Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil vom 28..02.1983
– 6 A 69/82 –

(weitere Fundstellen: BRS 40, Nr. 226 und BauR 1984, 22 ff.)

 

Leitsatz:

 

Eine Rückbauverfügung wegen Verletzung des Bauwichs um wenige Zentimeter kann wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rechtswidrig sein.

 

Zum Sachverhalt:

1.

Der Kläger errichtete einen Wohnhausanbau. Er wich dabei teilweise von der ihm erteilten Baugenehmigung ab. Der Anbau hat eine Länge von 6,16 m. Die Entfernung seiner beiden Ecken zur seitlichen Grundstücksgrenze des Beigeladenen beträgt 2,94 m und 2,97 m. Mit der angefochtenen Verfügung forderte die Beklagte den Kläger auf, den erforderlichen Grenzabstand von 3 m durch Zurücksetzen der Verblendung entsprechend der erteilten Baugenehmigung herzustellen. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Auf die Berufung des Klägers wurde die Bauordnungsverfügung aufgehoben.

 

Aus den Gründen:

2.

Die Abbruchverfügung ist wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufzuheben.

3.

Als Rechtsgrundlage für die Verfügung kommt nur § 89 Abs.l Nr.2 NBauO in Betracht. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen anordnen, die zur Herstellung oder Sicherung rechtmäßiger Zustände erforderlich sind, wenn bauliche Anlagen dem öffentlichen Baurecht widersprechen. Sie kann namentlich die Beseitigung von baulichen Anlagen oder Teilen baulicher Anlagen anordnen. Da die Beseitigungsanordnung im vorliegenden Fall zu einem Substanzeingriff führt, setzt sie voraus, daß die betreffende bauliche Anlage nicht genehmigt ist und Zeit ihres Bestehens rechtswidrig war. Diese Voraussetzungen sind zwar gegeben. Tatsächlich ist die östliche Außenmauer des Anbaues an der südöstlichen Ecke nur 2,94 m und dann fortlaufend zur nordöstlichen Ecke nur 2,97 m von der seitlichen Grundstücksgrenze entfernt. Nach dem Inhalt der Baugenehmigung ist der Anbau jedoch mit einem seitlichen Grenzabstand von 3 m genehmigt worden. Die Unterschreitung des seitlichen Grenzabstandes verstößt seit der Errichtung des Anbaues gegen § 7 Abs. 1 i. V.m. Abs. 2 NBauO. Danach müssen oberirdische Gebäude von den Grenzen des Baugrundstückes einen Mindestabstand von 3 m einhalten. Die Ausnahmeregelung des § 7 Abs. 7 NBauO ist nicht einschlägig. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 4 NBauO. Dort heißt es zwar: „Der Abstand darf auf volle 10 cm abgerundet werden." Diese Abrundungsmöglichkeit bezieht sich jedoch nicht auf den Mindestabstand von 3 m in § 7 Abs. 2,2. Halbsatz NBauO, sondern nur auf die Ermittlung des Regelabstandes von 1 H. Von dieser Ausnahme abgesehen, sind die in §§ 7 ff. NBauO genannten Maße strikt einzuhalten. Die eindeutige Fassung der Vorschriften über den Bauabstand und seine Meßbarkeit nach den im Gesetz festgelegten Größen macht es nicht möglich, geringfügige Unterschreitungen als nicht gegeben anzusehen (Beschluß des Senats v. 10.7. 1980 - 6 B 60/80 -, Nds. RPfl. 1980, 289, m. w. N.). Abgesehen davon würde diese Abrundungsmöglichkeit bei ihrer Anwendbarkeit auf den Mindestabstand von 3 m dem Kläger auch nicht zum Erfolg verhelfen, da sie nach ihrem Wortlaut nur eine Abrundung, aber keine Aufrundung, wie es der Kläger offensichtlich möchte, zuläßt. Eine Abrundung würde dazu führen, daß der vom Kläger errichtete Anbau den seitlichen Mindestabstand von 3 m nicht nur um 3-6 cm, sondern sogar um 10 cm unterschreitet.

4.

Wegen der Unterschreitung des seitlichen Grenzabstandes ist dem Kläger keine Befreiung zu erteilen, weil es bereits an den Voraussetzungen des § 86 NBauO fehlt. Der Kläger hätte ohne weiteres mit dem Anbau von der östlichen Grundstücksgrenze um weitere 3-6 cm entfernt bleiben können. Daß er irrtümlich den Abstand überschritten hat, rechtfertigt nach dem Wortlaut und auch dem Zweck des § 86 NBauO keine nachträgliche Befreiung.

5.

Die Beklagte hat jedoch ihr Eingriffsermessen nicht zutreffend ausgeübt.

6.

Sie hat insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei ihrer Entscheidung nicht genügend beachtet. Beide Bausenate des OVG Lüneburg haben zwar rechtsgrundsätzlich entschieden, daß gerade Grenzabstände genau einzuhalten sind. Das findet seinen Grund darin, daß in den Bauordnungen die Grenzabstände durch ein genaues Maß angegeben sind; dieses Maß darf grundsätzlich nicht manipuliert werden (Beschluß des Senats, a. a. O., u. Beschluß des 1. Senats v. 21. 7. 1980 - 1 A 407179 -). Regelmäßig wird also bei einer Abweichung vom genehmigten Grenzabstand ein Abbruchsverlangen vom Ermessen der Behörde gedeckt sein. Die Ausübung des Eingriffsermessens setzt jedoch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen voraus. Zu berücksichtigen sind dabei das Interesse der Öffentlichkeit, illegales Bauen zu verhindern, das Interesse der Nachbarn, durch Grenzabstandsverletzungen nicht beeinträchtigt zu werden, und endlich das Interesse des Bauherrn, jedenfalls dann keinen unverhältnismäßig hohen Schaden zu erleiden, wenn die Abweichung so gering ist, daß weder Belange der Öffentlichkeit noch der Nachbarschutz ernsthaft berührt werden (OVG Lüneburg, Urteil v. 15.6. 1970 - I A 73/69 -, Urteil v. 17.11. 1970 - I A 5/70 -, BRS 23 Nr. 198, Urteil v. 24. 10. 1974 - I A 107/73 -, DVBl. 1975,915 [917 f.l, und Urteil v. 31. 5. 1978 - I A 129/77 -).

7.

Die Unterschreitung des Grenzabstandes von 3-6 cm ist geringfügig; sie beträgt, um ein in der Bautechnik übliches Maß zu gebrauchen, weniger als 1/2 Stein. Derart geringfügige Abweichungen von weniger als einem halben Stein ergeben sich erfahrungsgemäß häufig beim Baugeschehen, sei es durch ein zu oberflächliches Ausmessen, sei es durch unachtsames Schütten der Betonfundamente oder ungenaues Aufmauern.

8.

Solche geringfügigen Abweichungen bringen weder dem Kläger Vorteile noch den Beigeladenen spürbare Nachteile. Ein Interesse des Klägers, sein Haus bewußt um weniger als 1/2 Stein zu versetzen, ist nicht erkennbar; deswegen spricht auch das öffentliche Interesse insoweit nicht für einen Abbruch. Anders mag es dann liegen, wenn jemand bewußt den Bauwich verletzt. Schon um nicht für Dritte einen Anreiz zu schaffen, in gleicher Weise illegal zu bauen und den Bauwich zu verletzen, hat dann die Öffentlichkeit ein Interesse an der Wiederherstellung des baurechtmäßigen Zustandes. Für eine solche bewußte Verletzung des seitlichen Grenzabstandes durch den Kläger liegen jedoch keine Anhaltspunkte vor. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, daß er bei der Errichtung des Anbaues davon ausgegangen sei, daß der Anbau entsprechend der erteilten Baugenehmigung, also unter Einhaltung des seitlichen Grenzabstandes, errichtet werde. Er habe erst nach der durchgeführten Einmessung des Anbaues mit Zustellung der Bauordnungsverfügung erfahren, daß der Anbau den seitlichen Grenzabstand nicht einhält.

9.

Weiterhin ist nach der Auffassung des Senats eine wesentliche oder überhaupt spürbare Beeinträchtigung der Beigeladenen durch die geringfügige Unterschreitung des Grenzabstandes zu verneinen. Eine Abweichung von 3-6 cm auf einer Länge von 6,11 m ist optisch kaum wahrnehmbar, sondern allenfalls mit Hilfe eines Bandmaßes meßbar. Eine irgendwie geartete spürbare Beschränkung der Licht- und Luftzufuhr kann bei einer so geringen Abweichung nicht angenommen werden.

10.

Demgegenüber würde aber dem Kläger nach seinen Angaben bei dem Abbruch ein Schaden von etwa 20000 DM entstehen. Dies ist von den übrigen Verfahrensbeteiligten nicht ernsthaft bestritten worden. Der erstrebte Zweck, nämlich die genaue Einhaltung des Grenzabstandes, steht zu dem eingesetzten Mittel, nämlich der Anordnung, die Mauer um wenige Zentimeter zurückzuversetzen, wodurch ein Verlust von etwa 20000 DM infolge des Abbruches entstehen würde, in keinem angemessenen Verhältnis. Weiterhin ist zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, daß die Beklagte bereits mit Übersendung des früheren Einmessungsergebnisses gewußt hat oder zumindest hätte erkennen können, daß der Anbau den geforderten seitlichen Grenzabstand nicht einhält. Bereits in diesem Ermessungsergebnis ist festgestellt worden, daß die südöstliche Ecke des Anbaues nur einen seitlichen Grenzabstand von 2,94 m einhält. Zu diesem Zeitpunkt war das Außenmauerwerk zur seitlichen Grundstücksgrenze mit Ausnahme der südöstlichen Ecke noch nicht fertiggestellt. Aus der Zeichnung hätte die Beklagte bei Berücksichtigung des Inhaltes der erteilten Baugenehmigung erkennen können, daß der Anbau nach Fertigstellung den seitlichen Grenzabstand insgesamt nicht einhalten werde. Es wäre daher Aufgabe der Beklagten gewesen, den Kläger bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Abweichung von der erteilten Baugenehmigung hinzuweisen und ggf. bauordnungsrechtlich einzuschreiten, um dem Kläger die Möglichkeit zu eröffnen, seinen Schaden so gering wie möglich zu halten. Wenn die Beklagte dies nicht getan hat, sondern etwa ein 3/4 Jahr untätig geblieben ist und somit das Außenmauerwerk von dem Kläger in Unkenntnis von der Abweichung von der Baugenehmigung fertiggestellt worden ist, so wird angesichts der Geringfügigkeit der Unterschreitung des seitlichen Grenzabstandes die Unverhältnismäßigkeit der Beseitigungsverfügung noch verstärkt. Daher hat die Beklagte ihr Eingriffsermessen unrichtig ausgeübt. Der Ermessensfehler muß somit zur Aufhebung der angefochtenen Ordnungsverfügung führen.