Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss vom 04.10.1983
- 8 TG 48/83
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 (weitere Fundstellen: NJW 1984, 2305 f.)

 

 

Zum Sachverhalt:

1.

Die Ast. begehren, die Ag. im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen eine menschenwürdige Unterkunft nachzuweisen. Das VG lehnte den Antrag ab, vor dem VGH hatten sie demgegenüber Erfolg.

 

Aus den Gründen:

2.

Die Beseitigung der Obdachlosigkeit obliegt als sonstige Aufgabe der Gefahrenabwehr und somit als allgemeine Verwaltungsaufgabe i. S. § 1 III HessSOG dem Magistrat der Ag. (§ 55 II 1 HessSOG); von jeher wird der - unfreiwillige - Zustand der Obdachlosigkeit als Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung angesehen (zu der umstrittenen Frage, ob dabei die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit bedroht ist, vgl. Greifeld, JuS 1982, 820). Grundsätzlich hat die Behörde allerdings ihre Entscheidung, ob und gegebenenfalls wie sie zur Beseitigung einer Obdachlosigkeit einschreiten will, nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen, wie dies bei allen Polizeiverfügungen i. S. von § 6 I Nr. 2 i. V. mit § 1 II 1 HessSOG - und als solche stellt sich die Einweisung von Obdachlosen dar - der Fall ist.

3.

Dem einzelnen, von dem Gefahren abzuwehren die Behörde tätig werden will oder soll, steht daher i. d. R. gegenüber der Behörde lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung darüber zu, ob die Behörde zu seinen Gunsten eine individualgutschützende Maßnahme trifft oder nicht. Im Einzelfall kann sich jedoch dieses Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung zu einem Anspruch auf polizeiliches Einschreiten verdichten, wenn sich das Ermessen der Ordnungsbehörde wegen des Ausmaßes und der Schwere der drohenden Gefahr auf eine Pflicht zum Einschreiten reduziert (vgl. OVG Berlin, NJW 1980, 2484 m. zahlreichen Nachw.).

4.

So liegt es hier; angesichts der den Ast. und ihren Familienmitgliedern drohenden Gefahren und der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter (Leben, Gesundheit) erweist sich allein ein obdachlosenpolizeiliches Tätigwerden der Ag. als ermessensgerecht. Daß die Situation der Ast. der Ag. ein solches Tätigwerden gebot, hat diese im übrigen selbst dadurch anerkannt, daß sie seinerzeit die Ast. und ihre Familien in Räume des Hauses A.-Str. eingewiesen und ihnen sodann nach dem erfolgten Abriß dieses Gebäudes die jetzige Unterkunft in Wohnwagen zur Verfügung gestellt hat.

5.

Von Bedeutung für die Reduzierung des behördlichen Ermessens der Ag. in Richtung auf eine Pflicht zum Tätigwerden zugunsten der Ast. ist hier weiterhin, daß die Ag. durch den Abriß des Gebäudes A.-Str. selbst den Grund dafür gesetzt hat, daß den Ast. ihr bisheriges Obdach entzogen wurde, ohne daß es in diesem Zusammenhang auf eine subjektive Schuldzuweisung bzw. darauf ankommt, ob objektive Anhaltspunkte ihre Erwartung, die Ast. hätten anderenorts eine Bleibe gefunden und ihre Wohnung in D. endgültig aufgeben wollen, berechtigt erscheinen ließen.

6.

Dem Antrag der Ast. kann nicht entgegengehalten werden, daß diese als "Störer" im polizeirechtlichen Sinne zur Beseitigung der in ihrer Obdachlosigkeit liegenden Polizeigefahr selbst verantwortlich wären und dem durch die Rückkehr nach Jugoslawien, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, Rechnung tragen könnten. Abgesehen davon, daß fraglich ist, ob im vorliegenden Fall die Ast. überhaupt als Störer im polizeirechtlichen Sinne angesehen werden können (verneinend Greifeld, JuS 1982, 821), muß sich auch in diesem Zusammenhang die Ag. an ihrem oben geschilderten vorangehenden Verhalten festhalten lassen, zumal sie selbst durch ihre Oberbürgermeister in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 25. 8. 1983 erneut ihre Bereitschaft erklärt hat, den Ast. weiterhin Gastrecht gewähren zu wollen.

7.

Entgegen der Auffassung der Ag. und des VG Darmstadt hat die Ag. ihrer - von ihr selbst grundsätzlich anerkannten - Pflicht, die Obdachlosigkeit der Ast. zu beseitigen, durch die Zurverfügungstellung der Wohnwagen nicht hinreichend Genüge getan; denn diese Wohnmöglichkeit wird den Mindestanforderungen, die an eine Obdachlosenunterbringung zu stellen sind, nicht gerecht. Zu dieser Beurteilung kommt der Senat aufgrund der Informationen über die konkreten Umstände der jetzigen Unterbringung der Ast. wie sie sich aus dem Vortrag der Bet. sowie aus dem sonstigen Akteninhalt, insbesondere aus der von den Ast. vorgelegten eidesstattlichen Versicherung des Caritas-Sozialarbeiters H vom 19. 9. 1983 ergeben.

8.

Wenn sich auch für die Frage, wie eine Unterkunft zur Beseitigung des Notstandes "Obdachlosigkeit" beschaffen sein muß, kein genereller Maßstab i. S. eines allgemein verbindlichen Kataloges aufstellen läßt, vielmehr in jedem Einzelfall eine Reihe von Umständen Berücksichtigung zu finden hat, so ist unter der Geltung von Art. 1 I und Art. 6 I GG doch jedenfalls zu fordern, daß der angebotene Wohnraum den untergebrachten Personen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen muß. Dabei waren und sind die Anforderungen an eine menschenwürdige Obdachlosenunterkunft allerdings im Laufe der Zeit Schwankungen unterworfen, die vom Wandel der Verhältnisse und der Anschauungen bestimmt werden. Verbessern sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, beeinflußt dies in der Regel auch das Urteil darüber, was als menschenwürdige oder menschenunwürdige Unterkunft anzusehen ist; es darf das inzwischen erreichte zivilisatorische Niveau im allgemeinen nicht völlig außer acht gelassen werden (vgl. OVG Berlin, NJW 1980, 2485; OVG Lüneburg, FamRZ 1971, 669 (670)).

9.

Zwar mag auch die Frage des "individuellen Lebenszuschnittes" der Betr. in diesem Zusammenhang eine gewisse Rolle spielen; dies kann jedoch nur für den Bereich einer Abwägung gelten, in dem sich oberhalb der Grenze der Gewährung einer menschenwürdigen Unterkunft im Einzelfall die Frage der Zumutbarkeit stellt. Auch eventuell vorhandene generelle Gewohnheiten und Verhaltensweisen bestimmter Bevölkerungsgruppen lassen keinen Rückschluß auf die Frage zu, wo im konkreten Einzelfall die Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Obdachlosenunterkunft liegen. Insoweit ist im übrigen darauf zu verweisen, daß die Ast. in D. bis zum 18./19. 8. 1983 gerade nicht in Wohnwagen, sondern in festen Unterkünften gewohnt haben und dort seßhaft geworden waren. Davon, daß die Unterbringung in Wohnwagen auf Dauer - insbesondere im Winter - nicht angemessen und deshalb nicht zumutbar war bzw. ist, ist auch seinerzeit die Ag. selbst ausgegangen, wie sich aus den Unterlagen über die Beschlußfassung ihrer Stadtverordnetenversammlung aus dem September 1980 und jetzt aus dem Protokoll über die Sitzung vom 25. 8. 1983 zu diesem Thema ergibt. Denn dort hatte der Oberbürgermeister der Ast. erklärt, daß die Wohnwagen für die Ast. nur "für eine Übergangszeit" dienen und daß die Ast. künftig in einem "Wohnhaus aus Holz" untergebracht werden sollten.

10.

Unter Berücksichtigung der heutigen zivilisatorischen Lebensverhältnisse können die Wohnwagen, wie sie die Ag. den Ast. zur Verfügung gestellt hat, nicht als ausreichende Unterkunftsmöglichkeit für deren Familien mit bis zu vier kleinen Kindern - davon eine in Erwartung eines weiteren Säuglings - angesehen werden, erst recht nicht für die kommende Herbst- und Winterzeit. Zu den Anforderungen, die an eine Obdachlosenunterkunft gestellt werden müssen, um die Befriedigung jedenfalls der elementarsten Lebensbedürfnisse ohne gesundheitliche oder sonstige Gefahren sicherzustellen, gehört nach Auffassung des Senats insbesondere ein genügender Schutz vor Witterungseinflüssen. Ein solcher Schutz ist aber in Anbetracht der bevorstehenden kälteren Jahreszeit in Wohnwagen nicht mehr gewährleistet. Das hat ja auch - wie oben erwähnt - der Oberbürgermeister der Ag. am 25. 8. 1983 anerkannt, wenn er davon sprach, daß die Wohnwagen nur für eine Übergangszeit den Ast. als Unterkommen dienen sollten. Besondere Bedeutung kommt ferner den sanitären Verhältnissen zu. Darüber hinaus müssen die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten ihrer Größe und Zahl nach jedenfalls im Ansatz ermöglichen, daß die unterschiedlichen Lebensbedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder so aufeinander abgestimmt werden können, daß es nicht zwingend zu ständigen gegenseitigen Störungen kommt. Insbesondere die sanitären Verhältnisse (WC, Waschmöglichkeit, Bad/Dusche, Warmwasser) können hier unter Hygienegesichtspunkten keinesfalls als ausreichend angesehen werden; dies gilt sowohl hinsichtlich der konkreten Ausstattung als auch hinsichtlich der großen Zahl derer, die auf diese Einrichtungen angewiesen sind. Es ist auch nicht einsichtig, woraus etwa die Pflicht der Personen, die in dem auf dem Grundstück G.-Str. befindlichen festen Gebäude wohnen, zur Duldung der Mitbenutzung der dort vorhandenen sanitären Einrichtungen durch die Familien der Ast. begründet werden könnte; auch wenn diese anderen Personen ihrerseits aufgrund einer Obdachloseneinweisungsverfügung dort leben, läßt es Art. 1 I GG nicht zu, ihre Lebensumstände in dieser Weise zu verschlechtern.

11.

Die Mängel der sanitären Anlagen machen sich auch deswegen verstärkt bemerkbar, weil die Wohnwagen in einem Gebiet abgestellt sind, das nach der von den Ast. überreichten eidesstattlichen Versicherung des Caritas-Sozialarbeiters H vom 19. 9. 1983 negativen äußeren Einflüssen und Gesundheitsgefahren in besonderem Maße ausgesetzt ist (Rattenplage). Es kann aber nicht im Interesse der Allgemeinheit an der Aufrechterhaltung hygienischer Zustände liegen, derartige potentielle Gesundheitsgefahren - die sich im übrigen teilweise bereits realisiert haben - noch dadurch zu verstärken, daß ihnen Menschen unter Lebensumständen ausgesetzt bleiben, die beispielsweise die Verbreitung von Krankheiten in besonderem Maße begünstigen. Hinzu kommt, daß die Ast. und ihre Familien wegen der Enge des in dem jeweiligen Wohnwagen befindlichen Raumes notwendig auf die (Mit-) Nutzung der umliegenden Freiflächen angewiesen sind; für die Frage der ausreichenden Größe der Wohnräume kommt es auch nicht allein auf die Zahl der vorhandenen Schlafplätze an. Auch die Stromversorgung erfolgt - wenn überhaupt - lediglich mittelbar über die des vorhandenen Gebäudes; damit kann sie jedoch nicht als gesichert angesehen werden.

12.

Nach alledem vermag jedenfalls der Senat die bisherige Unterbringung der Ast. nicht als ein ausreichendes Mittel zur Beseitigung der Obdachlosigkeit anzusehen, so daß die Ag. nach Maßgabe der vorstehend genannten Kriterien zu einem Tätigwerden zu verpflichten war.

13.

Darüber hinaus hat der Senat allerdings zunächst keinen Anlaß gesehen, noch konkretere Auflagen, beispielsweise hinsichtlich des Standortes für eine winterfeste Unterbringung der Ast., zu machen. Es ist zunächst Sache der Ag. nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wie sie nunmehr ihrer Verpflichtung gegenüber den Ast. nachkommen will. Dabei wird sie allerdings eingehend zu prüfen haben, ob mit der geplanten Errichtung des Holzfertighauses den vorstehend beschriebenen Mindestanforderungen Rechnung getragen würde, wofür nach den von der Ag. nunmehr mitgeteilten Maßen und der geplanten Raumaufteilung und Ausstattung einiges spricht. Bei der Standortentscheidung müßte im übrigen insbesondere geprüft werden, ob sich die in der örtlichen Situation begründeten Gesundheitsgefahren schon mit der Zurverfügungstellung eines festen Gebäudes entscheidend vermindern lassen.

14.

Die vorliegende, allein auf Gefahrenabwehrrecht gegründete Entscheidung des Senats muß die Frage der Gestaltung der weiteren Lebensumstände der Ast. und der Möglichkeiten und Einzelheiten der vielfältigen Bemühungen zu ihrer sozialen Integration, die die Ag. ohne Zweifel unternommen hat und deren bisheriges Scheitern mit Sicherheit auch auf das Verhalten der Ast. zurückgeht, notwendig ausklammern, da diese - sofern sie überhaupt einer rechtlichen Bewertung zugänglich sind - jedenfalls nicht im Rahmen der Verfolgung eines Anspruches auf Beseitigung des Zustandes der Obdachlosigkeit gehört werden können.

15.

Inwieweit sich die Aufstellung des geplanten Holzfertighauses an dem Standort G.-Str. etwa mit baurechtlichen - es handelt sich möglicherweise um den Außenbereich i. s. des § 35 BBauG - oder sonstigen öffentlichrechtlichen Vorschriften in Einklang befinden würde, braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden.