(weitere Fundstellen: NJW 1997, 2538 f.)
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Tatbestand |
1. |
Die Ast., die zu den Initiatoren des Volksbegehrens „WIR gegen die Rechtschreibreform" in Niedersachsen gehört, wendet sich dagegen, daß ihre minderjährige Tochter die neuen Rechtschreibregeln erlernen und im Unterricht verwenden muß. Die Tochter der allein sorgeberechtigten Ast. besucht zur Zeit die Grundschule und wird dort nach den Regeln der reformierten Rechtschreibung unterrichtet. Mit Erlaß vom 25. 8. 1996 setzte der Ag. den Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 1. 12. 1995 zur Einführung der neuen Rechtschreibregeln für die niedersächsischen Schulen in Kraft und traf weitere (verbindliche) Übergangsregelungen. |
2. |
Die Ast. hat am 18. 7. 1997 beim VG Hannover Unterlassungsklage erhoben 16 A 4317/97) und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Das VG beschloß, dem Ag. im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig zu untersagen, die Tochter der Ast. nach Maßgabe seines Erlasses vom 25. 8. 1996 „Amtliche Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" unterrichten zu lassen. |
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Aus den Gründen: |
3. |
Der Antrag ist zulässig (1), insbesondere ist der Gerichtsstand gegeben (1.1), das Niedersächsische Kultusministerium richtiger Vertreter des Ag. (1.2) und vorläufiger Rechtsschutz nötig (1.3). Der Antrag hat in der Sache Erfolg; denn die schulische Einführung der Rechtschreibreform verstößt gegen Grundrechte der Ast. (1): Im Zeichen der Wesentlichkeitstheorie bedarf die Neuordnung einer gesetzlichen Grundlage (2.1); dies folgt aus der elementaren Bedeutung der Sprache für das gesamte deutsche Volk (2.2). Ein solches Gesetz fehlt (3). Es gibt keine Gründe, über den Mangel hinwegzusehen (4). Ein inhaltliches Urteil über die Reform ist mit der Entscheidung nicht verbunden (5). Eine Vorlage an das BVerfG wird im Klageverfahren zu prüfen sein (6). Die Verfahrenskosten sind dem Ag. aufzuerlegen (7). |
4. |
Im einzelnen: 1.1. Das beschließende Gericht ist gem. § 52 Nr. 5 VwGO örtlich zuständig, weil in seinem Bezirk der Ag. seinen Sitz hat. Zwar will die Ast. die Unterweisung ihrer Tochter im Unterricht über die neue Rechtschreibung in der Grundschule in X. unterbunden sehen. Dafür könnte sie – wie der Ag. zutreffend bemerkt– vor dem örtlich zuständigen VG Oldenburg die Schule in Anspruch nehmen. Der Ast. ist es aber unbenommen, das beschließende Gericht gegen den Ag. anzurufen, der mit seinem streitbefangenen Erlaß vom 25. 8. 1996 (Schulverwaltungsbl. für Niedersachsen [SVBl] S. 373) den Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 1. 12. 1995 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung für die niedersächsischen Schulen in Kraft gesetzt hat. Der Ag. kann über die Durchführung des schulischen Rechtschreibunterrichts befinden, sei es landesweit, sei es durch Einzelweisung gegenüber einer der Schulen seines Ressorts. Auch das VG Wiesbaden hat in seinem Beschluß vom 28. 7. 1997 (NJW 1997, 2399) seine Zuständigkeit für ein vergleichbares Verfahren gegen das Land Hessen bejaht, obwohl der betroffene Schüler eine Schule im Sprengel des VG Gießen besucht. |
5. |
Einer Vorab-Entscheidung über den Gerichtsstand gem. § 83 S. 1 VwGO i. V. mit § 17 a III 2 GVG bedarf es nicht, weil der Ag. in Wahrheit das Land durch die Schule statt durch seine Behörde vertreten sehen möchte und nur insofern – folgerichtig – den Gerichtsstand bemängelt. Dieser ist also nicht der eigentliche Gegenstand der Rüge. |
6. |
1.2. Die Vertretung des in Anspruch genommenen Landes obliegt gemäß Abschn. V Nr. 2 Buchst. c des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Minister vom 9. 1. 1995 (NdsMBl S. 117) dem Niedersächsischen Kultusministerium (MK). Es ist nämlich im Sinne der angezogenen Vorschrift „für die streitige Angelegenheit zuständig". Das ergibt sich aus seiner Eigenschaft als oberste Schulbehörde (§ 119 Nr. 1 NdsSchulG i. d. F. v. 27. 9. 1993 [NdsGVBI S. 383], zuletzt geändert durch Art. 6 des Ges. v. 13. 12. 1996 [NdsGVBl S.494]). |
7. |
1.3. Der Antrag ist nach § 123 I 2 VwGO statthaft. Vorläufiger Rechtsschutz erweist sich als nötig. Unbeschadet der Übergangsregelung in Nr. 4 des angegriffenen Erlasses des Ag. tritt die Neuordnung der Orthographie spätestens mit dem 1. 8. 1998 in Kraft. Schon seit dem 1. 8. 1996 wird in den Schulen die neue Schreibung vermittelt, und bis zum Inkrafttreten der Neuregelung können sie die Einführung der neuen Regeln in allen Fächern beschließen (Nr. 2 bzw. Nr. 4 der Übergangsregelungen). Die Rechte der Ast. wären daher ernsthaft gefährdet, würde sie eine gerichtliche Entscheidung erst im Klageverfahren erhalten. Dies könnte nämlich bedeuten, daß sie erst nach Jahren den Stopp der Rechtschreibreform erwirken würde. Bis dahin hätte ihre Tochter das neue Regelwerk erlernt und verinnerlicht, und ein Prozeßerfolg käme zu spät. Zudem müßte die Ast. befürchten, daß die Entscheidung für die Neuregelung faktisch unumkehrbar würde, je länger sich das Verfahren hinzöge, weil die Entscheidungsinstanzen, schon um mehrfachen Wechsel innerhalb weniger Jahre zu vermeiden, versucht sein möchten, den neuen Zustand — ungeachtet rechtlicher Bedenken — nicht mehr anzutasten. Die Ast. wäre, außer in ihrem Erziehungsrecht, auch durch die Faktizität des Vordringens der neuen Schreibung beschwert, die sie bei Beharren auf den alten Regeln gesellschaftlich isolieren könnte. Demgegenüber kann den Schulen der Aufschub der Neuschreibung zugemutet werden. Sollte die beanstandete Maßnahme letztlich gerichtliche Billigung finden, so könnte der Unterricht mit dem neuen Regelwerk und den bereits produzierten Hilfsmitteln jederzeit neu aufgenommen werden. Würde aber die Maßnahme mißbilligt, so ist ohnehin an Fortführung nicht zu denken, mögen auch bereits erhebliche Investitionen im Schulbereich getroffen worden sein. |
8. |
2. Der Antrag muß Erfolg haben, weil die Ast. aller Voraussicht nach im Klageverfahren ihren Unterlassungsanspruch durchsetzen wird. Angesichts der schwerwiegenden Folgen einer Suspendierung der schulischen Einführung der Rechtschreibreform hat die Kammer diese Prognoseentscheidung besonders sorgfältig erwogen. Gleichwohl hat sie keine Zweifel an der Eindeutigkeit der Rechtslage. Die Ast. wird durch den angegriffenen Erlaß des Ag. sowohl in ihrem durch Art. 6 II 1 GG gewährleisteten Erziehungsrecht als auch in ihrem durch Art. 2 I GG (beide Vorschriften durch deren Art. 3 II auch in die Niedersächsische Verfassung vom 19. 5. 1993 inkorporiert) geschützten Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit verletzt, weil eine Maßnahme dieser Tragweite einer Regelung durch den Gesetzgeber bedarf (so schon Kopke, JZ 1995, 874 [876 ff.] und NJW 1996, 1081 f.; Wassermann, Recht und Politik [RuP] 1975, 5 [6] VC Wiesbaden, NJW 1997, 2399). Als Mutter wird die Ast. schon insoweit betroffen, als die Schule ihre Tochter in einem Bereich der natürlich erworbenen Sprache anders unterweisen wird, als die Ast. das für richtig hält und ihrem Kind vermittelt hat. Als Mensch deutscher Zunge erlebt sie durch die Einführung neuer Orthographie in Schule und Behörden eine Isolierung, wenn sie die alte Schreibung beibehalten will; mittelbar wird sie zur Beachtung der neuen Regeln gezwungen. Die Ast. kann die Unterlassung des Eingriffs in ihre Rechte beanspruchen. Im einzelnen: |
9. |
2.1. Seit der Entscheidung des BVerfG über den Sexualkundeunterricht (BVerfGE 47,46 = NJW 1978, 807) hat sich in Rechtsprechung (u. a. BVerwGE 64,308 =NJW 1982, 1410 = NVwZ 1982, 378 L) und Lehre (vgl. etwa Schnapp, in: v. Münch, GG I, 3. Aufl. [1985], Art. 20 Rdnr. 46; Korte/Rebe, Verf. und Verwaltung des Landes Nds., 2. Aufl. [1986], s. 232) die Ansicht durchgesetzt, daß alle wesentlichen Entscheidungen in einem Rechtsgebiet vom parlamentarischen Gesetzgeber zu treffen seien. Das soll nach herrschender Auffassung (u. a. Schnapp, Rdnr. 47; Glotz/Faber, in: HdbVerfR, 2. Aufl. [1994], S. 1363 [1388 ff.]; Korte/Rebe, S. 300; Scholz, SchulR zwischen Parlament und Verwaltung, Gutachten für den 51. DJT, in: Schule im Rechtsstaat II, 1980, S. 77 und später) auch im Schulrechtsverhältnis gelten, das vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes als eines der „Besonderen Gewaltverhältnisse" der Ordnung durch Verwaltungsvorschriften unterlag. Insbesondere die Bildungsziele sollen (so schon der Entwurf des [51.] DJT für ein Landesschulgesetz, in Schule im Rechtsstaat I, 1980, S. 130, 140 f.) gesetzlicher Festlegung bedürfen. |
10. |
2.2. Die verbindliche Einführung der neuen Rechtschreibung im Schulunterricht stellt eine „wesentliche Entscheidung" im vorstehend erörterten Sinne dar. Das beruht auf folgenden Erwägungen: |
11. |
Der Mensch findet sich vor als ein sprechendes Wesen (Arens, Sprachwissenschaft I, o. J., S. 3). Die Sprache ist als Mittel zur Erfassung der Welt und wichtigstes Kommunikationssystem für den Menschen von elementarer Bedeutung. Der Mensch ist nur durch die Sprache Mensch (Wilhelm v. Humboldt), die Sprache das Menschlichste am Menschen (Theodor Fontane, beide Zitate nach Wassermann, RuP 1997, 5). Ernst Bloch meint: „Ja der Mensch selber, in seiner heute vorhandenen Beschaffenheit, wäre ohne den Anteil der Sprache nicht entstanden; er wäre so wenig vorhanden wie die Pointiertheit seiner Merkwelt." (Zerstörte Sprache — zerstörte Kultur, in: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, Gesamtausgabe XI, 1970, S. 281). Der Mensch entwickelt sich zu seinem eigenen Wesen erst durch die Sprache (O. F. Bollnow, Sprache und Erziehung, 1966, 5. 183). Die Sprache ist die „wahre Heimat" (Wilhelm v. Humboldt, zit. nach C. A. Fischer [Hrsg.]: Lebensweisheiten von A bis Z, 1992, S. 123), Der tiefe Gefühlswert der Muttersprache spricht aus Max v. Schenkensdorfs Gedicht „Muttersprache, Mutterlaut, wie so wonnesam, so traut!" Die Sprache hat überdies eine ein Volk bindende, einende Kraft. Elly Heuß-Knapp hat einmal gesagt (Ausblick vom Münsterturm. Erinnerungen, 6. Aufl. [1958], S. 140): „… ich glaube, daß ein Volk zur Einheit wird durch die gemeinsame Geschichte und die seelenbildende Gewalt der Sprache". |
12. |
Dies ist auch die Auffassung der Sprachwissenschaft. So formuliert Adolf Bach (Geschichte der dt. Sprache, 9. Aufl. [o.J.], S. 467): „Muttersprachen sind die deutlichsten und umfassendsten Wirkungsformen des Geistigen, die die Menschheit kennt. Das ist der Sinn der Gleichung Volk = Sprachvolk. Er ist, bereits dem unmittelbaren Gefühl so gegenwärtig, daß es die ungeheure Bedeutung der Sprachgemeinschaft seit je anerkannt hat‘, auch‚ bevor die Sprachphilosophie Wilhelm v. Humboldts die ganze Tiefe dieses Gemeinschaftsgedankens auszudeuten gestattete’…". Jacob Grimm meinte, die Sprache scheide die Völker so stark, daß „anders Redende nicht erobert werden sollen" (An Gervinus [1848], in: Ruth Reiher [Hrsg.]: Jacob und Wilhelm Grimm. Ein Lesebuch für unsere Zeit, 1993, S.143 [145]). |
13. |
Die in Literatur und Linguistik erhobenen Befunde haben auch rechtliche Bedeutung. Das hat vor allem Kirchhof herausgearbeitet (Deutsche Sprache, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], HdbStR I, 1987, S. 745). Er hat aufgewiesen, daß Staatsvolk und Nation entstehen und bestehen als Sprachgemeinschaft (S. 746), und er ordnet die „Sprechfreiheit" dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Entfaltungsfreiheit des Menschen zu (S. 750). Die in Art. 6 GG garantierte familiäre Prägung des Kindes stütze sich wesentlich auf die Gemeinsamkeit der deutschen Sprache (S. 760). Seine Betrachtungen münden in die Feststellung (S. 763): „Die Sprache ist Entfaltungsbedingung für individuelle Freiheit." Jacob Grimm, Jurist und Sprachwissenschaftler, äußerte sich in gleicher Richtung: „Gedanke wie Sprache sind unser Eigentum, auf beiden beruht unserer Natur sich aufwindende Freiheit..." (Über den Ursprung der Sprache, in: Aus den Kleineren Schriften von Jacob Grimm, 1911, S. 269). |
14. |
Die Schreibung teilt Eigenart und Rechtsschicksal der Sprache. Beide gehören nach herkömmlicher pädagogischer Auffassung zusammen. Ein um die Jahrhundertwende verbreitetes pädagogisches Werk sagte: „Die Art des Sprechens und des Schreibens eines Menschen ist der Gradmesser, nach dem im gewöhnlichen Leben seine Bildung beurteilt wird. Mit Sprechen und Schreiben tritt der Mensch am meisten an die Öffentlichkeit; sie sind am meisten der Beurteilung ausgesetzt" (Fr. Nadler, Ratgeber für Volksschullehrer, 6. Aufl. (1900], S. 475). Vgl. auch die Ausführungen bei Hermann/Götze, Die neue dt. Rechtschreibung, 1996, S. 21: „Die communis opinio ging im Einzelfall so weit, Rechtschreibleistung und Intelligenz gleichzusetzen; im Umkehrschluß hieß das, daß jener dumm sei, der Kommaregeln oder Groß- und Kleinschreibung nicht beherrsche."). Eine Reform der Rechtschreibung ist „Sprachbeeinflussung" (Kirchhof, S. 763), gegen die sich der Bürger kraft grundrechtlicher Positionen wehren kann (Kirchhof, S. 764). |
15. |
Um eine solche Sprachbeeinflussung handelt es sich in der Tat, wenn man die in Rede stehende Neuregelung betrachtet. Ihr erklärtes Ziel ist eine Vereinfachung des als zu schwierig geltenden Regelwerks (vgl. Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis, Amtliche Regelung, o. J., S. 7). Sie verfolgt eine Neuformulierung der Regeln nach einem einheitlichen Konzept. Das bedeutet, ungeachtet etwaiger Vereinfachung, umfangreiche Änderungen im Bereich von Orthographie, Interpunktion und Trennung. Sie ergeben sich nicht aus einer Festschreibung von Tatbeständen sprachlicher Fortentwicklung, sondern sind im wesentlichen „am Reißbrett der Linguisten" geschaffen worden. Das wird besonders bei Änderungen deutlich, die in Abkehr von einer gefestigten Entwicklung der Orthographie die Schreibung wieder vom Wortstamm ableiten wollen, etwa bei überschwänglich, Quäntchen und Stängel (vgl. Deutsche Rechtschreibung, § 13). Zu Recht gibt das VG Wiesbaden (NJW 1997, 2399) zu bedenken, daß die Entwicklung einer lebenden Sprache nur vom Volk ausgehen könne. Es spricht vieles dafür, daß gerade ein Abgehen vom hergebrachten Reden und Schreiben durch das Parlament zu verantworten ist und nicht durch die Verwaltung. |
16. |
Der Umfang der Änderungen wird deutlich, wenn man die Zahl der zweifelhaften Schreibungen betrachtet, die verschiedentlich mit 8000 Fällen angegeben worden ist (statt aller: Hanauer Anzeiger v. 8. 7. 1997). Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die einen Aufschub des Reformwerks verlangt, veranschlagt den Zeitbedarf für eine Überarbeitung mit mindestens einem Jahr (Hannauer Anzeiger v. 8. 7. 1997). |
17. |
Die Breitenwirkung der Änderung schon im Schulbetrieb läßt sich daran ermessen, daß die Neuregelung nicht nur im Deutschunterricht, sondern grundsätzlich in allen Fächern Geltung beansprucht (vgl. die Übergangsregelungen Nr. 1 und 4 im Erlaß des Ag. v. 25. 8. 1996 [SVBl S. 373]). |
18. |
Die wesentlichkeitsrelevante Bedeutung einer Änderung der Rechtschreibregeln erhellt überdies daraus, daß in ihrer Folge alles Schreiben in Mitleidenschaft gezogen wird, sei es Literatur aller Art, sei es EDV-Software. Mag eine Anordnung der Verwaltung sich auch auf Kultus- und Innenressort beschränken, so hat sie doch über kurz oder lang Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft (vgl. auch BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats], NJW 1996, 2221 [2222]). Das Bestehen von „Inseln" der „Altschreibung" ist praktisch nicht möglich, weil jegliches Schreiben an dem neuen Regelwerk gemessen werden wird. Dies verkennt der Ag., wenn er Auswirkungen der Reform auf die Allgemeinheit „nicht ausschließen", aber nicht als „zwingende Folge" ansehen will. Ebenso beruhen die Beschlüsse des VG Weimar vom 24. 7. 1997 (NJW 1997, 2403) und des VG Mainz vom 4. 8. 1997 auf einer bedenklichen Isolierung der Orthographiereform als schulisches Phänomen. Dem ist entgegenzuhalten: Was heute in der Schule gelehrt wird, wird morgen als richtig gelten und jegliche abweichende Schreibweise als altmodisch und falsch verdrängen. |
19. |
Auch die durch eine Reform verursachten finanziellen Auswirkungen sind ganz beträchtlich. Ihr Ausmaß macht ebenfalls deutlich, daß die Neuordnung keine marginale Korrektur des technischen Regelwerks darstellt. |
20. |
Die Wesentlichkeit der Neuordnung kann nicht – wie der Ag. das versucht – mit dem Hinweis darauf abgetan werden, die Reform führe zu geänderter Schreibweise nur bei maximal 2% der Wörter. Eine solche Betrachtungsweise wird dem Sachverhalt nicht gerecht. Schon der Umfang neuer Schreibung von Wörtern ist nicht so gering, daß man ihn vernachlässigen könnte. Es treten aber weitere Neuregelungen hinzu, so zur Zeichensetzung und zur Worttrennung am Zeilenende. Nimmt man all das zusammen, so ergibt sich das Bild eines deutlichen Eingriffs in den überkommenen Regelkanon (anders VG Weimar, NJW 1997, 2403). |
21. |
3. Ein nach dem Vorstehenden die Einführung der Rechtschreibreform legitimierendes Gesetz ist nicht vorhanden. Nach Ansicht der Kultusminister der deutschen Länder bedurfte es hierzu keines besonderes Gesetzes. Auch das Niedersächsische Schulgesetz bietet – für den Schulbereich – keine ausreichende Grundlage. Insbesondere § 2 – Bildungsauftrag der Schule – hält sich insoweit im Allgemeinen. Der Umgang mit der deutschen Sprache wird, neben anderem, berührt in dem folgendermaßen beschriebenen Bildungsziel: |
22. |
("Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden,)… ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsmöglichkeiten sowie ihre Ausdrucksmöglichkeiten unter Einschluß der bedeutsamen jeweiligen regionalen Ausformung des Niederdeutschen oder des Friesischen zu entfalten,..." |
23. |
(vgl. Woltering/Bräth, NdsSchulG, 3. AufL [1994], § 2 Rdnr. 19). Es bedarf keiner vertieften Erörterung, daß diese Norm nicht für Änderungen der Rechtschreibung, gar mit Auswirkungen über die Mauern der Schule hinaus in die Gesellschaft, als Rechtfertigung bemüht werden kann. § 122 ermächtigt den Ag. zum Erlaß von Rahmenrichtlinien. Diese Ermächtigung, deren Reichweite ohnehin an der Wesentlichkeitstheorie zu messen ist, umschließt jedenfalls nicht die streitbefangene Rechtschreibreform. |
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4. An ihrer Entscheidung, die Einführung der neuen Rechtschreibung in den niedersächsischen Schulen vorläufig zu untersagen, sieht sich die Kammer nicht dadurch gehindert, daß – wie aus Presseberichten hervorgeht – insbesondere Schulbuchverlage bereits ganz beträchtliche Investitionen getätigt haben. Die Kompetenzverfehlung darf nicht deshalb gebilligt werden, weil Dritte im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der Reform finanzielle Aufwendungen erbracht haben. |
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Auch der in der öffentlichen Diskussion erhobene Vorwurf, die Reformgegner, vor allem aus den Kreisen der Sprachwissenschaftler hätten sich zu Worte melden sollen, ehe die Reform international abgesprochen wurde, ist für die Entscheidung des Gerichts unerheblich. Sicher wäre es wünschenswert gewesen, allen Sachverstand rechtzeitig in die Erörterung des Vorhabens einzubringen. Auch wenn dies nichtgelungen ist – und die Frage, wer die Schuld daran trägt, ist ohnehin offen –‚ so hindert dies keinen Bürger, sein Recht gegenüber der auch ihn treffenden Anordnung zu suchen. |
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5. Im Hinblick auf Fehleinschätzungen, wie sie in der öffentlichen Erörterung der Entscheidung des VG Wiesbaden zutage traten, meint die Kammer, auf folgendes hinweisen zu sollen: Wenn die Vollziehung der Rechtschreibreform im Schulbereich wegen mangelnder Gesetzesgrundlage aufgeschoben wird, so muß das Gericht zu den Inhalten der Neuordnung nicht Stellung nehmen, insoweit sind die Fachleute zu neuer Erörterung berufen. |
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6. Der Anregung der Bet., gem. Art. 100 I GG die Entscheidung des BVerfG darüber einzuholen, ob § 2 NdsSchulG eine taugliche Rechtsgrundlage für die Einführung der Rechtschreibreform in den niedersächsischen Schulen darstellt, wird die Kammer im Klageverfahren nachgehen. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes verbietet sich schon im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit eine Vorlage an das BVerfG (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 22. 12. 1986 — 10 D 159/86; Kopp, VwGO, 10. Aufl. [1994], § 123 Rdnr. 19; Pestalozza, NJW 1979, 1341; offen gelassen von OVG Lüneburg, Beschl. v. 25.4.1986 – 7 B 60/85). |
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7. Dem Ag. sind gem. § 154 I VwGO die Verfahrenskosten aufzuerlegen, weil er unterlegen ist. |