Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen
Entscheidung vom 13.7.1969
- St 2/69
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(weitere Fundstellen: DÖV 1970, 639 f.)

Tatbestand

1.

Der Bürgerschaftsabg. Sch., Mitglied der X-Partei, wurde nach schriftlicher, geheimer Abstimmung aus seiner Fraktion ausgeschlossen. Die antragstell. Bürgerschaftsabgeordneten haben den StGH mit dem Begehren angerufen, sich gem. Art. 140 der Brem. LV gutachtlich zu äußern, ob ein von seiner Partei aufgestellter und durch die Wahl in die Bürgerschaft gewählter Abgeordneter gegen seinen Willen von seiner Fraktion ausgeschlossen werden kann, ohne daß das Wahlgremium seiner Partei erneut tätig geworden ist. – Der StGH hat diese Frage bejaht.

Aus den Gründen:

2.

Die Rechtsnatur der parlamentar. Fraktionen mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen auf den Gebieten des öff. und des privaten Rechts ist zwar noch nicht als abschließend geklärt anzusehen (vgl. hierzu Moecke, NJW 65, 276 ff. und 567 ff.; Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentar. Fraktionen, 1968 S. 20). Entgegen der Auffassung der Beteiligten bedarf diese Frage im vorl. Verfahren aber keiner weiteren Vertiefung. Hier geht es darum, ob eine Fraktion insoweit, als sie den ihr im Parlament zugewiesenen Aufgabenbereich zu erfüllen hat, als Institution des öff. Rechts zu beurteilen ist, deren Zusammenschluß, Bestehen und Wirken sich ausschließlich nach Verfassungsrecht richtet. Diese Frage ist zu bejahen.

3.

In der brem. Verfassung sind die Fraktionen als Institutionen des Parlaments ausdrücklich erwähnt (Art. 86 Abs. 2, 105 Abs. 2). Ihre Bildung wird durch die Geschäftsordnung der Bürgerschaft – GO – bestimmt. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 GO sind Fraktionen Vereinigungen von mindestens fünf Abgeordneten der Bürgerschaft. Der Fortbestand der Fraktionen ist von öff.-rechtl. Voraussetzungen abhängig, und ihre Mitwirkung im Parlament ist – soweit sich diese nicht nach Verfassungsgewohnheitsrecht richtet – in der GeschO geregelt (vgl. z. B. § 8 Abs. 2, § 31 Abs. 3, § 63 Abs. 2).

4.

Nach brem. Verfassungsrecht sind Fraktionen mithin ständige, mit eigenen Rechten ausgestattete Gliederungen der Bürgerschaft. Als solche sind sie integrierende Bestandteile der durch die Landesverfassung begründeten verfassungsmäßigen Ordnung. Ebenso hat das BVerfG die Fraktionen des Bundestages als notwendige Einrichtungen unseres Verfassungslebens bezeichnet (BVerfGE, 10, 4 [14], 20, 56 [104]). Ob sie als (Unter-)Organe des Parlaments zu beurteilen (so von Mangoldt-Klein, GG 1964, Bd. II S. 910 m. Nachw.) oder als ständig vorhandene Teile des Parlaments ohne Organschaftscharakter zu werten sind (so Maunz-Dürig-Herzog, GG, 3. Aufl., Anm. 14 zu Art. 40), kann dahingestellt bleiben. Diese unterschiedl. Auffassungen sind für die in diesem Zusammenhang allein maßgebliche Frage, ob Fraktionen verfassungsrechtl. Institutionen sind, deren Errichtung, Bestand und Wirken sich nach verfassungsrechtl. Grundsätzen richtet, ohne entscheidungserhebliche Bedeutung.

5.

Zu Recht haben die ASt. allerdings darauf hingewiesen, daß die verfassungsrechtl. Institutionalisierung der Fraktionen darüber nicht hinwegtäuschen darf, daß sie nicht nur Rechte und Pflichten als ständige Gliederungen der Bürgerschaft zu erfüllen haben. Gerade in ihrer Eigenschaft als Institution des öff. Rechts hat die Fraktion nicht nur eine verfassungsrechtl. Funktion als Glied des Parlaments, die jeweilige Fraktion repräsentiert vielmehr in der Regel zugleich die polit. Partei im Parlament (vgl. von Mangoldt-Klein aaO., S. 911). Durch die Fraktionen gewinnen die Parteien mittelbar im Parlament eine Einwirkungsmöglichkeit. Aus dieser Sicht heraus ist die Fraktion als die Partei im Parlament bezeichnet worden (vgl. Henke, Das Recht der polit. Parteien, 1964 S. 110).

6.

Die Fraktion als Institution des öff. Rechts nimmt als mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattete Gliederung des Parlaments unmittelbar Verfassungsaufgaben wahr und .wirkt zugleich im Parlament mittelbar als Repräsentant der jeweiligen Partei. Aus dieser Doppelstellung der Fraktion, ergeben sich aber keine Rechte der Parteien, in dem Raum unmittelbar und verbindlich zu entscheiden oder auch nur mitzuwirken, in dem die Fraktion die ihr obliegenden Verfassungsaufgaben wahrzunehmen hat.

7.

Zum verfassungsrechtl. Bereich der Fraktion gehört ihre Bildung. In diesem Zusammenhang haben die Parteien keine Mitwirkungsbefugnisse. Solche Befugnisse sind weder in der Landesverfassung noch in der GeschO vorgesehen. Sie lassen sich, auch nicht aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG herleiten. Die Aufgabe, an der polit. Willensbildung des Volkes mitzuwirken, schließt nicht das Recht der Parteien ein, solche Institutionen des Parlaments zu errichten oder bei deren Errichtung mitzubestimmen, durch die sie im Parlament wirken können. Von diesem Grundsatz geht die GeschO der Bürgerschaft zu Recht aus. Sie bestimmt in § 7 Abs. 1 Satz 1 GO, daß Fraktionen Vereinigungen von mindestens fünf Abgeordneten der Bürgerschaft sind. Die Parteien können den Zusammenschluß von Abgeordneten zu Fraktionen weder verhindern noch erzwingen. Die Fraktionen der Brem. Bürgerschaft brauchen gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 GO noch nicht einmal von Abgeordneten ein und derselben Partei errichtete Vereinigungen zu sein (vgl. auch Entsch. des NdsStGB v. 19. 12. 1962 – Vhdlg. des Nds LT, LT-Drucks IV Nr. 1069). Deshalb können die Fraktionen weder als „Einrichtung" der Parteien (vgl. hierzu Geiger, BVerfGG Anm. 7 zu § 56) noch als ein „Internum" der Parteien (Forsthoff, DRZ 1950, 313 ff. [317]) beurteilt werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie nach der verfassungsrechtl. Praxis in der Regel aus Abgeordneten einer Partei bestehen.

8.

Dieses Ergebnis wird dadurch nicht beeinträchtigt, daß sich die Abgeordneten, die sich zu einer Fraktion zusammenschließen, ihrerseits in einer der Doppelfunktion der Fraktionen vergleichbaren Situation befinden, sofern sie – entspr. der Regel – Mitglieder einer Partei sind. Die Parteien haben zwar nach § 21 des WahlG fur die Bürgerschaft ein Präsentationsrecht und damit Einfluß auf die Entstehung des Bürgerschaftsmandates. Erst mit der Annahme seiner Wahl (§ 23 WahlG) erreicht der präsentierte und gewählte Bewerber aber die Mitgliedschaft in der Bürgerschaft; damit erhält er als Abgeordneter eine von der Partei unabhängige, verfassungsrechtl. bestimmte Stellung und Aufgabe, er ist gemäß Art 83 Abs 1 Satz 1 LV Vertreter der ganzen brem. Bevölkerung. In dieser Eigenschaft ist er nach Satz 3 des Art 83 Abs 1 LV an Aufträge nicht gebunden und bei seinen Entschließungen nur seinem Gewissen unterworfen (vgl hierzu Entsch. des StGH v 20. 1. 1953 – St 2/1952). Als Parteimitglied gelten für den Abgeordneten hingegen Regeln und Grundsätze, die er für sich mit seinem Eintritt in die Partei als verpflichtend anerkannt hat. Insoweit, ist er – auch im Parlament – Exponent einer konkreten Parteiorganisation.

9.

Der Abgeordnete hat hiernach zwar nicht eine Doppelfunktion wie sie die Fraktion ausübt, er hat aber zwei Aufgabenbereiche den verfassungsrechtl. Bereich als Mandatsträger und den polit. Bereich als Exponent seiner Partei. Beiden Aufgabenbereichen mit den dadurch bedingten doppelten Bindungen und den entspr. Rechten und Pflichten hat er auch im Parlament gerecht zu werden. Gleichwohl ist die Partei jedoch unter keinem rechtl. Gesichtspunkt befugt, weder auf Grund des Präsentationsrechts noch unter Hinweis auf die als Parteimitglied übernommenen Pflichten –‚ in den verfassungsrechtl. Status des Abgeordneten einzugreifen oder auf Entschließungen unmittelbar Einfluß zu nehmen, die der Abgeordnete in seiner Eigenschaft als Mandatsträger zu treffen hat. Sie kann weder das Mandat „zurückverlangen" (nicht einmal bei Ausschluß oder Austritt aus der Partei; vgl. BVerfGE 2, 1 ff. [74] = DÖV 53, 83; Leibholz, 4 DVBl. 51, 1 [6]), noch kann sie den Abgeordneten hindern, von vornherein einer anderen Fraktion beizutreten oder aus der bisherigen auszutreten. Die Befugnis eines Abgeordneten, sich einer Fraktion anzuschließen, folgt nicht aus der Parteizugehörigkeit, sondern aus der Mandatsträgerschaft. Ist der Entschluß auf Beitritt zu einer Fraktion verwirklicht, so gehört die Mitarbeit in der Fraktion auch nicht zur Aufgabe des Abgeordneten als Parteimitglied, sondern zur Ausübung seines Mandats (vgl. Friesenhahn, VVDStRL, H. 16, 24).

10.

Die Mitgliedschaft in der Fraktion ist mithin ausschließlich nach Grundsätzen zu beurteilen, die nicht zum polit., sondern zum verfassungsrechtl. Bereich gehören. Sie beruht auf Entschließungen, die von den Abgeordneten aus dem Bewußtsein und mit dem Willen freiwilliger Kooperation in Ausübung ihres verfassungsrechtl. Mandats, getroffen worden sind (vgl. Henke aaO., S. 117). Aus verfassungsrechtl. Sicht besteht kein Recht und keine Pflicht auf Mitgliedschaft in einer Fraktion. Das Verhältnis, zwischen Abgeordneten und Fraktion ist rechtl. nicht so zu beurteilen wie das Verhältnis zwischen Personen, die einander auf Grund eines Gesetzes oder eines Rechts, geschäftsverpflichtet sind. Die Fraktion darf die Aufnahme eines Abgeordneten ablehnen; sie kann einen Abgeordneten nicht hindern, aus der Fraktion auszuscheiden. Bei der Entscheidung, ob sie einen Abgeordneten als Mitglied aufnehmen will, ist sie verfassungsrechtl. allein dem der Demokratieimmanenten Grundsatz verpflichtet, daß die Mehrheit über das Gesuch zu entscheiden hat. Eine Rechtspflicht, zuvor ein Gremium der Partei anzurufen, ist verfassungsrechtlich nicht begründet.

11.

So wie es bei der Aufnahme ist, so ist es auch bei dem actus contrarius, dem Ausschluß eines Abgeordneten aus der Fraktion. Die Fraktion kann den Abgeordneten durch, Mehrheitsbeschluß aus ihrer Gemeinschaft ausschließen (vgl. Bonn. Komm., Art. 38 GG Rz. 78 m. w. Nachw.; ferner Laun, in GedSchr. f. Walter Jellinek, S. 184; Hauenschild aaO., S. 202). Die Wirkung des Ausschlusses innerhalb des verfassungsrechtl. Raumes ist nicht abhängig davon, ob und mit welchem Ergebnis zuvor das Wahlgremium der Partei angerufen worden ist.

12.

Aus diesen Erwägungen rechtfertigt sich die getroffene Entscheidung, ohne daß es im Rahmen des vorlieg. Verfahrens einer Stellungnahme zu der Frage bedarf, ob der Befugnis einer Fraktion, Mitglieder. auszuschließen, im Einzelfall Grenzen gesetzt sind (vgl. hierzu BVerfGE 10, 4 [15) = DÖV 59, 695). Die Auffassung des Abg. Sch., ein Ausschluß aus der Fraktion sei grundsätzlich unzulässig, weil dadurch das Mandat, das der Abgeordnete vom „Wahlvolk" erhalten habe, verfälscht und damit in seinem Wesen betroffen werde, findet im Verfassungsrecht keine Stütze. Die Rechtsstellung des Mandatsträgers ist in Art. 83 Abs. 1 LV umrissen. Diese Vorschrift verpflichtet den Abgeordneten nicht einer Fraktion beizutreten sie hindert ihn nicht, aus der Fraktion auszutreten, und dieser ist es grundsätzlich nicht verwehrt, ihn auszuschließen. Der Wesensgehalt des Mandats wird weder durch den Nichteintritt in eine Fraktion noch durch den Austritt oder Ausschluß aus einer Fraktion angetastet. Auch der fraktionslose Abgeordnete ist Mandatsträger im Sinne des Art. 83 Abs. 1 LV; er ist kein Abgeordneter minderen Rechts. Zwar werden in der Regel fraktionslose Abgeordnete nicht Mitglieder der ständigen Ausschüsse der Bürgerschaft sein, und gemäß Art. 105 Abs. .5 LV kann die Bürgerschaft die ihr zustehenden Befugnisse, mit Ausnahme endgültiger Gesetzgebung, an die ständigen Ausschüsse übertragen. Die damit verbundene Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten trifft alle fraktionslosen, nicht nur die ausgeschlossenen Abgeordneten. Diese Einschränkung mag für einen ausgeschlossenen, aber polit. besonders engagierten Abgeordneten als sehr erheblich empfunden werden. Der Kernbereich des Abgeordnetenmandats, nämlich im Parlament seine Meinung zu sagen und über Gesetzesvorlagen entsprechend seiner Willensentschließung abzustimmen, bleibt in jedem Falle unberührt. Um die weitere Frage, ob der bisherige polit. Wirkungsbereich im Parlament durch einen Fraktionsausschluß in mehr oder weniger erheblichem Umfange eingeengt wird, geht es in diesem Verfahren ebensowenig wie darum, ob und mit welchen Mitteln der Abgeordnete sich. gegen einen Parteiausschluß wenden kann. Schon deshalb beruft der Abg. Sch. sich für seine Rechtsauffassung zu Unrecht auf die Ausführungen von Lenz und Sasse, die diese zum Thema „Parteiausschluß und Demokratiegebot" (JZ 62, 233ff.) gemacht haben.