verstöße gegen § 3 Nr. 2 PolVO nicht entgegen. Diese Verbotsvorschrift dient in erster Linie der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und ermächtigt damit die zuständigen Polizeibehörden und Polizeidienststellen auch zu Einzelmaßnahmen gegen Störer, die ihrerseits auf dem Verwaltungsrechtsweg angefochten werden können (Beschl. des Senats, ESVGH 18, 19 (20); Urt. des Senats, ESVGH 28, 241 (242 f. m. Nachw.)). Nachdem gegen den Ast. wegen eines Verstoßes gegen die angegriffene Norm ein Bußgeldbescheid ergangen und das gerichtliche Bußgeldverfahren anhängig ist, steht auch seine Antragsbefugnis außer Frage (47 II 1 VwGO). |
5. |
2. Der Normenkontrollantrag ist, soweit zulässig, auch begründet. Die zur Kontrolle gestellte Vorschrift in § 3 Nr. 2 PolVO ist ungültig, da sie weder hinreichend bestimmt (a) noch durch die polizeiliche Generalermächtigung in § 10 I, § 1 I PolG gedeckt ist (b). |
6. |
a) § 3 Nr. 2 PolVO verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gebot hinreichender Bestimmtheit. Das Rechtsstaatsprinzip und die aus ihm folgenden Gebote der Normklarheit und Justitiabilität fordern von der Polizeibehörde, daß sie abstrakt-generelle Verbote so klar und bestimmt faßt, daß der Betroffene die Rechtslage, d. h. Inhalt und Grenzen des Verbots, erkennen und sein Verhalten danach einrichten kann. Das schließt nicht aus, daß der Verordnungsgeber den Verbotstatbestand, wenn deskriptive Merkmale hierfür nicht ausreichen, mit Hilfe unbestimmter Rechtsbegriffe umschreibt. Dabei darf aber die Erkennbarkeit der Rechtslage durch den Betr. nicht wesentlich eingeschränkt werden, und die zuständigen Gerichte müssen in der Lage bleiben, den Regelungsinhalt mit den anerkannten Auslegungsregeln zu konkretisieren (vgl. Maunz, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 20 Erl. VII Rdnr. 63; Leibholz-Rinck, GG, Art. 20 Rdnr. 24). Ob an die Klarheit polizeilicher Normen besondere Anforderungen zu stellen sind, wenn der Normverstoß nicht nur zum Erlaß unselbständiger polizeilicher Verfügungen führen kann (vgl. hierzu Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr, 8. Aufl., Bd. 1, S. 273), sondern auch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann, bedarf keiner Entscheidung. Auch wenn der für Bußgeldtatbestände geltende Art. 103 II GG (Dürig, in: Maunz-Dürig, Art. 103 II Rdnr. 114) keine Maßstäbe für bußgeldbewehrte polizeiliche Verbotsnormen enthält, sind bei ihnen angesichts der Eigenart des geregelten Sachverhalts und der Intensität der Auswirkungen für die Betroffenen hohe Anforderungen an den Grad der Bestimmtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 21, 73 (79) = NJW 1967, 619; BVerfGE 48, 210 (222) = NJW 1978, 2143; BVerfGE 49, 168 (181) = NJW 1978, 2446). Aus dem Wortlaut, der Zielsetzung und dem Regelungszusammenhang des Verbots müssen sich objektive Kriterien gewinnen lassen, die eine willkürliche Handhabung durch die für seine Vollziehung zuständigen Polizeibehörden und Polizeivollzugsbeamten ausschließen (vgl. auch Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr I, S. 286). |
7. |
Diesem Maßstab wird § 3 Nr. 2 PolVO nicht gerecht. Die Tatbestandsmerkmale "sich nach Art eines Land- oder Stadtstreichers herumtreiben" sind einer ausreichenden Konkretisierung nach Auffassung des Senats nicht zugänglich. Sie lassen zwar einen Kernbereich verbotenen Verhaltens erkennen, ermöglichen dagegen nicht eine hinreichend eindeutige Abgrenzung zwischen verbotenem und zulässigem Verhalten. Für den Begriff des Landstreichers wird auf die in der Rechtsprechung zu dem früheren Übertretungstatbestand in § 361 Nr. 3 StGB entwickelte Umschreibung zurückgegriffen werden können. Danach ist Landstreicher, wer aus eingewurzeltem Hang ohne die Absicht redlichen Erwerbs unter ständigem Wechsel des Nachtquartiers von Ort zu Ort umherstreift und dabei anderen zur Last fällt, indem er seinen Lebensunterhalt durch fremde Mildtätigkeit, Bettelei oder geringfügige Straftaten bestreitet (BGHSt 4, 52 = NJW 1953, 795). Mit dem Begriff des Stadtstreichers werden dagegen üblicherweise Personen bezeichnet, die wie Landstreicher keinen festen Wohnsitz und keine feste Beschäftigung haben, die aber nicht ständig den Ort wechseln, sondern ihren Bewegungsraum in der Stadt haben. Der Begriff des Sichherumtreibens schließlich kennzeichnet einen Aufenthalt in der Öffentlichkeit, der im Gegensatz zum reinen Müßiggang, zum "Bummel" und dergleichen sozial überwiegend mißbilligt wird. Er setzt weder einen (häufigen) Ortswechsel noch gruppenweises Auftreten voraus. |
8. |
Das hier umstrittene Verbot, sich auf öffentlichen Straßen, in öffentlichen Anlagen und Einrichtungen nach Art eines Land- oder Stadtstreichers herumzutreiben, zielt in erster Linie auf den eben beschriebenen Personenkreis ab. Der Regelungsbereich der Norm wird jedoch wesentlich erweitert durch die Wendung "nach Art eines Land- oder Stadtstreichers". Dadurch werden Verhaltensweisen, die als für diesen Personenkreis typisch vorausgesetzt werden, auch dann mit einem repressiven Verbot belegt, wenn sie von Personen gezeigt werden, die nicht Land- oder Stadtstreicher sind. Das Verbot knüpft also nicht an Merkmale wie Erwerbslosigkeit oder Nichtseßhaftigkeit an, sondern an ein Verhalten in der Öffentlichkeit, das sonstige, äußerlich unmittelbar wahrnehmbare Merkmale mit dem für Land- und Stadtstreicher typischen Verhalten gemein hat. Damit scheiden Zwecke des Aufenthalts wie der der Muße oder der Kommunikation als Unterscheidungsmerkmal weitgehend aus, zumal auch Bürger, Besucher oder Kurgäste der Ag. öffentliche Straßen und Anlagen zu eben diesen Zwecken in Anspruch nehmen. Vielmehr zielt die Umschreibung des verbotenen Verhaltens auf Merkmale des äußeren Erscheinungsbildes und Verhaltens wie Unsauberkeit, äußere Verwahrlosung, Alkoholisierung und Aggressivität ab. Ein wesentlicher Kern der verbotenen Verhaltensweisen mag damit ausreichend gekennzeichnet sein. Nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit ist dagegen durch die Normadressaten auszumachen, von welcher Dauer und Häufigkeit der Aufenthalt auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen sein muß, damit ein Sichherumtreiben i. S. der Verbotsnorm vorliegt, und welcher Grad äußerer Ungepflegtheit oder unangepaßten Verhaltens Sanktionen nach sich zieht. Darf ein Nichtseßhafter etwa das Stadtgebiet der Ag. durchziehen und dabei auf einer Parkbank ausruhen? Dürfen sich arbeitslose Jugendliche in der Fußgängerzone treffen, um gemeinsam "die Zeit totzuschlagen"? In welchen Grenzen dürfen Arbeitskollegen nach Feierabend an Kiosken Alkohol zu sich nehmen? Wie müssen sich Bürger der Ag., die als seßhafte Obdachlose bezeichnet werden, in der Öffentlichkeit verhalten, um dem Verbot Rechnung zu tragen? Der Wortlaut der angegriffenen Norm gibt keine eindeutige Antwort auf diese Fragen. Aber auch der Regelungszusammenhang und der Zweck der Bestimmung lassen eine klare Grenzziehung zwischen Verbotenem und Erlaubtem nicht zu. Weder die übrigen Verbotstatbestände der Polizeiverordnung (§ 1: Bettelei, § 3 Nr. 1: grob ungehöriges Belästigen oder Behindern von Personen) noch die Legaldefinitionen in § 4 PolVO (öffentliche Straßen, Anlagen und Einrichtungen) tragen etwas zur Konkretisierung der Grenzen des Verbots bei. Nichts anderes gilt für den Zweck der Regelung. Wenn mit ihr Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bekämpft werden sollen, so ergibt sich hieraus bereits deshalb keine ausreichende Abgrenzung der verbotenen Verhaltensweisen, weil jedenfalls der Begriff der öffentlichen Ordnung seinerseits in hohem Maße unbestimmt ist. Unter diesen Umständen wird § 3 Nr. 2 PolVO dem rechtsstaatlichen Gebot hinreichender Bestimmtheit nicht gerecht. |
9. |
b) Die angegriffene Bestimmung des § 3 Nr. 2 PolVO hält sich ferner nicht im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung in § 10 i. V. mit § 1 BadWürttPolG. Denn das verbotene Verhalten stellt als solches weder eine Störung noch eine hinreichende abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. |
10. |
Das polizeiliche Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfaßt nach herrschender Auffassung die Unversehrtheit von Leben, Gesundheit, Ehre, Freiheit und Vermögen der Bürger, ferner die Unverletzlichkeit des Staates, seiner Einrichtungen und Veranstaltungen sowie der objektiven Rechtsordnung allgemein (z. B. Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr II, S. 117 ff.; Ule-Rasch, Allg. Polizei- u. OrdnungsR, 2. Aufl., S. 13 f.; Wolff-Bachof, VerwR III, 4. Aufl., S. 49 f.). Keines dieser Rechtsgüter wird durch das Sichherumtreiben nach Art von Land- und Stadtstreichern unmittelbar beeinträchtigt. Auch werden strafgesetzliche Bestimmungen nicht berührt. Der Übertretungstatbestand in § 361 Nr. 3 StGB ist am 10. 4. 1974 außer Kraft getreten (Art. 326 III EGStGB v. 2. 3. 1974, BGBl S. 469). Die Ordnungswidrigkeitsgesetze des Bundes und des Landes kennen ebenfalls keinen einschlägigen Tatbestand; dasselbe gilt für sonstige Landesgesetze und insb. das Straßengesetz für Baden-Württemberg (vgl. § 56 BadWürttStrG). |
11. |
Durch das verbotene Verhalten als solches wird auch die öffentliche Ordnung nicht gestört. Hierunter ist die Gesamtheit der sozialen Normen über das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit zu verstehen, deren Beachtung nach - durch die grundrechtlichen Wertmaßstäbe geprägter - mehrheitlicher Anschauung unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen und menschlichen Zusammenlebens ist (zur verfassungsrechtlichen Dimension des Begriffs der öffentlichen Ordnung in der Rechtsprechung des BVerwG vgl. Franßen, 25 Jahre BVerwG, 1978, S. 204 ff. m. Nachw.; ferner Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr II, S. 132). Daß das von der Ag. verbotene Verhalten in dieser Allgemeinheit bereits im Widerspruch zu einer derartigen außerrechtlichen Norm steht, vermag der Senat nicht festzustellen. |
12. |
Das sanktionierte, der Lebensweise einer Minderheit entsprechende Verhalten mag von einer Mehrheit als lästig empfunden werden, wird aber im Grundsatz, wenn auch nicht in einigen Begleiterscheinungen toleriert. Dies kommt nicht zuletzt in der bereits erwähnten Entkriminalisierung der Landstreicherei zum Ausdruck (vgl. den 2. schriftl. Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform v. 23. 4. 1969, BT-Dr V/4095, S. 48). Der müßige Aufenthalt in der Öffentlichkeit, wie er für Stadt- und Landstreicher typisch ist, überschreitet daher nicht allgemein und ohne weiteres die Grenze zwischen dem Harmlosen oder Lästigen und der Ordnungsstörung. Das gilt auch in Gemeinden, die wegen ihrer wirtschaftlichen Struktur besonderen Wert auf die Erhaltung ihrer Anziehungskraft für Besucher und Gäste legen. Dieser Umstand rechtfertigt noch nicht die Annahme besonderer lokaler Ordnungsvorstellungen, auf die die Ag. sich im übrigen nicht beruft. Ob sie im vorliegenden Zusammenhang maßgeblich wären, kann daher offenbleiben (vgl. hierzu insb. Götz, Allg. Polizei- u. OrdnungsR, 7. Aufl., S. 47; Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr II, S. 134). |
13. |
Das in § 3 Nr. 2 PolVO untersagte Verhalten stellt nach Auffassung des Senats auch keine ein generelles repressives Verbot rechtfertigende abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Hierfür wäre Voraussetzung, daß der für Land- und Stadtstreicher typische Aufenthalt in der Öffentlichkeit nach der Lebenserfahrung im Einzelfall regelmäßig (so Ule-Rasch, S. 360) oder meistens (so Wolff-Bachof, S. 56, Rdnr. 26) zu konkreten Gefahren für polizeiliche Schutzgüter zu führen pflegt und seine Untersagung den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entspricht (zur abstrakten Gefahr vgl. BVerwG, DÖV 1970, 713 (715); VGH Mannheim, ESVGH 21, 216 (218); ferner Urt. des Senats, ESVGH 28, 241 (247)). Unter einer konkreten polizeilichen Gefahr wird allgemein eine Sachlage (oder ein Verhalten) verstanden, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden, d. h. zu einer nicht unerheblichen Minderung eines tatsächlich vorhandenen normalen Bestandes an Lebensgütern durch von außen kommende Einflüsse führt. Der Gefahrenbegriff ist insoweit relativ, als der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad vom Wert des zu schützenden Rechtsguts, aber auch vom Rang des Rechtsguts, in das eingegriffen werden soll, abhängt (BVerwGE 45, 51 (57, 61) = NJW 1974, 807; Franßen, in: 25 Jahre BVerwG, S. 213; Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr I S. 273). Für den Verordnungsgeber, dem es um abstrakte Gefahren geht, folgt daraus, daß eine ursächliche Verknüpfung zwischen dem allgemein verbotenen Tun und dem befürchteten Schaden umso näher liegen muß, je geringer dieser Schaden und je höherrangiger das eingeschränkte Rechtsgut ist. Die angegriffene Norm untersagt keine in diesem Sinne abstrakt gefährlichen Handlungen. Der für Land- und Stadtstreicher typische Aufenthalt in der Öffentlichkeit kann allerdings in Einzelfällen mittelbar zu Gefahren für die öffentliche Sicherheit führen. Bestimmte Straftaten (§§ 113, 123, 185, 240, 241, 248a, 303, 323a StGB) und Verstöße nach dem OWiG (§§ 117, 118, 122) werden unter den nicht seßhaften Personen in Städten verhältnismäßig häufig beobachtet (vgl. z. B. Göppinger, Kriminologie, 3. Aufl., S. 404 bis 406). Nach Auffassung des Innenministeriums Baden-Württemberg machen die Verunreinigung und Beschädigung von öffentlichen Anlagen und Einrichtungen, vor allem aber die Belästigung und Bedrohung von Passanten, die Verursachung störenden Lärms und die Erregung öffentlichen Ärgernisses polizeiliche Maßnahmen gegen nicht seßhafte Personen in Städten erforderlich (Antwort des Innenministeriums v. 22. 9. 1978 auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Edelhoff u. a., LT-Dr 7/4199). Allerdings neigt nur eine Minderheit dieser Personen zu derartigen Handlungen; das Verhalten der Mehrheit in der Öffentlichkeit stört nicht die öffentliche Sicherheit, sondern ist harmlos und wegen seiner Unangepaßtheit allenfalls lästig (vgl. den oben erwähnten schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, aaO). Dies entspricht auch der Einschätzung einer Arbeitsgruppe des Deutschen Städtetags auf der Grundlage einer Umfrage unter neun Großstädten im Jahr 1976 (Stadtstreicher - Kommunale Erfahrungen, Probleme, Antworten, DST-Beiträge zum Kommunalrecht, Heft 3 (1978), S. 21 bis 27; nach Darstellung des Stuttgarter Oberbürgermeisters belästigt nur ein geringer Teil der rund 1500 in Stuttgart lebenden Stadtstreicher die Bürger, Stuttgarter Zeitung v. 20. 4. 1983, S. 19). Es kommt hinzu, daß das generell verbotene Verhalten nicht ohne weiteres Zutun der Normadressaten zu Gefahren für die öffentliche Sicherheit führt (wie etwa im Fall eines Taubenfütterungsverbots, vgl. BVerfG, NJW 1980, 2572). Vielmehr geschehen Sicherheitsverstöße der oben erwähnten Art lediglich bei Gelegenheit des verbotenen Tuns; sie setzen jeweils weitere Handlungen der Verbotsadressaten voraus. Eine etwaige abstrakte Gefährlichkeit liegt hier also nicht in erster Linie in dem verbotenen Tun selbst, sondern in der Person desjenigen, der sich herumtreibt. Dies trifft aber, wie bereits ausgeführt wurde, für die Mehrheit der angesprochenen Personen nicht zu. Die bei Gelegenheit des Sichherumtreibens begangenen sicherheitsgefährdenden Handlungen sind zudem ihrerseits Gegenstand anderweitiger Verbots- und Sanktionsnormen im Strafgesetzbuch, im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, in sonstigen bundes- und landesrechtlichen Rechtsvorschriften (z. B. § 1 II StVO: Leichtigkeit des Verkehrs; §§ 15, 18, 56 I Nrn. 1 u. 8 BadWürttStrG: unzulässige Sondernutzung und Verunreinigung von Straßen) sowie in Polizeiverordnungen der Ag. So untersagt die angegriffene Polizeiverordnung in § 1 das Betteln und in § 3 Nr. 1 das grob ungehörige Belästigen und Behindern von Personen (ähnlich § 118 OWiG). § 5 PolVO sieht hierfür entsprechende Geldbußen vor. Andere Polizeiverordnungen der Ag. sanktionieren über § 56 I Nr. 8 BadWürttStrG hinaus das Verunreinigen und Beschädigen auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen sowie die Verursachung störenden Lärms. All diese abstrakt-generellen Verbote steuern bis zu einem gewissen Grad bereits auch das Verhalten derjenigen, die sich wie Land- oder Stadtstreicher im Gebiet der Ag. herumtreiben. § 3 Nr. 2 PolVO verlagert daher, soweit damit überhaupt der Schutz der öffentlichen Sicherheit bezweckt wird, die Gefahrenabwehr weiter vor, indem er bereits ein nicht unmittelbar sicherheitsgefährdendes Verhalten generell untersagt. Das ist unter dem Gesichtspunkt dieses polizeilichen Schutzgutes nicht zulässig. Das Gesagte erlaubt nämlich nicht die Annahme, das Sichherumtreiben führe im Einzelfall so regelmäßig zu (konkreten) Gefahren für die öffentliche Sicherheit, daß es durch abstrakt generelle Regelung untersagt werden kann. |
14. |
Nach der Bezeichnung der Polizeiverordnung und dem Vorbringen der Ag. im vorliegenden Verfahren dient die angegriffene Norm allerdings lediglich dem Schutz der öffentlichen Ordnung. Auch dieses polizeiliche Schutzgut gefährdet aber das verbotene Verhalten bei abstrakter Betrachtungsweise nicht. Denn es führt im Einzelfall nicht typischerweise oder regelmäßig zu konkreten Gefahren für die öffentliche Ordnung. Handlungen, die der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufen, weil sie gegen unentbehrliche Regeln im oben beschriebenen Sinn verstoßen und dadurch zu erheblichen Nachteilen führen, mögen bei Gelegenheit des verbotenen Sichherumtreibens vorkommen, sie sind jedoch nach der Lebenserfahrung keine hinreichend regelmäßigen und typischen Begleiterscheinungen des verbotenen Tuns. Angesichts der weitreichenden rechtlichen Normierung und des Ausscheidens bloßer Belästigungen aus dem polizeirechtlichen Gefahren- und Schadensbegriff bleiben ohnehin nur wenige Tatbestände übrig, die Maßnahmen allein zum Schutz der öffentlichen Ordnung rechtfertigen (Beispiele bei Drews-Wacke-Vogel-Martens, Gefahrenabwehr II, S. 135 ff. und Wöhrle-Belz, BadWürttPolG, 3. Aufl., S. 30 Rdnr. 19). Ob das Betteln und die aktive Belästigung anderer unterhalb der Schwelle des § 118 OWiG hierzu gehören, kann ungeklärt bleiben, weil die Polizeiverordnung diese Handlungen bereits an anderer Stelle untersagt (§ 1 und § 3 Nr. 1) und es hierbei nicht um regelmäßige Begleitumstände des untersagten Aufenthalts auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen geht. |
15. |
Die Ag. sieht die öffentliche Ordnung allerdings dadurch gefährdet, daß Stadtstreicher und ähnliche Personen (im Volksmund Gammler und Penner genannt) Brennpunkte des städtischen Lebens wie Fußgängerzonen und Parks mit Beschlag zu belegen pflegen, so daß Bürger, Touristen und Besucher der Stadt sich an der Nutzung dieser Flächen und Einrichtungen gehindert fühlen. Eine solche gefährdende Wirkung wird man dem vereinzelten Auftreten derartiger Personen angesichts der oben beschriebenen Grenzen des Ordnungsbegriffs und der Relativierung des Gefahrenbegriffs nicht zuschreiben können. Ob dagegen ein (straßenrechtlich nicht erfaßbares) gruppenweises Auftreten von einiger Dauer, wie es für Stadtstreicher, nicht aber für Landstreicher als typisch beobachtet wird (vgl. DST-Beiträge, aaO, S. 25), im Einzelfall wegen der damit verbundenen tatsächlichen oder psychologischen Einschränkung der Nutzung öffentlicher Begegnungsräume durch die Allgemeinheit die öffentliche Ordnung gefährdet, kann in diesem Normenkontrollverfahren offenbleiben. Denn das angegriffene generelle Verbot geht erheblich über diesen Tatbestand hinaus. Da es auch nicht hinreichend abstrakt gefährliche Verhaltensweisen erfaßt, ist es jedenfalls mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Erforderlichkeit und des Übermaßverbotes unvereinbar (vgl. § 5 BadWürttPolG und Beschl. des Senats, ESVGH 18, 19 (22 f.)). Unter diesen Umständen bedarf auch keiner Prüfung, ob der Schutz der in § POLVO § 3 Nr. 2 PolVO genannten öffentlichen Einrichtungen (z. B. Warte- und Telefonhäuschen, vgl. § 4 PolVO) vor widmungswidriger Nutzung in der Weise gewährleistet werden kann, wie dies mit der angefochtenen Verbotsnorm angestrebt wird. |
16. |
Nach alldem war § 3 Nr. 2 PolVO mit der Folge des § 47 VI 2 Halbs. 2 VwGO für nichtig zu erklären. |