Verwaltungsgericht Wiesbaden
Beschluss vom 26.1.1998
- 6 G 1267/97
(V) -

 (weitere Fundstellen: NJW 1998, 1246 f.)

 

 

Tatbestand

1.

Die Kinder der Ast. besuchen die Klassen l0 b und 6 b einer integrierten Gesamtschule. Die Ast. wenden sich dagegen, daß ihre Kinder – auf der Grundlage des Beschlusses der Kultusministerkonferenz vom 30. 11./1. 12. 1995 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung und nach der durch Erlaß des Hessischen Kultusministeriums vom 19. 11. 1996 (ABI 1996, 616) erfolgten Umsetzung des Kultusministerkonferenzbeschlusses – nach den Regeln der Rechtschreibreform unterrichtet werden. Entsprechend den Regelungen in dem angeführten Erlaß für eine „vorgezogene generelle Umstellung an einer Schule" ab dem 1. 8. 1997 hat die Gesamtkonferenz der IGS gemäß Punkt 3 des Erlasses die vorgezogene generelle Umstellung beschlossen. Dem hat die Schulkonferenz am 23. 4. 1997 zugestimmt. Die Ast. haben einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gestellt und Klage erhoben, mit welcher sie begehren, daß ihre Kinder nicht nach den Regeln der Rechtschreibreform unterrichtet werden.

2.

Das VG gab dem Eilantrag statt.

 

Aus den Gründen:

3.

Das Gericht hat nach einem entsprechenden Hinweis an die Bet. den Antrag der Ast. dahin ausgelegt, daß lediglich soweit entsprechend den Beschlüssen der Gremien der IGS, nach vorgezogener Rechtschreibreform, im Schuljahr 1997/98 Unterricht erfolgt, einstweiliger Rechtsschutz begehrt wird, und daß nicht, wie zunächst formuliert, ein Unterlassen der Unterrichtung nach den neuen Regelungen angestrebt wird, sondern daß positiv der Unterricht einstweilen nach den seitherigen Rechtschreibregelungen zu erteilen ist. Diese Auslegung entspricht dem eindeutigen Rechtsschutzziel der Ast., da nur ein positives Tun, nämlich Unterricht in der seitherigen Schreibweise, sinnvollerweise gefordert werden kann, denn ein (Deutsch-) Unterricht ohne Orthographie ist (jedenfalls derzeit) nicht vorstellbar. Dem tatsächlichen Begehren der Ast. entspricht es daher, daß sie ihre Kinder in der hergebrachten Schreibweise unterrichtet wissen wollen ( 88 VwGO – vgl. dazu auch OVC Schleswig, NJW 1997, 2536; OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 – 2 S. 610/97). In den Gründen des letztgenannten Beschlusses ist ausgeführt: „Die Ast. haben einen Anspruch darauf, daß der Ast. zu 1 vorerst ohne Beachtung der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung unterrichtet wird".

4.

In dieser Auslegung ist der Antrag zulässig. Insbesondere ist das VG Wiesbaden für die Entscheidung zuständig. Gleichgültig, ob es sich bei der Hauptsache um eine Unterlassungsklage oder unmittelbar um eine allgemeine Leistungsklage handelt, richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach § 52 Nr. 5 VwGO. Danach ist das VG örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Behörde liegt, die über den vom Kl. geltend gemachten Anspruch entscheiden kann. Da es sich hier um Entscheidungen von Gremien der IGS handelt, welche der Dienstaufsicht des Staatlichen Schulamtes unterliegen, und sich der Eilantrag zeitlich auf das Schuljahr 1997/98 beschränkt, ergibt sich daraus sowohl die örtliche Zuständigkeit des Gerichts als auch die Vertretungsbefugnis des Staatlichen Schulamtes für die Vertretung des Landes Hessen im vorliegenden Fall. Zur Frage, durch wen der Ag. zu vertreten ist, hat das OVG Lüneburg in seinem Beschluß vom 17. 10. 1997 (NJW 1997, 3456 f.) ausgeführt, zwar könnten die Ast. ihren Unterlassungsanspruch auch gegenüber der Schule geltend machen; gleichwohl stehe jedoch auch gegenüber dem Ag. (dem Kultusminister) ein solcher Anspruch zu. Dieser sei dafür verantwortlich, daß die Rechtschreibreform in Niedersachsen für die Schulen verbindlich eingeführt sei, und er könne im Rahmen seiner Befugnisse als oberste Schulbehörde die Unterrichtung nach den geänderten Rechtschreibregeln wieder aussetzen.

5.

Der somit zulässige Antrag ist begründet. Insoweit wird auf die Gründe des Beschlusses der Kammer vom 28. 7. 1997 (NJW 1997, 2399) Bezug genommen, an denen das Gericht im wesentlichen festhält. Änderungen in der Begründung ergeben sich auch nicht dadurch, daß vorstehend der Antrag in der Weise ausgelegt wurde, daß die Ast. eine Weiterunterrichtung ihrer Kinder nach der geltenden Orthographie begehren und nicht einen schlichten Unterlassungsanspruch (Unterrichtung in der reformierten Schreibweise) geltend machen. Diese vom Gericht vorgenommene Ermittlung des tatsächlichen Begehrens der Ast. soll lediglich bereits im Tenor klarstellen, daß weiterhin in der überkommenen Schreibweise unterrichtet werden soll und nicht, was ohnedies unsinnig wäre, eine regellose Unterrichtung erwartet wird. An der rechtlichen Qualität des Begehrens ändert sich dadurch nichts.

6.

Bezüglich eines Anordnungsanspruches ist das OVG Schleswig in seinem den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ablehnenden Beschluß (NJW 1997, 2536) noch davon ausgegangen, daß eine Änderung von Schreibweisen der deutschen Sprache staatlicher Verfügungsgewalt entzogen sei und die beabsichtigte Reform nicht die Orthographie ändere, sondern sie lediglich der allgemein zu erwartenden Rechtschreibänderung (im Rahmen der natürlichen Entwicklung) anpasse. Die den Ländern zugestandene Kompetenz zum Erlaß „normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften" führe dazu, daß solche Vorschriften nur im Rahmen der vom Gesetz gezogenen Grenzen justitiabel seien. Damit kommt das OVG zu dem Ergebnis, daß die von dem zuständigen Landesministerium getroffene positive Prognose, die Rechtschreibreform werde die für eine Sprachgeltung notwendige allgemeine Akzeptanz finden, nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar sei.

7.

Die nach Erlaß des genannten Beschlusses eingetretene Entwicklung läßt es aber mehr als fragwürdig erscheinen, ob die vorgesehene Rechtschreibreform die erforderliche Akzeptanz finden, wird. Auch das OVG Schleswig hat für den Fall, daß „die Vertretbarkeit der positiven Akzeptanz-Prognose" erschüttert werde, ausgeführt, daß das Reformwerk für diesen Fall „kein tauglicher Gegenstand eines korrekten Deutschunterrichts" mehr wäre.

8.

Die Kammer geht davon aus, daß sich die Verhältnisse bezüglich der Rechtschreibreform, wie sie noch dem Beschluß des OVG Schleswig zugrunde gelegen haben, seit damals so sehr geändert haben, daß es eher äußerst unwahrscheinlich erscheint, daß das auf den genannten Entscheidungen der Kultusministerkonferenz basierende Reformwerk überhaupt jemals umgesetzt werden wird. Auf die geforderte Akzeptanz kommt es dann nicht mehr an, weil es zu der vom OVG Schleswig angenommenen (natürlichen) Sprachentwicklung in diese Richtung gar nicht mehr kommen wird.

9.

Zu dieser Einschätzung gelangt das Gericht schon deshalb, weil sich nach der Meinung aller Obergerichte, die sich mit diesem Problem befaßt haben, schon im Eilverfahren ergeben hat, daß die beabsichtigte Einführung des Reformwerkes rechtswidrig sei.

10.

So hat das OVG Bautzen in seinem Beschluß vom 28. 10. 1997 (2 S 610/97) in seiner umfangreichen Begründung zur Frage der Rechtswidrigkeit der hier in Rede stehenden Einführung der neuen Schreibweise im wesentlichen ausgeführt, erhebliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Neuregelung der deutschen . Rechtschreibung und deren Vermittlung im Schulrecht bestünden schon deshalb, weil viel dafür spreche, daß die Sprache einschließlich der Rechtschreibung inhaltlich im wesentlichen nicht von der hoheitlichen Regelungsgewalt erfaßt werde (S. 21 des Beschlußabdruckes m. w. Nachw.). Änderungen der Sprachgestalt vollzögen sich innerhalb der Sprachgemeinschaft, d.h. sie gingen vom Sprachvolk als dem natürlichen Sachwalter der Sprache und nicht vom Staat aus. Für die Schriftsprache gelte im Ergebnis nichts anderes. Sie sei zwar kein bloßes Abbild der sich außerhalb der unmittelbaren staatlichen Einflußsphäre entwickelnden Sprechsprache, sondern ein relativ selbständiges sprachliches, Medium, dessen Schreib-, Worttrennungs- und Zeichensetzungsregeln bewußt erarbeitet und im Jahre 1901 zunächst von außen auf dem Erlaßwege eingeführt worden seien. Gleichwohl verlaufe auch ihre Weiterentwicklung primär in gesellschaftlichen Bahnen (OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 —2 S 610/97).

11.

Insbesondere unter Bezugnahme auf Löwer bei der Sachverständigenanhörung durch den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 2. 6. 1997 (Dt. BT, 13. Wahlperiode, Rechtsausschuß, Protokollnr. 86, S. 19 und 30) führt das OVC weiter aus, eine schulbezogene Rechtschreibreform sei demnach grundsätzlich zulässig. Allerdings dürfe sie nur das nachvollziehen, was schon „unterwegs" sei. „Avantgardistische Effekte", die auf zukünftige Änderungen zielten, die keiner wolle, seien ihr versagt (S. 22 m. w. Nachw.). Weiter heißt es dort:

„Unter Berücksichtigung dieser unter dem Vorbehalt einer abschließenden Überprüfung im Hauptsacheverfahren stehenden Erkenntnisse dürfte der Staat mit der Neuregelung der Rechtschreibung den Bereich verlassen haben, in dem er sich noch der deutschen Sprache annehmen kann. Denn es bestehen derzeit keine Anhaltspunkte dafür, daß die einschneidenden und alle wesentlichen Teilbereiche der Orthographie betreffenden Änderungen der bisherigen Regeln zur Laut- Buchstaben-Zuordnung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Schreibung mit Bindestrich, Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Worttrennung ihren Ursprung in einem sich dahin entwickelnden Schreibverhalten des deutschen Sprachvolkes haben."

12.

Zusammenfassend kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß die sonach wohl widerrechtliche Inanspruchnahme staatlicher Gewalt zu einem Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht führe und die verbindliche Einführung der geänderten Schreibregeln in den Unterricht jedenfalls in einer dem Vorbehalt des Gesetzes entsprechenden Art und Weise zu geschehen habe. Eine derartige Instrumentalisierung der Schule und der Schüler zum Mittel der Sprachbeeinflussung sei der bisherigen Rechtsordnung fremd. Sie stelle eine wesentliche bildungs- und schulpolitische Entscheidung allgemeiner Art dar und bedürfe somit zumindest einer gesetzgeberische Leitentscheidung (Beschlußabdruck S. 23 bis 25).

13.

Auch das QVG Lüneburg kommt in seinem Beschluß vom 17. 10. 1997 (NJW 1997, 3456 ff.) zu dem Ergebnis, daß bei der (im Eilverfahren) nur möglichen summarischen Prüfung die Einführung der geänderten Schreibweise mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig sei (beschränkt auf die vorgezogene Einführung der Reform für die Zeit bis zum 31. 7. 1998). Bei der Einführung der Übergangsregelungen sei der Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 1. 12. 1995 hinsichtlich des von ihm beschriebenen Verfahrens bei der Umsetzung der Rechtschreibreform nicht beachtet worden. Darüber hinaus gebe es gewichtige Bedenken auch gegen die Rechtmäßigkeit der endgültigen Umsetzung der Rechtschreibreform in der bisher vorliegenden Fassung.

14.

Mit dem OVG Lüneburg ist die Kammer der Auffassung, daß vorliegend wesentliche Voraussetzungen des Beschlusses der Kultusministerkonferenz vom 1. 12. 1995 für die Einführung der Rechtschreibreform fehlen. Insoweit macht sich das Gericht die Begründung im Beschluß des OVG Lüneburg vom 17. 10. 1997 (NJW 1997, 3456) unter Nrn. 1 a und 1 b zu eigen.

15.

Darüber hinaus spricht nach Auffassung des OVG Lüneburg vieles dafür, daß die Rechtschreibung als Teil der gelebten Sprache staatlicher Regelungsgewalt weithin entzogen sei und, unabhängig von der Frage der Regelungskompetenz, die vorliegende Reform als „wesentliche" Entscheidung jedenfalls einer gesetzlichen Grundlage bedürfe. Auch insoweit macht sich das Gericht die Gründe der genannten Entscheidung zu eigen (NJW 1997, 3456 [3459 bis 3461]). Schließlich haben selbst diejenigen Oberverwaltungsgerichte, die eine einstweilige Anordnung gegen die Rechtschreibreform abgelehnt haben, sofern sich dazu Ausführungen in den Beschlüssen finden, erhebliche Zweifel an der Einführung der (vorgezogenen) Rechtschreibreform geäußert. So hat das OVG Hamburg im Beschluß vom 16. 10.1997 (OVG BS III 71/97), mit dem es den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ablehnt, unter Bezugnahme auf zahlreiche Quellen, insbesondere auf das von Prof. Dr. Löwer am 2. 6. 1997 vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages erstattete Gutachten (Dt. BT, 13. Wahlperiode, Rechtsausschuß, Protokollnr. 86, S. 19 und 30), wonach die Sprache vom Staat nicht hoheitlich geordnet werden dürfe, so daß die erforderlichen Normierungen jeweils nur Revision, d.h. Durchsicht des Regelwerks angesichts der eingetretenen Verhältnisse, nicht aber Motor der Änderung sein dürfe, festgestellt, daß die anstehende Rechtschreibreform dann ohne Rechtsgrundlage sei, wenn sie die genannten Grenzziehungen überschreiten wolle. Eine solche Grenzüberschreitung könne auch durch ein Gesetz nicht geheilt werden. Der Senat stellt sodann fest, daß viel dafür spreche, daß der Staat mit der angestrebten Neuregelung der Rechtschreibung Veränderungen der im deutschen Sprachbereich allgemein geltenden Schreibweise anstrebe und dabei Motor für diese Veränderungen auch außerhalb des Schulbereichs sein wolle. Unter Bejahung der vorstehend aufgeführten Grundsätze kommt auch das OVG Münster in seinem Beschluß vom 11. 11. 1997 (NWVBl 1998, 102 m. Anm. Schmittmann) zu der Folgerung, daß viel dafür spreche, daß die Ast. des dortigen Verfahrens einen Anordnungsanspruch auf Unterlassung des Rechtschreibunterrichts in der gegenüber ihren Kindern derzeit praktizierten Form glaubhaft gemacht habe. Das Gericht hat den Antrag jedoch daran scheitern lassen, daß die Kinder der Ast. im Schuljahr 1997/98 die Klassen 1 b bzw. 3 einer Grundschule besuchen, sie bei der Unterrichtung auch mit der alten Schreibweise in Berührung kämen und sich im laufenden Schuljahr wegen der Altersstruktur der Kinder nur eine geringe Befassung mit den Neuregelungen ergeben könne.

16.

Bei der Beurteilung der Frage, wie weit eine (vorgezogene) Einführung der neuen Rechtschreibung rechtswidrig ist, nimmt die Kammer Bezug auf das Urteil des VG Berlin vom 14. 11. 1997 (NJW 1998, 1243 [unter Nr.24 in diesem Heft]. Diesem dürfte auch für andere Gerichtsentscheidungen eine besondere Bedeutung zukommen, da hier erstmals unter Verwertung des gesamten bis dahin erkennbaren Meinungsstandes in Rechtsprechung und Literatur über den Streitgegenstand in der Hauptsache entschieden worden ist.

17.

Hinsichtlich des Anordnungsanspruches ergibt sich nach alledem, daß – jedenfalls mit Geltung für das Eilverfahren – kaum ein Zweifel bestehen kann, daß die Einführung der (vorgezogenen) Rechtschreibreform rechts- bzw. verfassungswidrig ist und einen Eingriff in das Erziehungsrecht der Ast. darstellt.

18.

Diese Einschätzung des Gerichtes ist durch die Entwicklung der Reformdiskussion in den letzten Tagen noch bestätigt worden, da die Mannheimer Kommission für die deutsche Rechtschreibung nunmehr mit einem umfangreichen Katalog hervorgetreten ist, wonach bis auf weiteres in Streitfällen verschiedene Schreibweisen zugelassen sein sollen. Nach einer Meldung des Wiesbadener Kurier vom 9. 1. 1998 soll die SPD-Bundestagsabgeordnete Liesl Hartenstein geäußert haben, mit den neuen Vorschlägen der Rechtschreib-Kommission sei „das Chaos der Beliebigkeit programmiert". Wenn sich demgegenüber die saarländische GEW-Vorsitzende Marianne Demmer zur Freigabe von Zweifelsfällen befürwortend geäußert hat mit der Begründung: „In der täglichen Praxis hat ja jeder sowieso geschrieben, wie es ihm gerade einfiel" (Wiesbadener Kurier v. 30. 12. 1997), dann zeigt dies nur, daß an einer Reform festgehalten wird, deren Inhalt jedoch jetzt für niemanden mehr absehbar ist. Demzufolge hat das. VG Berlin (NJW 1998, 1243 [in diesem Heft]) auch ausgeführt:

„Aufgrund der anhaltenden Diskussion über einen Stopp der Reform oder eine Überarbeitung des neuen Regelwerks durch Bundestag und Landesparlamente, angesichts der in einigen Bundesländern angestrengten Verfahren über einen Volksentscheid zur Rechtschreibreform, wegen der in Konsequenz aus gerichtlichen Entscheidungen erfolgten Rücknahme der neuen Rechtschreibregeln im Bundesland Niedersachsen sowie schließlich nach der sich in den Medien ausdrückenden allgemein gegen die Reform bestehenden Kritik muß darüber hinaus davon ausgegangen werden, daß die neuen Schreibregeln in der Bevölkerung derzeit keine hinreichende Akzeptanz finden" (mit Hinweisen und Belegen).

„Ebensowenig ist gegenwärtig mit hinreichender Sicherheit zu erwarten, daß sich die neue Rechtschreibung zukünftig in der Allgemeinheit durchsetzen wird. Bei Würdigung der genannten Umstände lassen sich nämlich auch keine Anhaltspunkte für einen in der Allgemeinheit vorhandenen Konsens darüber feststellen, sich künftig an dem neuen Regelwerk zu orientieren."

19.

Weiter führt das Gericht aus:

„Diese Abkehr von der bisherigen Tradition und eine Instrumentalisierung der Schule und der Schüler zum Mittel der Sprachbeeinflussung stellt eine bildungs- und schulpolitische Grundentscheidung von allgemeiner Bedeutung dar, die – wenn überhaupt – nur durch eine Leitentscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, nicht aber durch die Schulverwaltung im Wege von Verwaltungsvorschriften getroffen werden kann (vgl. u. a. OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 – 2 S 610/97)."

20.

Dieser Argumentation schließt sich das erkennende Gericht an, so daß es auch deshalb für das Eilverfahren keinem Zweifel unterliegen kann, daß den Ast. ein Anordnungsanspruch zur Seite steht.

21.

Die Ast. haben im übrigen auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Ast. die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht haben, ist die Schwere des oben dargestellten Eingriffs in das Erziehungsrecht der Eltern sowie die hohe Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Eingriff auch letztendlich in dem Hauptsacheverfahren rechtskräftig festgestellt werden wird, von besonderer Bedeutung. Auch an dem nur vorläufigen Weiterführen einer aller Voraussicht nach rechtswidrigen und die Grundrechte der Ast. verletzenden Handhabung, die darüber hinaus nach den getroffenen Feststellungen auch nicht lediglich marginal sondern wesentlich ist, kann kaum ein rechtlich geschütztes Interesse bestehen. Einstweiliger Rechtsschutz ist dann zu gewähren, wenn den Ast. ohne den Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung eine erheblich über Randbereiche hinausgehende Verletzung in ihren Grundrechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. Zu Recht hat das OVG Bautzen (Beschl. v. 28. 10. 1997 – 2 S 610/97) einen Anordnungsgrund unter Hinweis darauf bejaht, daß aus vielfältigen Gründen mit einem kurzfristigen Abschluß eines Hauptsacheverfahrens nicht gerechnet werden könne. Das gilt um so mehr, als inzwischen feststeht, daß mit einer Entscheidung des BVerfG nicht unmittelbar gerechnet werden kann. Das BVerfG hat nämlich durch im Januar bekannt gewordene Beschlüsse vom 30. 12.1997 (NJW 1998, 1218 [unterNr. 3 in diesem Heft] und NJW 1998, 1217 [unter Nr. 2 in diesem Heft]) die vorliegenden Verfassungsbeschwerden im Eilverfahren nicht angenommen und den Erlaß von einstweiligen Anordnungen abgelehnt, ohne daß das Gericht in seinen Gründen Gelegenheit hatte, sich zu den entscheidungserheblichen materiellen Rechtsfragen zu äußern. Nichts anderes gilt für die Tatsache, daß der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages plant, sich im Februar erneut mit der Rechtschreibreform zu befassen. Nach seitheriger Erfahrung sind davon keine unmittelbaren zeitnahen Ergebnisse zu erwarten. Ebenso unklar ist ein konkreter Zeitpunkt, zu dem das BVerwG aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Zulassung der Sprungrevision gegen das Urteil des VG Berlin (NJW 1998,1243 [in diesem Heft]) entsprechende Maßstäbe wird setzen können.

22.

Im Ergebnis gilt, daß bei Grundrechtsverletzungen der in Rede stehenden Art die Bejahung des Anordnungsanspruchs für die Prüfung des Anordnungsgrundes im weiten Umfang vorgreiflch ist (vgl. BVerfG,NJW 1989,827 [828]; OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 – 2 5 610/97, S. 26 des Beschlußabdrucks).

23.

Der danach gegebene Anordnungsgrund ist auch nicht wegen Zeitablaufs weggefallen. Die Ast. haben sich nämlich offensichtlich in Kenntnis der unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen und nachdem durch den VGH Kassel durch Beschluß vom 5. 9. 1997 (NJW 1997, 2970) vorläufiger Rechtsschutz versagt worden war, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die gerade bekannt gewordene Entscheidung des VG Berlin mit Schriftsatz vom 16. 11. 1997 an den Schulleiter der Gesamtschule gewandt, nachdem ihnen aufgrund der bekannt gewordenen Fakten, welche der Ast. zu 1 in dem genannten Schreiben auch andeutet, erstmals ein Vorgehen gegen den von ihnen behaupteten Grundrechtseingriff notwendig und wieder aussichtsreich erschien. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, an einem Anordnungsgrund fehle es deswegen, weil der Antrag in der Auslegung, die er durch die Kammer erfahren hat, nur noch für die Zeit bis zum Schuljahreswechsel im Sommer 1998 formal Bedeutung haben kann. Wie bereits ausgeführt, ist diese Beschränkung auf die Regelung, wie sie sich aus dem Beschluß der Gremien der genannten Gesamtschule ergibt, deshalb erfolgt, weil anders eine weitere, nicht hinnehmbare Verzögerung bei der Entscheidung des Eilantrages eingetreten wäre. Andererseits ist aufgrund der Antragsschrift der Ast. klar erkennbar, daß sie insgesamt eine Regelung bis zur Klärung in der Hauptsache erstreben. In dieser Situation kann der erforderliche Anordnungsgrund nicht dadurch verneint werden, daß durch die isolierte Betrachtung des jetzt zu beurteilenden Zeitraumes die Bedeutung des Eingriffs in die Rechte der Ast. gemindert werden könnte. Auch in diesem Zusammenhang gilt, daß eine Grundrechtsbeeinträchtigung der vorstehend angenommenen Art generell nicht hingenommen werden muß.

24.

Soweit durch andere Gerichte das Vorliegen eines Anordnungsgrundes in vergleichbaren Fällen verneint wurde, ist das durchgängig damit begründet worden, daß durch das Nebeneinander der Unterrichtung in alter und neuer Schreibweise sichergestellt sei, daß in das Persönlichkeitsrecht der Schüler und damit in das Erziehungsrecht der Eltern deshalb nicht relevant eingegriffen werde, weil die Schüler sowohl für den Fall der Umsetzung der Rechtschreibreform als auch bei ihrem Scheitern gerüstet seien, so daß ihnen insgesamt kein Nachteil entstehen könne. Dem folgt die Kammer zumindest für Schüler ab der Mittelstufe – also auch für die Kinder der Ast. – nicht.

25.

Das Nebeneinander bei der Vermittlung der Rechtschreibung und bei der Literaturarbeit allgemein führt in jedem Fall für die betroffenen Schüler zu erheblichen Nachteilen, für deren Hinnahme angesichts der anzunehmenden Rechts- und Verfassungswidrigkeit der Einführung der Rechtschreibreform keine sachgerechten Gründe ersichtlich sind. Das ist offenbar auch der Antragsgegnerseite bewußt, da nach dem Erlaß des Kultusministeriums vom 19. 11. 1996 (Anl. 2 Abs. 1, 2) vergleichende Gegenüberstellungen von alter und neuer Rechtschreibung nicht zum Übungsprinzip erhoben werden sollen, um einer Ranschburg‘schen Analogiehemmung vorzubeugen. Dieser Forderung kann nämlich, was keiner Ausführungen bedarf, im schulischen Alltag gar nicht entsprochen werden, da aufgrund der gegebenen Verhältnisse nach wie vor verschiedene Schreibweisen Gegenstand des Unterrichts sind. Daran ändert auch nichts, daß offenbar in der genannten Erlaßregelung diese negativen Folgen nur dann gesehen werden, wenn die Gegenüberstellung von alter und neuer Rechtschreibung zum Übungsprinzip erhoben wird. Tatsächlich führt das Nebeneinander von alter und neuer Rechtschreibung – bezüglich der reformierten Rechtschreibung darüber hinaus noch in einer Vielzahl auch innerhalb des .Regelwerks umstrittener Fälle – dazu, daß die solchermaßen unterrichteten Kinder erhebliche und unter Umständen lang anhaltende Nachteile beim Erlernen der richtigen Sprache (Schreibweise) hinnehmen müssen. Je länger dieser oben beschriebene mißliche Zustand hingenommen wird, desto schwerwiegender werden aller Wahrscheinlichkeit nach die zu befürchtenden Nachteile sein. Dabei muß bei der im Rahmen des Anordnungsgrundes jedenfalls im Prinzip zugelassenen Abwägung der unterschiedlichen Interessen von Ast. und Ag. Und – worauf der VGH Kassel in seinem genannten Beschluß zu Recht hingewiesen hat – auch mit den Interessen der übrigen Schüler berücksichtigt werden, daß bis heute ein endgültiges Reformwerk noch nicht einmal vorliegt, so daß bei verdachtweisem Fortführen der Unterrichtung nach den Regeln der Rechtschreibreform eine weitere Verwirrung der Schüler insgesamt, egal ob letztlich eine Reform ins Werk gesetzt wird oder nicht, nicht ausgeschlossen werden kann.

26.

Der Antrag der Ast. scheitert auch nicht daran, daß mit der Gewährung der begehrten einstweiligen Anordnung die Hauptsache vorweggenommen würde, Auch insoweit wird auf den vorangegangenen Beschluß der Kammer vom 28. 7. 1997 (NJW 1997, 2399) ausdrücklich Bezug genommen. Die damals gefundene Begründung stellt keinen Widerspruch zur vorstehend erfolgten Auslegung des Antragstellerbegehrens dar. Wie bereits ausgeführt, begehren die Ast. die Unterrichtung ihrer Kinder in der seitherigen Schreibweise. Dies ist allenfalls klarstellend ausgeführt worden, ändert jedoch nichts daran, daß sie den früheren Zustand – also vor Einführung der Rechtschreibreform – erhalten haben wollen, so daß es bezüglich der Frage der Vorwegnahme der Hauptsache den Ast. darum geht, daß eine Veränderung des Unterrichtsinhaltes in deutscher Rechtschreibung unterlassen wird.

27.

Abgesehen davon kann der Antrag auch nicht daran scheitern, daß mit der begehrten Anordnung eine temporäre Vorwegnahme der Hauptsache erfolgt, weil anders effektiver Rechtsschutz gar nicht zu erlangen wäre. Zu Recht wird in der Kommentarliteratur darauf verwiesen, daß die nach herrschender Meinung als „Ausnahme" vom Vorwegnahmeverbot anerkannten Fallgestaltungen bei Licht betrachtet keine „Ausnahme" von einem Verbot sind; sie bestätigen vielmehr gerade das Grundanliegen des § 123 VwGO, die Hauptsache nicht zu Lasten des Antragstellers vorwegzunehmen. „Die gerichtliche Entscheidung bewegt sich also zwischen den beiden Polen der Vorwegnahme der Hauptsache zu Lasten der Behörde und der Vorwegnahme der Hauptsache zu Lasten des Antragstellers. Je stärker der Anordnungsgrund ist, desto eher kommt eine Vorwegnahme zu Lasten der Behörde in Betracht" (Eyermann, VwGO, 10. Aufl., § 123 Rdnr. 63 m. w. Nachw.). Da, wie ausführlich dargelegt, kaum ein Zweifel daran bestehen kann, daß der Verwaltung keine entsprechende Regelungsbefugnis zur Änderung der Sprache, so wie sie hier geltend gemacht wird, zusteht, fehlt es an rechtlich geschützten Interessen zur Durchführung der Reform, bevor abschließend geklärt ist, mit welchem Inhalt, durch wen und auf welchem Wege eine Reform ins Werk gesetzt werden kann. Daraus ergibt sich nach dem Vorgesagten unmittelbar daß eine Abwägung bezüglich der Vorwegnahme der Hauptsache zu Lasten der Ast. nicht erfolgen darf, weil auf der anderen Seite keine Interessen dafür streiten, daß eine Vorwegnahme der Hauptsache zugunsten des Ag. (bzw. am Verfahren nicht beteiligter Eltern und Schüler, welche eine Unterrichtung in der neuen Weise wünschen) erfolgt. Jedenfalls gilt das für die vorläufige Regelung im Rahmen dieses Eilverfahrens. Jede andere Sicht der Dinge würde es ermöglichen, daß trotz erkannter Rechts- und Verfassungswidrigkeit durch längerfristige Einführung der Rechtschreibreform und durch immer weitere Schaffung von neuen Unterrichtsmaterialien und sonstigen Druckstücken eine Verfestigung des jedenfalls aus rechtlichen Gründen zunächst nicht hinnehmbaren Zustandes erfolgt und schließlich aufgrund der „normativen Kraft des Faktischen" eine Umkehrung einer rechtlich möglicherweise nicht hinnehmbaren Situation deswegen nicht mehr möglich ist. Das OVG Bautzen hat in seinem Beschluß vom 28. 10. 1997 (Beschl. v. 28. 10. 1997 — 2 S 610/97) ausgeführt (S. 16 des Abdrucks):

„Allerdings stellt die von den Ast. begehrte einstweilige Anordnung – im Gegensatz zur Auffassung des VG – eine, wenn auch nur teilweise Vorwegnahme der Hauptsache dar. Unter das im Verfahren nach § 123 1 VwGO grundsätzlich geltende Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache fallen die Anordnungen, die das Ergebnis des Klageverfahrens ganz oder teilweise in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vorwegnehmen. In diesen Fällen wird der Ast. im Anordnungsverfahren mehr oder weniger so gestellt, als ob er im Hauptsacheverfahren obsiegt hätte. Darauf läuft der vorliegende Antrag hinaus. Denn wenn der Ag. durch Erlaß einer einstweiligen Anordnung verpflichtet wird, den Ast. zu 1 bis zur Rechtskraft seiner Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht nach den neuen, sondern nach den aufgrund des Beschlusses der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre 1955 fortgeltenden Rechtschreibregeln zu unterrichten (vgl. BVerfG, NJW 1996, 2221 [2222]), wird für diesen Zeitraum das mit der Unterlassungsklage erstrebte Ergebnis vorweggenommen, ohne daß dies bei einem negativen Ausgang des Klageverfahrens wieder rückgängig gemacht werden könnte (ebenso: VG Freiburg, Beschl. v. 29. 8. 1997 – 2 K 1753/97; a.A. OVG Sch1ewig, NJW 1997, 2636).

28.

Unter solchen Umständen ist vorläufiger Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden (vgl. 8 VerfG, NJW 1989, 827) und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwGE 63, 110 [111 f.]). Dies gilt auch für den grundrechtsrelevanten Bereich, jedoch mit der Maßgabe, daß bei Gefahr einer erheblichen, über Randbereiche hinausgehenden Verletzung von Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, erforderlichenfalls eine eingehende tatsächliche und rechtliche Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs stattzufinden hat (vgl. BVerwG, NJW 1989, 827).

29.

Gemessen an diesen Grundsätzen erweist sich der Antrag als begründet, weil derzeit viel für ein Obsiegen der Ast. in der Hauptsache spricht und es ihnen nicht zugemutet werden kann, die ihnen drohende Grundrechtsverletzung bis zum Abschluß des Hauptsacheverfahrens hinzunehmen...."

30.

Zu dem gleichen Ergebnis kommt das OVG Schleswig in seinem Beschluß vom 13. 8. 1997, das allerdings von einem Antrag auf ein positives Tun ausgeht. Danach handelt es sich nicht um eine endgültige Vorwegnahme der Hauptsache, sondern es werde vielmehr nur die vorläufige Beibehaltung der Unterrichtspraxis bis zum Ende des laufenden Schuljahres erstrebt (OVG Schleswig, NJW 1997, 2536).

31.

Nach alledem ergibt sich – gleich welchem Lösungsansatz man folgt – , daß den Ast. nicht zugemutet werden kann, die ihnen drohende Rechtsgutverletzung bis zum Abschluß des Hauptsacheverfahrens hinzunehmen.