Verwaltungsgericht Würzburg
Beschluss vom 7.6.1972
- 435 II 71
-

 (weitere Fundstellen: BayVBl. 1972, 23 f.)

 

 

Tatbestand:

1.

Der Kläger wohnt als Mieter 150 m von der katholischen Kirche in H. entfernt. Deren Geläut besteht aus drei Glocken, die automatisch bedient werden. Die Gemeinde H. hat etwa 770 Einwohner, 95 % sind katholisch.

2.

Im Januar 1971 wandte sich der Kläger an die Beklagte, das für die Gemeinde H. zuständige Pfarramt, und bat, das mehrfache Geläut um 6.00 Uhr früh zu unterlassen, weil hierdurch die Nachtruhe gestört werde. Da die Beklagte diesem Ersuchen nicht stattgab und auch ein Antrag des Klägers auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung erfolglos blieb, beantragte er im Klagewege, die Beklagte zu verurteilen, 1. das Glockenläuten der Kirche in H. vor 7.00 Uhr morgens und nach 20.00 Uhr abends mit Ausnahme der hohen kirchlichen Feiertage Ostern und Weihnachten zu unterlassen, 2. das tägliche, als Zeitzeichen erfolgende Glockenläuten um 11.00Uhr vormittags der Kirche in H. zu unterlassen und 3. das Läuten zur Vorankündigung eines Gottesdienstes auf eine Ankündigung zu beschränken.

3.

Die Klage blieb erfolglos.

 

Aus den Gründen:

4.

I. Die Klage ist zulässig.

5.

1. Insbesondere ist der Verwaltungsrechtsweg für das Rechtsschutzbegehren des Klägers eröffnet. Insoweit hat das erkennende Gericht bereits im Beschluß vom 1. 6. 1971 (Nr. 391 II 71) ausgeführt:

„Nach § 40 VwGO entscheiden die Verwaltungsgerichte über öffentlichrechtliche Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art, soweit diese nicht ausdrücklich durch Gesetz einem anderen Gerichtszweig zugewiesen sind. Die vom Antragsteller angegriffene Maßnahme der Antragsgegnerin, das Glockenläuten, wurzelt im öffentlichen Recht. Die Antragsgegnerin ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts: sie nimmt in dieser Eigenschaft hoheitliche Funktionen wahr. Zu diesen hoheitlichen Funktionen gehört auch das kirchliche Geläute. Zwar fallen bei den Angelegenheiten der Religionsgesellschaften Handlungen, die lediglich der Pflege, Bewahrung und Fortentwicklung der von ihnen verkörperten Glaubensidee dienen, nicht unter den Begriff der öffentlich-rechtlichen Streitigkeit im Sinne des § 40 VwGO (vgl. Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Auflage, § 40 Randnummer 5 m. weiteren Nachweisen). Andererseits ist es jedoch anerkannt, daß eine Tätigkeit der Kirche, die nicht nur innerkirchliche Belange betrifft, sondern auch staatliche Belange berührt, nicht der Kontrolle durch staatliche Gerichte entzogen sein kann (vgl. BayVGH, Beschluß v. 28. 3. 1968, BayVBl. 1968, 213 BVerfGE 18/385; BVerwG, Urteil v. 16. 12. 1966, DÖV 1967, 574). Unter dem vom Antragsteller angesprochenen Gesichtspunkt des Lärmschutzes werden durch das Geläute zumindest auch staatliche Belange berührt, denn es ist Aufgabe des Staates, im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Gesundheit seiner Bürger zu gewährleisten. Der vorliegende Rechtsstreit ist somit öffentlich-rechtlicher Natur. Da eine Zuweisung der (öffentlich-rechtlichen) Streitsache an besondere Verwaltungsgerichte oder an die Zivilgerichte nicht vorliegt, ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben."

6.

An dieser Rechtsauffassung wird im Ergebnis festgehalten. Denn der Kläger leitet seinen Unterlassungsanspruch gegen die Beklagte — wie er in der mündlichen Verhandlung des Gerichts ausdrücklich erklärt hat — nicht aus § 906 BGB oder sonstigen Pflichten oder Vorschriften des bürgerlichen — oder des innerkirchlichen — Rechts, sondern aus verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Bestimmungen — Art. 2 Abs. 2, 13 GG, An. 106 Abs. 3 BV, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3, 139 und 136 Abs. 4 WRV — her; mit seiner Klage erstrebt der Kläger — in dem sich aus dem Klageantrag ergebenden Umfang — eine Beschränkung des Rechts der Beklagten zur selbständigen Regelung des Läuterechts. Gerade dieses Läuterecht ergibt sich aber aus der staatlichen Anerkennung der Kirchen zur Regelung ihrer Angelegenheiten und ist damit öffentlich-rechtlicher Natur. Ein über das Recht zur Regelung des Läutens entstandener Rechtsstreit behält seinen öffentlich-rechtlichen Charakter auch unabhängig davon, ob eine an diesem Streit beteiligte Partei Mitglied der jeweiligen Religionsgemeinschaft ist oder nicht.

7.

Hinzukommt, daß es sich bei Kirchenglocken um öffentliche Sachen handelt (vgl. OVG Rheinland-Pfalz in DVBl. 1956, 624). Auf öffentliche Sachen finden jedoch — und zwar vorrangig — neben den Vorschriften des bürgerlichen Rechts die Regeln des öffentlichen Rechts Anwendung. Entsteht Streit über den Gebrauch einer öffentlichen Sache, dann handelt es sich um eine Streitigkeit des öffentlichen Rechts. Denn die Entscheidung dieses Streites beruht nicht ausschließlich auf den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts, sondern überwiegend auf allgemeinen öffentlich-rechtlichen Grundsätzen.

8.

Die Richtigkeit der hier vertretenen Auffassung wird erhärtet durch Art. 18 f. Abs. 3 Ziff. 1 des Gesetzes über das Landesstrafrecht und das Verordnungsrecht auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i. d. F. der Bekanntmachung vom 19. 11. 1970 (GVBl. S. 601) —LStVG—. Der Umstand, daß der Bayer. Landesgesetzgeber in dieser Norm — wie noch im einzelnen aufgezeigt wird — eine „Glockenzeichen zu kirchlichen oder öffentlichen Zwecken" betreffende Regelung vorgenommen hat, beweist zur Überzeugung des Gerichts, daß er diese Materie als — zumindest auch — dem öffentlichen Recht gehörig erachtet hat. Denn das LStVG, das unter Einbeziehung weiterer Vorschriften auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im wesentlichen den Rechtsstoff neu ordnet, der in dem Polizeistrafgesetzbuch für Bayern vom 26. 12. 1871 (GBl. 1871/ 72, 9, vgl. BayBS I. 341) und in der Verordnung, die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden in Sachen des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich und des Polizeistrafgesetzbuchs betreffend, vom 4. 1. 1872 (RegBl. Sp. 25; BayBS I. 343) enthalten war, ist erkennbar dem allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsrecht, also dem öffentlichen Recht zuzuordnen.

9.

Ob neben dem Rechtsweg zu dem angerufenen Gericht für denjenigen, der seinen Anspruch auf Unterlassung auf die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über den Immissionsschutz stützt, der Rechtsweg zu den Zivilgerichten eröffnet ist, war im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, da der Kläger diese Normen für sich gerade nicht in Anspruch genommen hat.

10.

2. Zugunsten des Klägers war auch davon auszugehen, daß die von ihm gegen die Beklagte gerichtete Klage — mit dem Ziel einer Einschränkung des Glockenläutens — statthaft ist (vgl. auch den Beschluß der erkennenden Kammer vom 1. 6. 1971, Nr. 391 II 71) und daß es nicht einer gegen die Gemeinde H. oder den Freistaat Bayern gerichteten Klage mit dein Ziel bedurfte, diese, gestützt auf Art. 18 g Abs. 3 Ziff. 2 a LStVG (danach kann mit Geldbuße belegt werden, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen dem Wortlaut des Art. 18 f. Abs. 2 LStVG Schallzeichen gibt) i. V. m. Art. 5 AGStPO zum Einschreiten gegen die Beklagte zu verpflichten. Nach Auffassung des Gerichts rechtfertigt der Umstand, daß „das Verhältnis von Staat und Kirche nicht ein System der Ober- und Unterordnung oder der „— völligen" — Einordnung der Kirche in die vom Staat aufgestellte Rechtsordnung ist", daß es sich vielmehr „um ein System der Zuordnung (Koordination) zweier voneinander unabhängiger, in ihren Bereichen selbständiger Gemeinwesen handelt" (Mikat, Die Grundrechte, Bd. IV, 1 S. 145), die Statthaftigkeit einer unmittelbar gegen die Kirche gerichteten Unterlassungsklage. Denn vorliegend fehlt es im Hinblick auf die Gleichrangigkeit von Staat und Kirche gerade an dem für eine Verpflichtungsklage typischen Ziel, die gemeindlichen bzw. staatlichen Behörden mittels der Klage zu verpflichten, kraft eines Ober- und Unterordnungsverhältnisses hoheitlich gegen den als Störer in Anspruch Genommenen einzuschreiten.

11.

3. Schließlich ist für die Klage auch in vollem Umfang das Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Dies gilt insbesondere auch insoweit, als der Kläger die grundsätzliche Unterlassung des Glockenläutens der Kirche in H. nach 20.00 Uhr begehrt. Zwar hat die Beklagte bestritten, daß verschiedentlich auch nach 20.00 Uhr geläutet werde. Angesichts der Gottesdienstordnung der Beklagten — nach dieser findet u. a. an jedem Donnerstag um 19.30 Uhr eine Abendmesse statt, in der auch nach der geänderten Läuteordnung jeweils bei der Wandlung mit einer Glocke kurz geläutet wird — kann nach Auffassung des Gerichts nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, daß mitunter, wenn auch vielleicht nur unmittelbar nach 20.00 Uhr, geläutet wird.

12.

II. Die Klage ist jedoch nicht, begründet.

13.

Der Kläger wird durch das tägliche Glockenläuten der Beklagten um 6.00 und 11.00 Uhr und das gelegentliche Läuten nach 20.00 Uhr nicht in seinen Rechten verletzt.

14.

1. Nach Art. 18 f Abs. 2 Ziffer 2 LStVG ist es zwar u. a. verboten, mit Hilfe von Geräten Schallzeichen — ausgenommen Notzeichen — zu geben, die geeignet sind, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen. Diese Bestimmung gilt nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in Art. 18 f Abs. 3 Ziffer 1 LStVG jedoch nicht für „Glockenzeichen zu kirchlichen oder öffentlichen Zwecken".

15.

Aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber die Ausnahmevorschrift des Art. 18 f Abs. 3 Ziffer 1 LStVG geschaffen hat, erhellt, daß er — zutreffenderweise — davon ausgegangen ist, daß auch Glockenzeichen zu kirchlichen oder öffentlichen Zwecken an sich Schallzeichen darstellen können, die die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen geeignet sind. Andernfalls wäre es nicht erklärlich, warum er die in Art. 18 f Abs. 3 Ziffer 1 LStVG getroffene Regelung für erforderlich gehalten hat.

16.

Auch die erkennende Kammer steht auf dem Standpunkt, daß eine Beeinträchtigung durch Kirchenglocken nicht schon deshalb undenkbar ist, weil Glocken begrifflich niemals „Lärm" verursachten und im Gegensatz zu Lärm „ordnend und beruhigend wirkten" (so aber grundsätzlich die „Stellungnahme zu den Angriffen gegen Kirchenglocken" — veröffentlicht im. Würzburger Diözesanblatt 1970, 245 ff.; vgl. ferner Hamel, Die Grundrechte Bd. IV, 1 S. 84 und Wiethaupt, Die Lärmbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland, 1961/213; wie hier: Stolleis, EayVBl. 1972, 24 und Baldus, DÖV 1971, 339 Anmerkung 23). Als Lärm ist nämlich grundsätzlich jede Art von Schallzeichen zu bezeichnen, die infolge ihrer Tonstärke, Tonhöhe oder Tonfolge vom menschlichen Ohr als unangenehm empfunden werden. Mag auch das Zusammenspiel aufeinander abgestimmter Glocken durchwegs einen harmonischen Klang erzeugen, kann gleichwohl ihr Läuten — wie dies auch die vorbezeichnete „Stellungnahme" einräumt — „zu Lärm ausarten, wenn akustische Grundregeln mißachtet sind"; diese Mißachtung kann sich insbesondere in einer „völlig freien Aufhängung der Glocken, weit offenen Glockenstuben, falscher Anordnung der Schallauslässe, zu steilen Jalousiebrettern und schlechter Intonation" (so die „Stellungnahme" a. a. O.) äußern. Auch kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, daß klanglich minderwertige Glocken oder ein falsch zusammengestelltes Geläute — auch dies räumt die vorbezeichnete „Stellungnahme" zutreffenderweise ein — „für die Anwohner eine Zumutung bedeuten", ganz abgesehen davon, daß eine solche „Zumutung" im Einzelfall auch durch die Zeit, Häufigkeit und Intensität des Läutens bedingt sein kann.

17.

Wenn der bayerische Gesetzgeber dennoch „Glockenzeichen zu kirchlichen Zwecken" in Art. 18 f Abs. 3 Ziff. 1 LStVG — jedenfalls vom Wortlaut der Norm her — grundsätzlich vom Verbot des Art. 18 f Abs. 2 Ziffer 2 LStVG ausgenommen hat, dann erkennbar deshalb, weil er der durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV anerkannten Eigenständigkeit der Kirchen Rechnung tragen wollte. Durch die in das Grundgesetz übernommenen Regelungen der Weimarer Reichsverfassung, daß keine Staatskirche besteht (Art. 137 Abs. 1 WRV) und daß jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze verwaltet und ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde verleiht (An. 137 Abs. 3 WRV), erkennt der Staat die Kirchen nämlich als vorgegebene, mit dem Recht der Selbstbestimmung ausgestattete Institutionen an, die ihrem Wesen nach vom Staate unabhängig sind, ihre „Gewalt", also ihre Betätigungsvollmacht, nicht von ihm herleiten, und in deren innere Verhältnisse der Staat deshalb nicht eingreifen darf. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluß vom 17. 2. 1965 (BVerfGE 18, 385 ff.) dargelegt. Es hat dazu klargestellt, daß die staatliche Anerkennung des Rechtsstandes der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV) hieran nichts ändert und die Kirchen nicht etwa den sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts gleichstellt, die im Gegensatz zu den eigenständigen öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften ihre Betätigungsvollmacht vom Staate herleiten und in diesen eingegliederte Verbände sind. Durch diese Anerkennung ihres öffentlich-rechtlichen Rechtsstandes werden deshalb die Kirchen nicht einer besonderen Kirchenhoheit oder einer gesteigerten Rechtsaufsicht des Staates unterworfen, sondern nur in einem öffentlichen Rechtsstand bestätigt, der sie über die Religionsgesellschaften des Privatrechts erhebt (BVerfGE 18, 385 [386, 387]). Aus der Eigenständigkeit der Kirchen hat das Bundesverfassungsgericht (a. a. O.) weiter abgeleitet, daß die Kirchen nach ihrem besonderen Auftrag zwar öffentliche, aber nicht staatliche Gewalt ausüben. Nur soweit die Kirchen vom Staat verliehene Befugnisse (vgl. beispielsweise Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV) wahrnehmen oder soweit ihre Maßnahmen den kirchlichen Bereich überschreiten oder in den staatlichen Bereich hineinreichen, üben sie — nach dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — mittelbar auch staatliche Gewalt mit der sich daraus ergebenden Einschränkung ihrer Selbstbestimmung aus. Auf Grund dieses Kirchenverständnisses hält das Bundesverfassungsgericht es für eine Schmälerung der von der Verfassung anerkannten Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirchen, wenn der Staat seinen Gerichten das Recht einräumen würde, innerkirchliche Maßnahmen ohne unmittelbare Rechtswirkungen im staatlichen Zuständigkeitsbereich auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen. Insoweit sieht das Bundesverfassungsgericht die Kirchen im Rahmen ihrer Selbstbestimmung als nicht an das „für alle geltende Gesetz" (Art. 140 GG i. V. m. Art 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) gebunden an (vgl. auch BVerwG in BVerwGE 25, 226).

18.

Das Glockenläuten in der Gemeinde H. erfolgt auf Grund der Läuteordnung, die sich die Beklagte gibt. Diese Läuteordnung regelt Anlaß und Dauer des Läutens, das seinerseits nach Herkommen und Funktion als Ausschnitt des kirchlichen Tätigkeitsbereiches anzusehen ist. Dieser Teilbereich kirchlichen Lebens steht unter dem Schutz des Art. 140 GG i. V. m. An. 137 WRV; die grundsätzlich freie Gestaltung der Läuteordnung ist im Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften verankert. Denn unter den Begriff „Ordnen ihrer eigenen Angelegenheiten" im Sinne des Art. 140 GG i. V. m. An. 137 Abs. 3 WRV muß auch die Rechtsetzungsbefugnis bezüglich der Kirchenangelegenheiten subsumiert werden. Ausfluß dieser Rechtsetzungsbefugnis ist aber auf der Ebene einer Kirchengemeinde u. a. der Erlaß einer Läuteordnung. Infolgedessen leitet sich auch jede Läuteordnung von der ursprünglichen, nicht erst vom Staat übertragenen — (vgl. hierzu auch Mikat, a. a. O., S. 173) — „Herrschaftsgewalt" der Kirchen ab mit der Folge, daß auch ihre Ausgestaltung grundsätzlich von jedem staatlichen Eingriff frei sein muß. Daneben umfaßt auch das in Art. 4 Abs. 2 GG gewährte Recht auf ungestörte Religionsausübung u. a. das Recht auf Glocken als hergebrachte Symbole der christlichen Kirchen (vgl. Wiethaupt, a. a. O. S. 212; Kääb-Rösch, Kommentar zum LStVG, Art. 18 f Randnummer 35).

19.

2. Weder Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV noch Art. 4 Abs. 2 GG noch Art. 18 f Abs. 3 Ziff. 1 LStVG können jedoch zur Folge haben, daß die Kirchen außerhalb jeglicher staatlicher Ordnung stehen. Vielmehr muß insoweit unterschieden werden zwischen dem kirchlichen Tätigkeitsbereich, der rein innerkirchlichen oder religiösen Charakter trägt, und dem Bereich, der seinem Wesen nach Rechtswirkungen auch im staatlichen Bereich äußert. Kirchliche Handlungen, die Wirkungen nur im innerkirchlichen oder rein religiösen Bereich zeitigen, sind dem Zugriff des Staates entzogen. Überschreitet die kirchliche Tätigkeit jedoch den innerkirchlichen oder rein religiösen Bereich, unterliegen auch die Freiheitsrechte der Kirche — wie alle Freiheitsrechte — insoweit gewissen Schranken, seien es sog. immanente, seien sie — wie in Art. 140 GG i. V. in. Art. 137 Abs. 3 WRV — ausdrücklich genannt (so insbesondere auch Stolleis in BayVBl. 1972, 23 und von Campenhausen in DVBl. 1972, 316). Denn die Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Gleichrangigkeit der Kirche gegenüber dem Staat bedeutet nicht, daß beide in einem beziehungslosen Zustand nebeneinander existieren; sie beinhaltet vielmehr gleichzeitig die Verpflichtung der Kirche, die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG) zu beachten, und die Notwendigkeit, die sich aus dieser Selbständigkeit ergebenden Rechte mit den sich aus staatlichen Gesetzen ergebenden Forderungen abzustimmen und zum Ausgleich zu bringen. Dabei kann die gegenseitige Beziehung zwischen der verfassungsrechtlich gewährleisteten Kultusfreiheit und den diese begrenzenden „allgemeinen Gesetzen" nicht als einseitige Beschränkung dieser Freiheit durch diese Gesetze aufgefaßt werden. Vielmehr findet eine Wechselbeziehung in dem Sinne statt, daß die „allgemeinen Gesetze" dieser Freiheit zwar Schranken setzen, ihrerseits aber aus der grundsätzlichen staatlichen Anerkennung dieser Freiheit im freiheitlich-demokratischen Staat geprägt und so in ihrer die Freiheit beschränkenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen. Entscheidend ist dabei, daß auf Grund der verfassungsrechtlichen Regelung (Art 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV und Art. 4 Abs. 2 GG), aber auch des Art 18 f LStVG, eine Vermutung für die Freiheit der Kirchen, insbesondere auch zur selbstverantwortlichen Ausgestaltung ihrer Angelegenheiten — auch des Läuterechts — besteht und daß jeder Eingriff in diese Freiheit durch die staatliche Gesetzgebung einer besonderen verfassungsmäßigen Begründung bedarf. Die Freiheit auch der Kirchen ist nach der freiheitlichen Konzeption des GG nicht darauf angelegt, beschränkt zu werden, sondern umgekehrt darauf, eine umfassende selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten in einem für alle Betroffenen und die Allgemeinheit bestmöglichen Sinne in freiheitlicher und der Allgemeinheit verpflichteter Eigenverantwortung zu gewährleisten.

20.

Damit verhält es sich mit der Freiheit der Kirchen ebenso wie mit der in Art. 2 Abs. 1 GG niedergelegten allgemeinen Handlungsfreiheit. Auch diese gewährleistet zunächst eine umfassende menschliche Handlungsfreiheit (vgl. hierzu BVerfGE 6, 32 [36]; 8, 274 [328]; 9, 3 [11]; 10, 89 (99), verbürgt somit die Unterlassung staatlicher Interventionen in die Rechtssphäre des Einzelnen und eröffnet diesem die selbständige und seinen Interessen entsprechende Ausgestaltung des staatsfreien Raums, um dann durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz beschränkt zu werden. Infolgedessen sind auch die vom Bundesverfassungsgericht zu dieser Bestimmung entwickelten Grundsätze (vgl. hierzu insbesondere die vorstehend zitierten Entscheidungen) auf die Betätigungsfreiheit der Kirchen übertragbar; mit anderen Worten: auch Einschränkungen der kirchlichen Betätigungsfreiheit dürfen nicht ohne zwingende Notwendigkeit erfolgen. Sie halten sich vielmehr nur dann im Rahmen des in der „verfassungsmäßigen Ordnung" beschlossenen Rechtsstaatsprinzips, wenn sie aus zwingenden übergeordneten Gründen des öffentlichen Wohls gefordert und wenn sie verhältnismäßig sind. Um aber feststellen zu können, ob solche übergeordnete Gründe des öffentlichen Wohles Einschränkungen der Betätigungsfreiheit der Kirche fordern, ist abzuwägen zwischen dem Interesse der Kirchen an einem uneingeschränkten Freiheitsgebrauch einerseits und dem Interesse der Allgemeinheit an einer Einschränkung dieser Freiheit andererseits. Die Handlungsfreiheit der Kirche müßte sonach — auf den vorliegenden Fall bezogen — dort ihre Grenze finden, wo ihr Gebrauch unmittelbar und zwangsläufig zu einer erheblichen Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens einer unbestimmten Anzahl von Bürgern führen würde.

21.

3. Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt die Unbegründetheit der Klage.

22.

Zwar ist dem Kläger zuzugeben, daß gerade das morgendliche 6.00 Uhr-Läuten zu einer Zeit erfolgt, in der das Bedürfnis nach Ruhe nicht so außergewöhnlich ist, daß darauf generell überhaupt keine Rücksicht genommen zu werden bräuchte. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, daß als Nachtzeit regelmäßig die Zeit zwischen 22.00 Uhr und 7.00 Uhr anzusehen ist (so ausdrücklich die Gemeinsame Entschließung des Bayer. Staatsministeriums des Innern, für Wirtschaft und Verkehr und für Arbeit und soziale Fürsorge vom 1. 8. 1968, betreffend den Vollzug der Art. 18—18 h LStVG, abgedruckt in MABl. 1968, 371 ff. unter IV).

23.

Gleichwohl erfordern jedenfalls im vorliegenden Fall nicht zwingende übergeordnete Gründe des öffentlichen Wohls den Wegfall des morgendlichen Läutens um 6.00 Uhr. Dieses Läuten erfolgt nämlich — wie die Beklagte glaubhaft dargetan hat — zu einer Zeit, in der sich ein Großteil der berufstätigen Einwohnerschaft von H. bereits auf dem Weg zur Arbeitsstätte befindet. Durch das Läuten um 6.00 Uhr fühlt sich daher — wie sich insbesondere auch aus der Umfrage der Beklagten im Mai 1971 zur Überzeugung des Gerichts ergibt — im wesentlichen nur der Kläger gestört. Es bedeutete jedoch eine unsachgemäße Interessenabwägung und eine Überbewertung der dem Kläger eingeräumten Rechtsposition, aber auch eine Verkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überhaupt, wollte man ihm als einzelnem trotz der entgegenstehenden Bekundungen der überwiegenden Anzahl der Einwohner von H. gleichsam die maßgebliche Entscheidungsbefugnis darüber zubilligen, ob um 6.00 Uhr geläutet werden dürfe oder nicht. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick darauf, daß das 6.00 Uhr-Läuten — wie die Beklagte ebenfalls zur Überzeugung des Gerichts dargetan hat — in H. seit dem 14. Jahrhundert üblich ist. Wenn auch Herkommen und Tradition als Rechtsquelle gegenüber den Grundrechten grundsätzlich zurücktreten müssen, bilden sie doch — auch dies war zu Gunsten der Beklagten zu berücksichtigen — ein wesentliches Auslegungskriterium bei der Inhaltsbestimmung von Grundrechten (so auch Baldus a. a. O.). Zudem bildet das 2-3-minütige Glockenläuten um 6.00 Uhr keine permanente Geräuschquelle. Im übrigen wäre es dem Kläger vorliegend gerade unter dem Gesichtspunkt der Interessenabwägung weitaus eher als der Beklagten zuzumuten, seinem Ruhe- und Schonungsbedürfnis erforderlichenfalls durch einen Wechsel der Mietwohnung Rechnung zu tragen.

24.

Dafür, daß der Kläger in seiner eigenen Glaubensfreiheit verletzt oder entgegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV zur Teilnahme an religiösen Übungen gezwungen werde, weil er das Glockenläuten hört, ist ebenfalls nichts ersichtlich. Denn Glaubensfreiheit kann nicht bedeuten — hierauf hat bereits von Campenhausen in DVBl. 1972, 316 zutreffend hingewiesen —‚ durch staatliche Hilfe die Religionsausübung anderer von sich abzuwehren. Die Begegnung mit der Religionsausübung anderer kann in einem pluralistischen Staat niemandem abgenommen werden (vgl. auch BVerwGE 30, 29); es ist nicht einzusehen, inwiefern in einem weltanschaulich pluralistischen Gemeinwesen die Konfrontierung mit anderen Meinungen eine Verletzung der eigenen Glaubens- und Gewissensfreiheit sein kann (vgl. auch BayVerfGH in DVBl. 1967, 453). Der gegenteilige Standpunkt bedeutete wiederum eine unangemessene Überbewertung der negativen Bekenntnisfreiheit zu Lasten der positiven Bekenntnisfreiheit. Der Zwang, den Klang einer Glocke zu hören, der sich aus der räumlichen Nähe zu einer Glocke ergibt, ist kein auf das Freiheitsrecht des Klägers zielender Eingriff (vgl. auch von Campenhausen, a. a. O.).

25.

Auf Art. 13 Abs. 1 GG beruft sich der Kläger schon deshalb zu Unrecht, weil diese Norm lediglich einen verfassungsrechtlich geschützten Abwehranspruch gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt in die räumliche Individualsphäre gegen den Willen des Berechtigten verleiht; eine Drittwirkung kommt Art. 13 Abs. 1 GG jedoch nicht zu (vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 17. Auflage 1969, § 15 V 2).

26.

Dies gilt auch für den Art. 1) Abs. 1 GG inhaltlich entsprechenden Artikel 106 Abs. 3 BV. Das vom Kläger beanstandete Glockenläuten verstößt auch nicht gegen Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, wonach insbesondere auch der Sonntag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt bleibt. Im Gegenteil betrachtet gerade in H. ein erheblicher Teil der Bevölkerung erkennbar auch das morgendliche Läuten um 6.00 Uhr am Sonntag als zu einem Feiertag gehörig.

27.

Der Hinweis des Klägers auf mögliche Unzuträglichkeiten, die entstehen könnten, wenn andere Religionsgemeinschaften oder Sekten „sich zum Nachweis ihrer Glaubensidee ähnlicher phonerzeugender Mittel bedienen wollten", geht ebenfalls fehl. Der Staat wäre nicht von vorneherein gehalten, diese Gemeinschaften und Sekten ebenso zu behandeln wie insbesondere die Katholische und die Evangelische Kirche. Er könnte vielmehr Differenzierungen vornehmen, die durch tatsächliche Verschiedenheiten anderer Gemeinschaften oder Sekten gegenüber den traditionell christlichen Kirchen bedingt sind (vgl. BVerfGE 19, 1 [8] und Link in BayBVBl. 1966, 297). Deshalb könnte er die Benutzung von Glocken durch Sekten oder andere Glaubensgemeinschaften gerade im Hinblick darauf anders regeln, daß diese sich insoweit — im Gegensatz zu den traditionell christlichen Kirchen — nicht auf die Herkömmlichkeit des Läutens berufen könnten.

28.

Ob auch in H. — wie z. B. im Stadtdekanat Würzburg bereits ab 1. 10. 1967 gehandhabt — eine freiwillige Einschränkung des Läuterechts der Beklagten unbeschadet ihrer Rechte aus der Kultusfreiheit dahingehend vorgenommen werden könnte, daß das Läuten an Werktagen auf die Zeit von 7.00 Uhr früh bis 20.00 Uhr abends und an Sonn- und Feiertagen von 8.00 Uhr früh bis 20.00 Uhr abends (mit Ausnahmen für bestimmte Feiertage) beschränkt wird, brauchte vom Gericht nicht entschieden zu werden, da dein Kläger auf diese kirchliche Selbstbeschränkung kein materiell-subjektiv-öffentliches Recht zusteht.

29.

Mit dem Begehren, die Beklagte zu verurteilen, das Glockenläuten nach 20.00 Uhr grundsätzlich zu unterlassen, konnte der Kläger ebenfalls nicht obsiegen. Bei einer insoweit vorzunehmenden Interessenabwägung sind nämlich schon deshalb keine Anhaltspunkte für ein überwiegendes Interesse des Klägers an der Unterlassung dieses Läutens ersichtlich, weil es angesichts der Zeit, zu der es erfolgt — nach der Läuteordnung der Beklagten erkennbar allenfalls jeden Donnerstag kurz nach 20.00 Uhr — keinen „Lärm" verursacht; dieses Läuten ist objektiv nicht geeignet, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen. Auf eine allenfallsige besondere Empfindlichkeit des Klägers konnte insoweit nicht abgestellt werden (vgl. für den Bereich des bürgerlichen Rechts auch Palandt-Degenhart, § 906 BGB Anmerkung 3 a).

30.

Diese Grundsätze gelten auch für das weitere Begehren des Klägers, die Beklagte zu verurteilen, das täglich als Zeitzeichen erfolgende Glockenläuten um 11.00 Uhr zu unterlassen. Wenn auch dieses Läuten ersichtlich eine nichtsakrale Nebenaufgabe der Kirche darstellt und deshalb nicht durch Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV bzw. Art. 4 Abs. 2 GG privilegiert, sondern allein nach Art. 18 f LStVG zu beurteilen ist, erwies sich die Klage auch insoweit dennoch als unbegründet. Abgesehen davon, daß auch dieses Läuten „öffentlichen Zwecken" im Sinne des Art. 18 f Abs. 3 Ziff. 1 LStVG dient, ist es insbesondere im Hinblick darauf, daß es um 11.00 Uhr erfolgt, ebenfalls nicht geeignet, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft im Sinne des Art. 18 Abs. 2 Ziff. 2 LStVG erheblich zu belästigen.

31.

Nach alledem erwies sich die Klage als unbegründet. Sie war deshalb abzuweisen.