Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
Urteil vom 30.3.1973
- X A 714/71 -(weitere Fundstellen: DVBl. 1973, 696 f.)
|
Tatbestand |
1 |
Der Kl. ist Eigentümer eines rund 5000 qm großen Waldgrundstücks, das weit außerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile der Stadt W. am Rande eines ausgedehnten Waldgebietes liegt. In der weiteren Umgebung befinden sich der an das Grundstück grenzende Schreinereibetrieb B., zu dem zwei Wohnungen gehören, sowie ein Wohnhaus und mehrere landwirtschaftliche Betriebe. Der Bekl. hat den Anbau eines Wohnhauses an den Schreinereibetrieb im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Vergleichs genehmigt. An dem Schreinereibetrieb ist außerdem ohne Genehmigung ein Schuppen angebaut worden. |
2 |
Gegen die Erteilung der Baugenehmigung für die Errichtung des Schreinereibetriebes hatten sich der Kl. und seine Ehefrau gewandt, weil der Betrieb den Wald auf dem Grundstück des Kl. gefährde. Im anschließenden Rechtsstreit haben die Beteiligten einen außergerichtlichen Vergleich geschlossen, in dem der beklagte OKD dem Kl. die Erteilung einer Bebauungsgenehmigung für ein Wohnhaus zugesagt hat und unter anderem vereinbart worden ist, daß der Kl. seine Klage zurücknimmt und sich verpflichtet, gegenüber dem Bekl. künftig wegen der für den Schreinereibetrieb erteilten Baugenehmigung keine möglichen Schadensersatzforderungen geltend zu machen, sondern sich mit der erteilten Baugenehmigung einverstanden zu erklären sowie auch gegenüber dem Eigentümer des Schreinereibetriebes keine nachbarlichen Einwendungen baurechtlicher Art zu erheben. Nach Klagerücknahme ist dieses Verfahren eingestellt worden. |
3 |
Den Antrag des KL. ihm die in Aussicht gestellte Bebauungsgenehmigung für das Wohnhaus zu erteilen, lehnte die Bauaufsichtsbehörde ab. |
4 |
Der Kl. unterlag im ersten Rechtszuge, hatte jedoch in der Berufungsinstanz Erfolg. |
|
Aus den Gründen: |
5 |
Der in Rede stehende außergerichtliche Vergleich stellt sich als ein zweiseitig verpflichtender öffentlich-rechtlicher Vertrag dar. Der in ihm ausgesprochenen Begünstigung des Kl. (Zusage einer Bebauungsgenehmigung) sind, hiervon abhängig, Verpflichtungen des Kl. (Zurücknahme der Nachbarklage, Verzicht auf Schadensersatzforderungen gegenüber dem Bekl. und auf nachbarliche Einwendungen baurechtlicher Art sowie Einverständnis mit der Baugenehmigung für den Schreinereibetrieb) gegenübergestellt. Dabei ist von Bedeutung, daß die vom Kl. zur Erfüllung des Vertrages erbrachte Leistung – die Zurücknahme der Nachbarklage – nicht zurückgewährt werden kann. Die Rücknahmeerklärung ist als Prozeßhandlung unwiderruflich und unanfechtbar. Die für die Schreinerei erteilte Baugenehmigung ist damit unanfechtbar geworden. Würde der Kl. gegen die Genehmigung erneut nachbarliche Abwehransprüche geltend machen, könnte sich die Behörde, da sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert hat, hierauf berufen und den Erl. Eines neuen Bescheides, der den Rechtsweg eröffnen würde, verweigern. |
6 |
Der Wirksamkeit des Vertrages stehen die etwaigen Verstöße der dem Kl. zugesagten Bebauungsgenehmigung gegen das objektive Recht nicht entgegen. Der öffentlich-rechtliche Vertrag ist hinsichtlich seiner Bestandskraft in gleicher Weise zu beurteilen wie ein VA. Entspricht ein öffentlich-rechtlicher Vertrag nicht der materiellen Rechtslage, ohne aber mit besonders schweren und offensichtlichen Mängeln behaftet zu sein, so ist er wie ein entsprechender VA zwar rechtswidrig, aber grundsätzlich nicht nichtig und somit wirksam. Voraussetzung ist allerdings, daß die Behörde imstande war, die Leistung, zu der sie sich im Vertrage verpflichtet hat, auch in einem VA wirksam zu regeln. Entscheidend ist demnach, ob sie das tun "konnte", nicht jedoch, ob sie es auch tun "durfte". (Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. 3. 1962 – V C 100.61 –‚ BVerwGE 14, 103 [105] = NJW 1962, 1636 = DVBl. 1962, 600 = DÖV 1962, 466 = MDR 1962, 676 = BayVBl. 1962, 278, und vom 29. 10. 1963 – VI C 198.61 –‚ BVerwGE 17, 87 [93, 94]; BSG, Urteil vom 25. 4. 1967 – 11 RA 138/66 –‚ BSGE 26, 210 = NJW 1967, 1822 = DÖV 1968, 495 = MDR 1967, 703, und vom 22. 8. 1967 – 2 RU 260.66 –‚ NJW 1968, 176 = MDR 1968, 88; Haueisen, DVBl. 1968, 285 und NJW 1969, 122 Scheerbarth, Das Allgemeine Bauordnungsrecht, 1966, §§ 61 ff.; Stein, AöR, Bd. 86 [1961], S. 320 ff.; Martens, AöR, Bd. 89 [1964], S. 429 ff.; Löwer, VerwArch., Bd. 56 [1965], S. 142 ff.; Götz, JuS 1970, 1 [4, 5]). Diese Auffassung rechtfertigt sich aus der Erwägung, daß einem Widerstreit des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit (der auch den Schutz des Vertrauens des Bürgers auf dem weiteren Bestand von Maßnahmen der Verwaltung und der hierdurch geschaffenen Lage in sich schließt) für den öffentlich-rechtlichen Vertrag nichts anderes gelten kann als für den VA, also für die Form des Verwaltungshandelns, in der die Verwaltung sonst in aller Regel tätig wird. Zwar ist der öffentlich- rechtliche Vertrag nicht wie der Verwaltungsakt Ausdruck der Staatsautorität. Die vertragliche Einigung (der Konsens) zwischen Bürger und Verwaltung erzeugt jedoch ähnlich wie der einseitige Ausspruch der Staatsgewalt Rechtswirkungen. Sie ruft ebenso wie im Zivilrecht eine Bindungswirkung hervor. Die Vertragspartner werden an dem von ihnen übereinstimmend Erklärten festgehalten. Der Satz "pacta sunt servanda" gilt auch für öffentlich-rechtliche Verträge. Der Bürger vertraut auf deren Bindungswirkung ebenso wie auf die des an ihn gerichteten VA. Dieses Vertrauen verdient denselben Schutz. Es ist vielleicht noch schutzwürdiger, weil der Bürger durch die Abgabe seiner Willenserklärung mitgewirkt hat. |
7 |
Von dieser Betrachtungsweise ist nach Auffassung des Senats jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art auszugehen, in denen es sich um zweiseitig verpflichtende Verträge handelt und der beteiligte Bürger der ihm obliegenden Verpflichtung im Vertrauen auf die Rechtswirksamkeit des Vertrages nachgekommen ist sowie die erbrachte Leistung nicht zurückgewährt werden kann. |
8 |
Ist der Vergleich demnach in Anwendung dieser Grundsätze wirksam, da der OKD in L. als zuständige Bauaufsichtsbehörde jedenfalls befugt war, die zugesagte Bebauungsgenehmigung zu erteilen und diese bei ihrer Erteilung trotz etwaiger Fehlerhaftigkeit zunächst bindend gewesen wäre, liegen auch keine sonstigen Mängel vor, die dem Anspruch des Kl. auf Erteilung der Bebauungsgenehmigung entgegenstehen könnten. |
9 |
Auf das Verstreichen der Fristen nach den §§ 84, 91 BauO NW kann sich der Bekl. nicht berufen. Diese Vorschriften gelten als Spezialnormen für bereits erlassene Vorbescheide und bereits erteilte Baugenehmigungen. Sie können ohne eine ausdrückliche Vereinbarung nicht auf die vertragliche Verpflichtung des Bekl. entsprechend angewandt werden, da dies dem Wesen des Vertrages widersprechen würde. Ihr Zweck ist, durch eine Begrenzung der Geltungsdauer der Baugenehmigung als einseitig hoheitlicher Erklärung (Feststellung), daß dem Bauvorhaben Hinderungsgründe aus dem zum Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung geltenden öffentlichen Recht nicht entgegenstehen, dem Umstand Rechnung zu tragen, daß sich die baurechtlichen Verhältnisse relativ kurzfristig ändern. Ohne diese Regelungen könnten die Behörden bei derartigen Änderungen die Baugenehmigung nur nach den Regeln über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender VA zurücknehmen mit der Folge, daß die Genehmigung unter Umständen aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes bestehenbleiben müßte. Anders stellt sich jedoch die Interessen- und Rechtslage beim öffentlich-rechtlichen Vertrag dar. Entsprechend seinem Charakter als Regelung öffentlich-rechtlicher Rechte und Pflichten zwischen Staat und Bürger durch Willensübereinstimmung kann der öffentlich-rechtliche Vertrag nicht automatisch seine Gültigkeit verlieren, sondern genießt aufgrund des aus der Rechtssicherheit abgeleiteten Vertrauensschutzes Bestandskraft. Den veränderten – tatsächlichen und rechtlichen – Verhältnissen kann er nur – aber auch in ausreichender Weise – durch den Grundsatz der "clausula rebus sic stantibus" angepaßt werden, dessen Grundlage die Abwägung von öffentlichem und privatem Interesse bildet. Dies entspricht dem Motiv des Vertragsabschlusses, gemeinsam mit dem beteiligten Bürger eine Lösung zu suchen, die für den einzelnen und die Allgemeinheit annehmbar ist, und gewährleistet eine genügende Berücksichtigung des bei zweiseitigen Verträgen besonders schutzwürdigen Vertrauens des Bürgers auf den Bestand des Vertrages, um dem Bürger die begünstigende Gegenleistung zu erhalten. Für eine Veränderung der Verhältnisse sind vorliegend jedoch Anhaltspunkte nicht gegeben. |
10 |
Die Aufhebung des öffentlich-rechtlichen Vertrages ist gemäß seinem Wesen grundsätzlich nur im gegenseitigen Einvernehmen möglich. Hierzu bedarf es korrespondierender Willenserklärungen der Vertragschließenden. Allerdings ist zu beachten, daß beim öffentlich-rechtlichen Vertrag öffentliche Interessen mit im Spiele sind. Deshalb ist der Grundsatz "pacta sunt servanda" nicht mit derselben Strenge durchzuführen wie im Privatrecht. Der Verwaltung ist daher über den Anwendungsbereich der "clausula rebus sic stantibus" hinaus, von der nur die Fälle erfaßt werden, in denen nach Abschluß des Vertrages eine wesentliche Änderung eingetreten ist, zuzugestehen, daß sie vom Vertrage zurücktreten kann, wenn sie einen VA, in dem sie die gleiche Verpflichtung übernommen hat, zurücknehmen könnte. Nur insoweit ist das Vertrauen des Bürgers auf den Bestand des öffentlich-rechtlichen Vertrages, insbesondere auf die Erfüllung der ihm darin zugesagten Leistungen, schutzwürdig. Der Bürger darf nicht erwarten, daß die Verwaltung, wenn sie mit ihm einen Vertrag abschließt, eine stärkere Bindung eingehen will und kann, als wenn sie in einem VA Verpflichtungen übernimmt. Eine vertragliche Zusicherung hat gegenüber der hoheitlichen Zusicherung keinen "Bindungsmehrwert". (Vgl. Haueisen, DVBl. 1968, 289; NJW 1969, 124.) |
11 |
Das – dem Bekl. somit unter Umständen zustehende – Rücktrittsrecht vom Vertrage kann nur nach den Regeln über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender VA ausgeübt werden. Hiernach sind gleichfalls das öffentliche Interesse und das Einzelinteresse abzuwägen. Dabei kann das Gewicht des Vertrauensschutzes unterschiedlich und entsprechend eine Aufhebung (ein Rücktritt) ex tunc, ex nunc oder sogar überhaupt nicht zulässig sein, wenn das private Interesse des Begünstigten an dem Bestand des VA (öffentlich-rechtlichen Vertrages) das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen VA (Beendigung des öffentlich-rechtlichen Vertrages) übersteigt. Es sind die Umstände des Einzelfalles zu beachten und alle sich hieraus ergebenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen. |
12 |
Es ist allerdings bereits fraglich, ob vorliegend die Weigerung des Bekl., den Vertrag zu erfüllen, als konkludente Ausübung des Rücktrittsrechts zu betrachten ist und ob der Bekl. überhaupt konkludent von dem Rücktrittsrecht Gebrauch machen kann. Es spricht viel dafür, daß aus Gründen der Rechtssicherheit die ausdrückliche Erklärung des Rücktritts entsprechend § 349 BGB erforderlich ist. Es ist auch zweifelhaft, ob ein Rücktrittsrecht für alle Zeiten zu bejahen oder um der Rechtssicherheit willen zeitlich zu beschränken ist, wobei unter Umständen die Ausschlußfrist des § 24 OBG herangezogen werden könnte. |
13 |
Sieht man jedoch hiervon ab und legt man die Weigerung des Bekl., den Vertrag zu erfüllen, als Rücktritt von dem Vertrage aus, so verlangt bei einer Abwägung des öffentlichen Interesses gegen das private Interesse des Kl. das letztere, das Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen für ein Recht des Bekl., von dem Vertrage zurückzutreten, zu verneinen. Hierfür spricht, daß der Kl. seinen Verpflichtungen aus dem Vertrage im Vertrauen darauf, daß die Behörde ihrerseits den Vertrag erfüllen werde, nachgekommen ist und sich die Erfüllung der von dem Kl. übernommenen entscheidenden vertraglichen Verpflichtung, die Klage in dem eingangs erwähnten Nachbarstreitverfahren zurückzunehmen, nicht mehr rückgängig machen lässt. Für den Kl. war im übrigen ein Grund für den Vertragsabschluß, daß bei Erteilung der Bebauungsgenehmigung zur Brandverhütung durch Rodung ein größerer Abstand zwischen dem Wald und dem Werkstattgebäude der Schreinerei hergestellt werden könnte. Außerdem hat die Rechtswidrigkeit des öffentlich-rechtlichen Vertrages ihren Ursprung im Verantwortungsbereich der Behörde. Diese hat sich durch eigenes gewolltes Verhalten gebunden. Ihr mag bei der Subsumtion des Sachverhaltes unter die Rechtsnormen des BBauG ein Irrtum unterlaufen sein. Die Anwendung des Rechts ist aber Aufgabe der Behörde, der juristisch geschultes Personal zur Verfügung steht. Bei dem Abschluß von Verträgen ist von ihr besondere Sorgfalt zu erwarten. Dafür, daß der Kl. den Irrtum erkannt hätte, liegen keine Anhaltspunkte vor, zumal der Kl. den Vergleich mit seiner Ehefrau nur selbst unterschrieben hat und sein Prozeßbevollmächtigter beim Vergleichsabschluß nicht zugegen war. |
14 |
Bei dem abzuwägenden Vergleich des öffentlichen Interesses an der Anwendung der in Frage stehenden Normen mit dem Vertrauensschutz des Kl. ist darüber hinaus die durch das Verhalten des Bekl. in diesem Bereich zum Ausdruck gebrachte Wertung der Behörde selbst hinsichtlich der Einhaltung eines gesetzmäßigen Rechtszustandes von besonderer Bedeutung. Mit der dem Nachbarn des Kl. – noch dazu während der Rechtshängigkeit der vorliegenden Streitsache – erteilten Genehmigung für eine erhebliche bauliche Erweiterung und der in Aussicht genommenen Zulassung einer weiteren Bebauung, obwohl sich beide Vorhaben unter dem vom Bekl. angeführten Gesichtspunkt des Bestandsschutzes nicht rechtfertigen lassen, hat die Behörde zu erkennen gegeben, daß sie sich nach der Gesetzeslage nicht gehalten sieht, im dortigen Gebiet eine Bebauung unter allen Umständen zu verhindern. Gegenüber einem derartigen von der Verwaltung selbst bemessenen Wert der in Rede stehenden gesetzlichen Vorschriften muß die dem Vertrauensschutz zugrunde liegende Wertung den Vorrang genießen. |