Verwaltungsgericht Hannover
Urteil vom 2.3.1998
- 6 A 4317/97
-

 (weitere Fundstellen: NJW 1998, 1250 f.)

 

 

Tatbestand

1.

Die Kl. gehört zu den Initiatoren des zugelassenen Volksbegehrens „Wir gegen die Rechtschreibreform" in Niedersachsen. Sie wendet sich gegen die Unterrichtung ihrer Tochter nach den Regeln der reformierten Rechtschreibung. Diese wurden durch Erlaß des bekl. Kultusministeriums vom 25. 8. 1996 mit Wirkung ab 1. 8. 1998 in Kraft gesetzt; schon vorher dürfen die Schulen nach dem neuen Regelwerk unterrichten.

2.

Der Eilantrag der Kl. hatte Erfolg (Beschl. v. 7. 8. 1997, NJW 1997, 2538), ebenso ihre Unterlassungsklage.

 

Aus den Gründen:

3.

Die Kl. kann von dem Bekl. verlangen, daß er die Unterrichtung ihrer Tochter nach Maßgabe seines Erlasses vom 25. 8. 1996 (SVBl S. 373) unterläßt; denn die sogenannte Rechtschreibreform ist in einem mangelhaften Verfahren zustandegekommen (1) und enträt im übrigen der notwendigen gesetzlichen Grundlage (2). Dies führt zur Stattgabe und zu den Nebenentscheidungen (3).

4.

1. Der streitbefangene Erlaß des Bekl., der die Neuregelung der deutschen Orthographie zum Gegenstand der schulischen Unterweisung ab 1. 8. 1998 macht, ist rechtswidrig, weil die Neuregelung in einem mangelhaften Verfahren zustandegekommen ist. Eigenart und Bedeutung der Sprache (1.1) sind rechtserheblich (1.2). Sie begründen bestimmte Anforderungen an Organisation und Verfahren (1.3). Das hat der Bekl. verkannt (1.4).

5.

1.1 Die Sprache ist vorstaatlich und für die Identität des Menschen von konstitutiver Bedeutung.

6.

1.1.1 Unsere Sprache ist „vorstaatlich" (Löwer, These I 1 zur Rechtschreibreform, RdJB 1997, 226; nach Kissel, NJW 1997, 1097 [1100], „vorgesetzlich"). Der Mensch findet sich vor als ein sprechendes Wesen; keine Erinnerung reicht zurück in eine Zeit, da er keine Sprache gehabt hätte (Arens, Sprachwissenschaft I, 2. Aufl. [1974], S. 3). Sprache bestand, ehe sich eine staatliche Ordnung überhaupt etabliert hatte. Der Staat findet sie als Ergebnis einer Entwicklung vor, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte vollzogen hat. Er hat die Sprache nicht geschaffen, und sein Wille ist nicht ihr Geltungsgrund.

7.

„Sprache" im hier gebrauchten Begriff schließt die Schreibung ein; denn sie ist Teil und Ausdruck der Sprache. Freilich ist sie jünger als diese. Die Sprachwissenschaft lehrt, was unmittelbar einsichtig ist, daß die frühesten uns bekannten Aufzeichnungen lange nach Ausbildung der frühesten Formen von Sprache entstanden (vgl. etwa Eggers, Deutsche Sprachgeschichte I, 1963, S. 17, 18; auch Bodmer, Die Sprachen der Welt, 5. Aufl., S. 35). Martinet (Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 3. Aufl. [1968], S. 16) weist darauf hin, daß auch beim Erwerb der Fähigkeiten das Schreiben dem Sprechen folgt. Gleichwohl ist die Schriftsprache eine Erscheinungsform der „Sprache selbst" (Ickler, Die sogenannte Rechtschreibreform, 2. Aufl. [1997], S.25) oder – mit Kopke (Rechtschreibreform und VerfassungsR, 1995, S. 260) – ein „relatiy autonomes sprachliches Teilsystem, das der gesprochenen Sprache nicht untergeordnet ist (ähnlich Mackowiak, in: Eroms/Munske [Hrsg.], Die Rechtschreibreform, Pro und Kontra, 1997, S. 129 [131]; Steuer, Stellungnahme vom 14. 11. 1997 an das BVerfG, S. 2 Fußn. 4: „zweites Sprachsystem"; zust. OVG Bautzen, DÖV 1998, 118 = SächsVBl 1997, 298). Nach Stetter (in: Eroms/Munske, S. 229 [239]) ist das orthographische System wiederum ein „Teilsystem der Schrift". Auch die Schrift ist „vorgesetzlich" (Kissel, NJW 1997, 1097 [1101]).

8.

Selbst die Rechtschreibung ist im wesentlichen ohne Zutun des Staates entstanden. Sie hatte sich im Laufe der Jahrhunderte durch die Schreibpraxis selbst entwickelt (Ickler, Rechtschreibreform, S. 30; Günther, in: Eroms/Munske, S. 81; zurückhaltender IdS, Stellungnahme vom 13. 11. 1997 an das BVerfG, S. 5 f.). Auch in der schriftlichen Sprache ergeben sich Änderungen „in der Regel ungeplant und quasi von selbst" (Günther, S. 81). Die Fixierung der deutschen Rechtschreibregeln im Jahre 1901 bedeutete nach herrschender Auffassung in der Sprachwissenschaft die „Festschreibung eines Gebrauchs" (Eroms, in: Eroms/Munske, S. 51 [52]; ebenso Günther, ebenda, S. 81 [83]). Die folgende Periode war durch die Herrschaft des Duden gekennzeichnet, der sich zwar am Schreibusus orientierte, aber auch selbst – ‚ohne systematisches Konzept" (Günther, in: Eroms/Munske, S. 81 [85])‚ – Regeln setzte (hierzu u. a. Kopke, S. 53 ff.; Stellungnahme des IdS vom 13. 11. 1997, S. 8). Vor der „Beleihung" (Kopke, S. 59, nimmt Verwaltungshilfe an) des Duden durch die KMK im Jahre 1955 (instruktiv hierzu Augst/Schaeder, Rechtschreibreform, eine Antwort an die Kritiker, 1997, S. 4 f.; Kopke, JZ 1995, 874) hatte sich dieses Werk allmählich von einer einheitlichen Schulorthographie (vgl. etwa Vorwort zur 7. Aufl. [1902], S. IV) zur allgemein anerkannten Richtschnur für die Rechtschreibung entwickelt (vgl. Vorwort zur 8. Aufl. [1905], S. IV f.). 1941/42 war das Werk als Basis einer amtlichen Neuregelung im nationalsozialistischen Sinne vorgesehen (vgl. Vorwort zur 12. Aufl. [1941]/Normalschriftausgabe 1942, und Kopke, Rechtschreibreform, S. 36), zu der es dann nicht mehr kam. Allerdings gab das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1944 in Buchform „Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Wörterverzeichnis" heraus (hierzu Kopke, S.36 ff.).

9.

1.1.2 Die Sprache ist von elementarer Bedeutung für das Menschsein. Dies hat die Kammer bereits in ihrem Beschluß vom 7. 8. 1997 (NJW 1997, 2538) ausgeführt; sie nimmt darauf Bezug. Heidegger nennt die Sprache „das Haus des Seins" (in: Platons Lehre von der Wahrheit, 1947, S. 59, zit. nach Bollnow, Sprache und Erziehung, 1966, S. 15). Das Bild vom bergenden Haus wird auch von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gebraucht: „Die gewohnte Sprache und Schrift soll geradezu ein gewisses, übrigens auch ästhetisches, ‚Zuhausesein‘ ermöglichen" (Stellungnahme vom 18. 11. 1997 an das BVerfG, S. 1). Sprache und Schrift gehören als wesentliche Elemente der Kommunikation zur Sicherheit und Selbstverständlichkeit eines „Aufgehobenseins" unter den Menschen gleicher Sprache (Dt. Akademie, ebda, S. 1). Die Sprache hängt innig mit der Individualität des Menschen zusammen und ist ein integrierender Teil seiner Identität (Häberle, JZ 1996, 719 [720]; ebenso die Stellungnahme vom 18. 11. 1997 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, S. 1, 3). „Die Schriftgestalt einer Sprache ist ein dem Menschen Vertrautes, Achtenswertes" und „das sprachliche Kleid unserer Kultur" (Mahrenholz, SZ v. 23./24. 8. 1997). Ähnlich betont Kopke (Rechtschreibreform, S. 385, 392), Sprache und Orthographie seien Grundvoraussetzungen „für die freie Entfaltung des einzelnen in der Kultur".

10.

1.2 Diese Eigenschaften der Sprache sind rechtlich erheblich.

11.

1.2.1 Wie die Sprache „Gut und Erbe aller Menschen" (Jacob Grimm, Über den Ursprung der Sprache, 1851, in: Aus den Kleineren Schriften von Jacob Grimm, 1911, S. 236 [296]) oder „ein im Gemeingebrauch stehendes Gut" ist (Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], HdbStR, 1987, § 18 Rdnr. 15), so ist Schriftkompetenz und Orthographie als Teil von ihr „individueller Besitz einer jeden Person" (Stetter, in: Eroms/Munske, S. 229 [239]).

12.

1.2.2 Das Völkerrecht erkennt das Recht auf Sprache als ein elementares Menschenrecht an. Es schützt den Gebrauch der Sprache von Minderheiten (Art. 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte v. 19. 12. 1996, BGBl II 1973, 1534) und verwehrt die Ungleichbehandlung von Menschen wegen ihrer Sprache (Art. 2 Nr. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte v. 10. 12.1948, GAOR, III, Resolutions [Doc, A/810] p. 71; Art. 14 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4. 11. 1950, BGBl II 1952, 686, mit späteren Änderungen). Auch Art. 3 III GG enthält ein derartiges Differenzierungsverbot.

13.

1.2.3 Das Grundgesetz schützt die Sprache durch Art. 1 I und Art. 2 I, weil sie an der Würde des Menschen teilhat und zu seiner elementaren Entfaltung gehört. Was dem Menschen angeboren ist, was ihn zum Menschen macht (Wilhelm v. Humboldt), gehört natürlicherweise zum engsten Schutzbereich seiner Persönlichkeit und seiner Menschenwürde. Das BVerfG hat durch diese beiden Normen das allgemeine Persönlichkeitsrecht, „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen", geschützt gesehen (BVerfGE 54, 148 [153] = NJW 1980, 2070; zum Ansatz auch Benda, in: Benda/Maihofer/ Vogel [Hrsg.], Hdb. des VerfassungsR, 2. Aufl. [1994], S. 161 [166 f.]; Schmitt Glaeser, in: HdbStR VI, 1989, § 129 Rdnr. 38). Wegen ihrer Bedeutung als Grundbedingung menschlicher Entfaltung ist die sprachliche Integrität durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt (Kopke, Rechtschreibung, S. 241, und NJW 1996, 1081 [1082]; Kirchhof, in: HdbStR I, § 18 Rdnrn. 14, 50 und 54; Häberle, JZ 1996, 719; OVG Lüneburg, NdsVBl 1998, 12 [16]; OVG Bautzen, DÖV 1998, 118 = SächsVBl 1997, 298; vgl. auch Hufen, JuS 1997,170 [171]; Mahrenholz, SZ v. 23/24. 8. 1997).

14.

Die Entscheidung des BVerfG, die Verfassungsbeschwerden gegen die KMK-Beschlüsse zur Rechtschreibreform nicht anzunehmen (NJW 1996, 2221), steht dieser Auffassung nicht entgegen. Daß das BVerfG die Grundrechte der Bf. aus Art. 1 I und 2 I GG nicht berührt sah, beruhte ersichtlich auf dem Umstand, daß es das Vorliegen einer mit der Verfassungsbeschwerde angreifbaren Entscheidung im Beschlußzeitpunkt (,‚bisher", NJW 1996, 2221 [2222]) verneinte, Im übrigen hob es, offenbar am Beschwerdevorbringen orientiert, allein auf die Frage ab, ob eine Grundrechtsverletzung bereits deshalb zu besorgen sei, weil die vom Bf. zu 1 gebrauchte herkömmliche Schreibweise von einer die Neuregelung praktizierenden Sprachgemeinschaft als falsch angesehen werden könne. Das ist eine andere Fragestellung als die hier beschriebene.

15.

1.3 Die Feststellung grundrechtlichen Schutzes der ‚Sprache (und das bedeutet durchgängig: auch der Schreibung) „dem Grunde nach" besagt noch nichts über die Grenzen staatlichen Handelns. Insoweit geht die Kammer von folgenden Annahmen aus:

16.

1.3.1 Zutreffend erscheint die Ansicht des Bekl., daß dem Staat kein „Befassungsverbot" entgegenzuhalten ist. In der Tat verwehrt das Grundgesetz dem Staat zwar verschiedentlich den Zugriff auf Inhalte (etwa in Art. 5 III GG hinsichtlich wissenschaftlicher Meinungen), nicht hingegen die Regelung einer Materie schlechthin (ähnlich Bülow, in: Hdb. des VerfassungsR, 2. Aufl., S. 1483 ff.). Mahrenholz‘ häufig zitierte These, die Sprache sei weder als mündliche noch als schriftliche Verfügungsgut des Staates (SZ v. 23./24. 8. 1997; zust. Dt. Akademie für Sprache und Dichtung, Stellungnahme v. 18. 11. 1997, S. 3), will ersichtlich nichts anderes sagen, wie aus seiner Differenzierung im folgenden hervorgeht.

17.

1.3.2 Wenn die Sprache, wie oben ausgeführt, ein besonders wichtiges Individualrechtsgut ist, hat der Staat, gleich ob er selbst Normen setzt oder den von Dritten zu verantwortenden Normen Geltung verschaffen will, diese Rechtsposition zu respektieren. Das hat mehrere Konsequenzen:

18.

1.3.2.1 Grundsätzlich wird der Staat der natürlichen Entwicklung der Sprache ihren Lauf zu lassen haben (so unter Hinweis darauf, daß Rechtschreibregeln in objektiven Sachverhalten begründet seien, Mackowiak, in: Eroms/Munske, S. 129 [131.]; vgl. auch Ute Gote, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung [HAZ] v. 1. 11. 1991: „Sprache muß durch Bewußtseinsbildung wachsen und nicht durch bürokratische Verordnung"). Auch eine (Neu-)Ordnung der Rechtschreibung „findet Grund und Grenze in diesen Wandlungen" (sc. der Gesellschaft) und „soll Revision ... sein und nicht Motor der Änderung" (Löwer, These I 3 c, RdJB 1997, 226 [227]). Sprache lebt (Krieger, in: Eroms/Munske, S. 117; Eggers, Deutsche Sprachgeschichte I, S. 10; vgl. auch Bach, Geschichte der deutschen Sprache, 9. Aufl., S. 24 f., 37; ferner – mit Belegen aus dem Dialekt des hessischen Kinzigtals – Weidemann, Dies ist mein Land, 1993, S. 18 ff.), und Lebendiges entwickelt sich nach eigenen Gesetzen (vgl. VG Wiesbaden, NJW 1997, 2399; weitergehend Roellecke, NJW 1997, 2500 [2501], der von „Nichtregulierbarkeit der Sprache" spricht; insoweit zweifelnd auch Kissel, NJW 1997, 1097 [1101]). Jakob Grimm (Kleinere Schriften, S. 236 [296] ) gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff vom „hütenden Sprachgeist", der die Angelegenheiten der Sprache ordnet und vor Verwirrung bewahrt, und in der Linguistik (Ickler, Rechtschreibreform, S. 30 f.; Eroms, in: Eroms/Munske, S. 51 [53 f.]; Günther, ebda, S. 81 f.; der Sache nach auch Stetter, Stellungnahme v. 14. 11. 1997 an das BVerfG, S.2 f.) wird die Entwicklung der Schreibpraxis der „unsichtbaren Hand" zugeschrieben. Beide Wendungen bezeichnen treffend die Eigendynamik, die Sprache und Schreibung sich verändern läßt. Sie wird von Grimm vielfältig belegt, u. a. mit den beiden Lautverschiebungen, die sich mit „wundervollem Instinkt" ereigneten (S. 281).

19.

1.3.2.2 Unzulässig sind Eingriffe in die Sprache aus sachfremden Gründen, etwa zu ihrer Inpflichtnahme für politische Zwecke (Kirchhof, in, HdbStR I, § 18 Rdnr. 54; Bergsdorf, Herrschaft und Sprache, 1983, S.41; zur „Sprachlenkung" der Nationalsozialisten Frank; Dichtung, Sprache, Menschenbild II, 1976, S. 817 ff.).

20.

1.3.2.3 Soweit der Staat Gründe für ein Eingreifen in das gewachsene Gefüge der Sprache sieht, etwa im Sinne von „Sprachpflege" (hierzu Kirchhof, Rdnrn. 51 f.), hat er (im Rahmen der Schrankentrias des Art. 2 I GG) die einander gegenüberstehenden Rechtsgüter mit besonderer Sorgfalt gegeneinander abzuwägen. Dies setzt voraus, daß er die Interessen aller potentiell Betroffenen gründlich ermittelt und mit dem ihnen zukommenden Gewicht in seine Entscheidung einstellt. Insofern ist ihm der Schutz der Grundrechtspositionen auch durch Organisation und Verfahren aufgegeben (zu diesem Ansatz Hesse, in: Hdb. des VerfassungsR, 2. Aufl., S. 146 ff.; Benda, ebda, S. 740 f.; Denninger, in: HdbStR V 1992, § 113 Rdnrn. 27 ff.; vgl. auch Munske, in: Eroms/Munske, S. 143 [154]; im Ansatz auch Augst/Schaeder, Rechtschreibreform, S. 48). Organisations- und Verfahrensregelungen sind ein geeignetes Mittel, wenn es – wie bei einer Orthographiereform im Interesse leichteren Erlernens der Rechtschreibung — um den Ausgleich widerstreitender Verfassungspositionen geht (vgl. Hesse, S. 148; BVerfGE 41, 29 [50 f.] = NJW 1976, 947). Die Rechtsprechung des BVerfG zur Organisation des Rundfunkwesens (BVerfGE 12, 205 [261 ff] = NJW 1961, 547; BVerfGE 57, 295 [319 ff.] = NJW 1981, 1774; BVerfGE 83, 238 [295 ff.] = NJW 1991, 899) beruht auf dieser Grundlage.

21.

Angemerkt sei, dass sich der Eingriff darüber hinaus an den Grundsätzen der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit messen lassen muß (vgl. etwa Schmitt Glaeser, HdbStR VI, § 129 Rdnrn. 40f. zur Rechtschreibreform im besonderen Kopke, Rechtschreibreform, S. 294 ff.). Das kann im Einzelfall der Setzung neuer Regeln entgegenstehen, wenn und soweit der Zweck einer Erleichterung des Erlernens der Orthographie durch präzisere, „adäquate Beschreibung der geltenden Normen" (Günther, in: Eroms/Munske, S. 81 [84]) erreicht werden kann.

22.

1.3.3 Für eine Rechtschreibreform im besonderen gilt:

  • Unstreitig hat der Staat allenfalls gegenüber seinen Verwaltungseinrichtungen einschließlich der Schulen die Kompetenz, Regeln für die Schreibung zu setzen (vgl. auch Kopke, Rechtschreibreform, S. 413 These 4; IdS, Stellungnahme v. 13. 11. 1997 an das BVerfG, S. 9; Zabel, SZ v. 19.2. 1997, Beilage zur Rechtschreibreform).

  • Eine für Schulen geltende Normierung wird trotz ihres begrenzten Adressatenkreises zwangsläufig die künftige Schreibung der gesamten Gesellschaft bestimmen (Ickler, Rechtschreibreform, S. 148, ferner in: Krit. Komm. z. „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung", 1997, S. 12; Brill, in: Eroms/Munske, S. 21 [22]; Munske, ebda, S. 143 [154]; Mahrenholz, SZ v. 23.124. 8. 1997; Kammer, NJW 1997, 2538 [2539]; OVG Lüneburg, NdsVBl 1998, 12 [15]), wie auch das BVerfG einräumt (NJW 1996, 2221 [2222]). Dieser Umstand nötigt den Staat, sich auf das zur Erreichung seiner Zwecke Unerläßliche zu beschränken (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).

  • Der Breitenwirkung einer Orthographieregelung ist im übrigen durch Organisation und Verfahren Rechnung zu tragen. So wird bereits bei der Auswahl der Sachverständigen eine umfassende Sachkunde (vgl. BVerwGE 39, 197 [204] = NJW 1972, 594, zu diesem Erfordernis bei den Mitgliedern der Bundesprüfstelle nach § 9 GjS) unter Berücksichtigung von Wissenschaft und Praxis einerseits, innerhalb der Wissenschaft unter Berücksichtigung der wesentlichen Fachrichtungen andererseits sicherzustellen sein. Darüber hinaus ist eine umfassende Anhörung der betroffenen Kreise geboten. Die Pflicht hierzu ergibt sich – unabhängig von der Kodifizierung in § 28 VwVfG – aus dem Rechtsstaatsprinzip (Benda, S. 740; Kopp, VwVfG, 6. Aufl. [1996], § 28 Rdnr. 2 m. zahlr. Nachw.; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 4. Aufl. [1993], § 28 Rdnr. 2) sowie der Verpflichtung des Staates zur Achtung und Wahrung der Menschenwürde, die es verbietet, den Menschen zu einem Objekt staatlichen Handelns zu machen (BVerfGE 27, 1 [6] = NJW 1969, 1707; BVerfGE 30, 1 [25] = NJW 1971, 275; Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 103 I Rdnr. 93; Kopp, § 28 Rdnr. 2; Kammer, Urt. v. 12.12. 1984 - 6 VGA 181/82). Die Funktionen der Anhörung sind vielfältig: Sie dient der Aufklärung des Sachverhalts ebenso wie der Verhinderung von Willkür und dem Finden einer richtigen Entscheidung (Kopp, ebda; vgl. auch Stelkens/Bonk/Sachs, Rdnr. 2: Transparenz, Information und Akzeptanz; Hendler, Die bürgerschaftliche Mitwirkung an der städtebaulichen Planung, 1977, S. 21 ff., führt Emanzipation, Legitimation, Integration, Rationalisierung, Effektivierung, Rechtsschutz und Kontrolle als Funktionen der Partizipation an. Im Streitfall dürfte den drei erstgenannten Zwecken besondere Bedeutung zukommen).

23.

Dabei kann die Anhörung ihre Wirkung nur entfalten, wenn

  • dem Anzuhörenden ausreichend bedeutet wird, wozu er sich äußern kann und welche Konsequenzen Äußerung und Schweigen haben können (vgl. Kammer, Beschl. v. 23. 1. 1996 - 6 B 6463/95; Kop, § 28 Rdnr. 21 m. Nachw.);

  • sie so rechtzeitig durchgeführt wird, daß ihr Ergebnis Einfluß auf die Entscheidung haben kann (Kopp, § 28 Rdnrn. 6, 25; Weidemann, ZevKR 25 [1980], 49 [56] m. zahlr. Nachw.; Denninger, in: HdbStR V, § 113 Rdnr. 33);

  • sie bei wesentlicher Änderung der Grundlagen wiederholt wird (Stelkens/Bonk/Sachs, § 28 Rdnr. 22, unter Bezugnahme auf BVerwG, NJW 1983, 1689; 1988, 1280).

24.

1.4 Legt man die vorstehenden Erwägungen zugrunde, so ergibt sich, daß die Legitimation der Rechtschreibreform durch Verfahren durchgreifenden Bedenken begegnet. Sie betreffen die Zusammensetzung der Kommission einerseits (1.4.1) und die Anhörung andererseits (1.4.2).

25.

1.4.1 Angesichts der oben (zu 1.3.3) erörterten „Breitenwirkung" der neuen Orthographieregelung war es unerläßlich, die zu ihrer Vorbereitung eingesetzten Gremien so zu besetzen, daß schon bei der Erarbeitung von Vorschlägen eine gewisse Pluralität und die „Offenheit" des Verfahrens sichergestellt waren (vgl. hierzu Denninger, HdbStR V, § 113 Rdnr. 35). Davon kann im Streitfall nicht die Rede sein.

26.

Die Kammer geht zunächst davon aus, daß KMK und BMI dem IdS – ohne weitere Gremienzuordnung – den Auftrag für den Entwurf einer Orthographieregelung erteilten (vgl. Kopke, Rechtschreibreform, S. 114); diese Annahme wird vom IdS selbst betätigt (Stellungnahme v. 10. 11. 1997 für das BVerfG, S. 12). Zu jener Zeit konnte sich das IdS allein seiner Kommission für Rechtschreibung bedienen, die auf diesem Gebiet ausgewiesene Wissenschaftler vereinigte. Der Internationale Arbeitskreis für Orthographie, in dem neben der IdS-Kommission auch entsprechende Gremien der DDR, der Schweiz und Österreichs mitarbeiteten (Stellungnahme v. 10. 11. 1997 des IdS an das BVerfG, S. 12), war keine Einrichtung des IdS und konnte folglich nicht „Auftragnehmer" von KMK und BMI sein.

27.

Unstreitig gehörten der (bundesdeutschen) Kommission neben zwei im IdS tätigen Sprachwissenschaftlern und dem Duden-Herausgeber Prof. Dr. Drosdowski neun Linguisten an (Kopke, Rechtschreibreform, S. 113). Dichter, Schriftsteller, Drucker, Verleger, Journalisten; Pädagogen und Träger der Erwachsenenbildung waren nicht vertreten (zu Dichtern und Schriftstellern: Stetter, Stellungnahme v. 14. 11. 1997 für das BVerfG, S. 9; Veith, in: Eroms/Munske, S. 241 ff.; Ruiss, ebenda, S. 185; zu Pädagogen: Kopke, Rechtschreibreform, S. 313; auch Munske, in: Kunst & Kultur, Jg. 5, Nr. 1 [Jan/Feb. 1998]). Ebenso erstaunlich wie bedenklich ist der Umstand, daß sich das Gremium durch Kooptation veränderte (hierzu Munske, in: Kunst & Kultur, ebda), seine öffentlichen Auftraggeber also keinen Einfluß auf seine Zusammensetzung nahmen und damit ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden. Den Urteilen von Hufen (JuS 1997, 170 [171])‚ die Expertengremien seien „wenig transparent", und von Mackowiak (in; Eroms/Munske, S. 129 [1391), die Legitimierung der Kommission erscheine ihm „undurchsichtig", ist durchaus beizutreten.

28.

Selbst wenn man, was nach den vorstehenden Erwägungen nicht angängig ist, auf den Internationalen Arbeitskreis abhöbe, so bliebe der Befund mangelnder Pluralität und mangelnder Legitimation bestehen.

29.

1.4.2 Ebensowenig genügte die Anhörung den an sie zu stellenden Anforderungen. Da die deutsche Rechtschreibkommission den Gesichtspunkt der Pluralität vernachlässigte (für den Internationalen Arbeitskreis gilt nach den Angaben des Bekl. in seinem Schriftsatz v. 26. 2. 1998, S. 5, nichts anderes), hätte die Anhörung um so gewissenhafter sicherstellen müssen, daß das Gehör der Betroffenen gewährleistet wurde. Die Kammer ist der Frage, welche Verbände 1993 beteiligt wurden, nicht nachgegangen, weil es für ihre Entscheidung. unerheblich ist. Sie meint nämlich, daß eine weitere Anhörung geboten gewesen wäre, weil sich der dem schließlich verabschiedeten Regelwerk zugrundegelegte Entwurf wesentlich von dem 1993 der Öffentlichkeit vorgestellten unterschied. Wie der Bekl. selbst erklärt hat (Presseinformation v. 25. 7. 1997 über die Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Abgeordneten Irmgard Vogelsang [CDU], S. 3 f.), wurde die Unterscheidungsschreibung das/dass erst nachträglich hinzugefügt (vgl. auch Augst/Schaeder, S. 15), und die Neuregelung der Groß-/Kleinschreibung wurde abweichend von den drei ursprünglichen Alternativvorschlägen geordnet (zu letzterem auch Stetter, Stellungnahme v. 14. 11. 1997, S. 9; Ruin, in: Erotns/Munske, S. 185 [186]; Munske, in: Kunst & Kultur, Jg. 5, Nr. 1 [Jan/Feb. 1998] zu 2). Neu war auch die Zusammenschreibung von Fremdwörtern wie Cornedbeef, Secondhandshop und Desktoppublishing (Steuer, ebenda; Munske, ebda, zu 4). Von ganz besonderer Bedeutung ist der Umstand, daß eine Wörterliste erst nachträglich beigegeben wurde (Munske, ebda, zu Nr. 2 Veith, in: Eroms/Munske, S. 241). Munskes Annahme, daß sich ohne eine solche Liste niemand ein genaues Bild von den tatsächlichen Auswirkungen der Neuregelung habe machen können, erscheint schlüssig.

30.

1.4.3 Ob die Arbeitsbasis der IdS-Kommission auch deshalb zu schmal war, weil es an empirischen Untersuchungen zur Verbesserung von Rechtschreibleistungen durch eine Orthographiereform fehlte (so Kopke, Rechtschreibreform, S. 312 f.), kann hier unerörtert bleiben, weil die Klage ohnehin Erfolg hat.

31.

2. Die Klage erweist sich darüber hinaus als begründet, weil die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung sowohl als Eingriff in Grundrechte der Kl. und ihrer Tochter (2.1) als auch im Hinblick auf ihre Wesentlichkeit (2.2) rechtens nur auf gesetzlicher Grundlage hätte eingeführt werden dürfen. An einer solchen Grundlage fehlt es (2.3). (Wird ausgeführt.)