Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil vom 14.06.1993
- 8 B 11088/93
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 (weitere Fundstellen: NVwZ 1994, 1015 f.)

 

Leitsatz:

 

Ein Antrag an das Verwaltungsgericht auf Anordnung der sofortigen Vollziehung oder auf Anordnung bzw Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Nachbarwiderspruchs ist bei allen Verwaltungsakten mit Doppelwirkung erst nach erfolgloser Anrufung der zuständigen Behörde zulässig.

 

Aus den Gründen:

1.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

2.

Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht den Antrag der Antragsteller abgelehnt, die sofortige Vollziehung der ihnen am 20. Januar 1993 erteilten Baugenehmigung zur Errichtung von 8 Ferienhäusern anzuordnen. Denn dieser Antrag war gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 6 VwGO unzulässig.

3.

Zwar ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, daß dem Widerspruch der Beigeladenen gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung zukommt, da ein Ferienhaus nicht zu den in § 10 BauGBMaßnG in der hier noch anwendbaren Fassung vom 17. Mai 1990 (BGBl. I S. 926) - siehe § 18 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes i.d.F. vom 28. April 1993 (BGBl. I S. 622) - genannten Vorhaben zählt, die "ausschließlich Wohnzwecken" dienen. In diesem Fall hat der Bauherr gemäß § 80 a Abs. 1 Nr. 1 VwGO die Möglichkeit, bei der Behörde - nach Einlegung eines Nachbarwiderspruchs - die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu beantragen, worauf auch der Antragsgegner die Antragsteller in seinem Schreiben vom 5. Februar 1993 ausdrücklich hingewiesen hat. Eine dahingehende gerichtliche Entscheidung gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 1 VwGO kann erst dann verlangt werden, wenn zuvor die zuständige Behörde erfolglos angerufen worden ist. Dies ergibt sich aus der Regelung des § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO, wonach § 80 Abs. 6 VwGO auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung entsprechend anwendbar ist. Dabei handelt es sich um eine Rechtsfolgenverweisung, die über die in § 80 Abs. 6 VwGO geregelten Fälle der Anforderung öffentlicher Kosten und Abgaben hinaus alle Verwaltungsakte mit Doppelwirkung umfaßt (siehe OVG Lüneburg, Beschluß vom 21. Mai 1992, BauR 1992, 603; Redeker/von Oertzen, Komm. z. VwGO, 10. Aufl., Rdnr. 5 zu § 80 a; Schmaltz, Probleme des vorläufigen Rechtsschutzes im Baunachbarrecht, DVBl. 1992, 230).

4.

Auf die Anwendbarkeit des § 80 Abs. 6 VwGO in Fällen der vorliegenden Art deutet zunächst die gesetzlich angeordnete "entsprechende Anwendung" hin. Auch der mit dem 4. Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung verfolgte Zweck, durch verwaltungsrechtliche Maßnahmen die gerichtlichen Verfahren zu verbessern, zu beschleunigen und zu entlasten (siehe amtl. Begründung, Bundestagsdrucksache 11/7030 S. 1), spricht dafür (siehe auch Jäde, Vorrang der Behördenentscheidung bei einstweiligem Nachbarrechtsschutz, UPR 91, 295 - 297 -). Dem dient die vorherige Anrufung der Behörde, die wegen der besseren Ortskenntnis und aufgrund ihres technischen Sachverstandes vielfach eher als das Gerücht in der Lage ist, im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 80 a Abs. 1 und 2 VwGO eine vorläufige Regelung zu treffen, die den widerstreitenden Interessen der Beteiligten bis zur Entscheidung in der Hauptsache Rechnung trägt und ein gerichtliches Eilverfahren entbehrlich machen kann. Letztlich liefe bei einer Begrenzung der Anwendung des § 80 Abs. 6 VwGO auf Abgaben und Kostensachen die Vorschrift des § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO auch weitgehend leer, da von den Verwaltungsakten mit Doppelwirkung nur ein äußerst geringer Anteil Kosten und Abgaben betreffen dürfte, während es sich in den allermeisten Fällen um Genehmigungen handelt, die einen Dritten belasten.

5.

Die dagegen von einem Teil der Rechtsprechung und der Literatur wegen der besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung erhobenen Bedenken, die sich insbesondere auch aus der amtlichen Begründung zu § 80 Abs. 6 VwGO herleiten (siehe Beschluß des 1. Senats des OVG Rh.-Pf. vom 4. Juni 1992 - 1 B 10 880/92 -; HessVGH, DVBl. 1992, 45, Schoch, Der vorläufige Rechtsschutz im 4. VwGO ÄnderungsG, NVwZ 1991, 1121 ff.; Kopp, Komm. z. VwGO, 9. Aufl., Rdnr. 21 zu § 80 a), stehen dieser Auslegung nicht entgegen. Denn auch bei Anwendung des § 80 Abs. 6 VwGO auf Verwaltungsakte mit Doppelwirkung ist effektiver Rechtsschutz gewährleistet

6.

In den Fällen des Antrags des Begünstigten auf Anordnung der sofortigen Vollziehung geht es ohnehin nicht darum, einen Eingriff in seine Rechte abzuwehren. Vielmehr will der Begünstigte, entgegen der Regel des § 80 Abs. 1 VwGO, schon von einer Genehmigung Gebrauch machen, deren Rechtmäßigkeit und rechtlicher Bestand noch nicht feststehen. In diesen Fällen wurde allgemein schon vor der Neufassung der Verwaltungsgerichtsordnung das Rechtsschutzbedürfnis für einen unmittelbar bei dem Gericht gestellten Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung in Zweifel gezogen, weil es - von Ausnahmen abgesehen - für den durch den Verwaltungsakt Begünstigten einfacher und auch zumutbar war, zunächst eine Entscheidung der Behörde einzuholen. Diese Rechtsauffassung ist nun im Gesetz durch § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 6 VwGO bestätigt worden (vgl. Schoch, a.a.O. S. 1126, BayVGH, Beschluß vom 23. August 1991, BayVBl. 1991, 723; VGH Bad.-Württemberg, Beschluß vom 7. September 1990, NVwZ 1991, 687). Aber auch wenn es um die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs geht, den ein Dritter gegen die einen anderen begünstigende Genehmigung eingelegt hat, stellt das Erfordernis eines zuvor (erfolglosen) Antrags bei der Behörde den effektiven Rechtsschutz nicht in Frage. Denn § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO gibt die Möglichkeit, sofort einen entsprechenden Antrag bei Gericht zu stellen, wenn der Baubeginn erfolgt ist oder unmittelbar bevorsteht, weil dann "die Vollstreckung droht" (siehe Beschluß des 1. Senats a.a.O.; OVG Lüneburg, a.a.O.). Der Gesichtspunkt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes rechtfertigt daher nicht eine Auslegung des § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO, die eine Anwendung dieser Vorschrift praktisch ausschlösse und die gesetzliche Regelung daher leerlaufen ließe.

7.

Es ist demnach festzuhalten, daß vor Stellung eines Antrags nach § 80 a Abs. 3 Satz 1 VwGO zunächst gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 6 VwGO ein entsprechendes behördliches Verfahren durchgeführt werden muß. Da es sich bei dieser Regelung um eine Zugangsvoraussetzung handelt, ist dieses Verwaltungsverfahren auch nicht wegen der Stellungnahme des Antragsgegners im gerichtlichen Verfahren entbehrlich (siehe Beschluß des 1. Senats a.a.O., Redeker/von Oertzen, a.a.O., Rdnr. 40 zu § 80). Der Antrag vom 25. Februar 1993 war daher unzulässig.