(weitere Fundstellen: NJW 1986, 2659 f.)
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Tatbestand |
1. |
Die Ast. meldete für die "Initiative gegen den Atomtod" die Durchführung einer Demonstration in L., Stadtteil O., an. Diese sollte von der A-Straße kommend durch die ca. 7 m breite B-Straße führen und dort enden. Außerdem sollte vor dem in dieser Straße gelegenen Wohnhaus des Bundeskanzlers eine Kundgebung stattfinden. Man wolle manifestieren, daß der Bundeskanzler "als Repräsentant dieser Regierung anzusehen ist, die die Fortführung der bisherigen Atompolitik befürwortet." |
2. |
Mit für sofort vollziehbar erklärter Verfügung untersagte der Ag. die beabsichtigte Kundgebung vor dem Anwesen. Im übrigen wurden gegen die Demonstration keine Bedenken erhoben. |
3. |
Das VG gab dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs statt. Die Beschwerde des Ag. hatte Erfolg. |
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Aus den Gründen: |
4. |
Die nach § 80 V 1 VwGO vom Senat vor- zunehmende Interessenabwägung ergibt, daß das öffentliche Interesse an einem sofortigen Vollzug des angegriffenen Verwaltungsakts gegenüber dem privaten Interesse der Ast. an der Durchführung der in Rede stehenden Kundgebung überwiegt. Die Verfügung des Ag. vom 23. 5. 1986 ist nämlich, soweit sie Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist, offensichtlich rechtmäßig. |
5. |
1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 I VersammlG i. d. F. der Bekanntmachung vom 15. 11. 1978 (BGBl I, 1790) sind gegeben, soweit es um die beabsichtigte Kundgebung vor der Privatwohnung des Bundeskanzlers in L. geht. Nach der genannten Bestimmung kann eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel (vgl. § 14 I VersammlG) verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. |
6. |
a) Die in Rede stehende Kundgebung ist – ebenso wie die gesamte geplante Demonstration – eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel: Die Teilnehmer wollen in einer öffentlichen Angelegenheit, nämlich zu der von der Bundesregierung verfolgten Kernenergiepolitik, eine kollektive Aussage machen; der Teilnehmerkreis ist zwar zahlenmäßig ungefähr bestimmt, nicht aber auf individuell bezeichnete Personen beschränkt (vgl. hierzu Dietel-Gintzel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 8. Aufl. [1985], § 1 VersammlG Rdnrn. 1 ff., 9). |
7. |
b) Bei Durchführung der Kundgebung ist die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet; das ergibt sich aus den von der Ast. selbst vorgetragenen Umständen sowie den aus den Verwaltungsvorgängen ersichtlichen örtlichen Verhältnissen: Die zu erwartenden rund 150 Teilnehmer werden die ca. 7 m breite B-Straße vor dem Wohnhaus des Bundeskanzlers allein durch ihre Anwesenheit auf einige Dauer tatsächlich sperren. Hierdurch hindern sie den Bundeskanzler und die Angehörigen seiner Familie – ebenso wie die unmittelbaren Nachbarn – an der Ausübung des Grundrechts aus Art. 2 I GG, ihr Wohnhaus jederzeit betreten und verlassen und sich dort ungestört aufhalten zu können (vgl. BVerfGE 6, 32 [36] = NJW 1957, 297 – Elfes –). Zudem bringen sie den dortigen Straßenverkehr zum Erliegen und beeinträchtigen so das Recht der Verkehrsteilnehmer auf freie Durchfahrt (Art. 2 I GG; vgl. Dietel-Gintzel, aaO, § 15 VersammlG Rdnr. 62). Im übrigen sind ein wirksamer Personenschutz des Bundeskanzlers sowie die jederzeitige Erreichbarkeit seiner Privatwohnung mit Polizei-, Brandbekämpfungs- und Rettungsfahrzeugen möglicherweise nicht hinreichend gewährleistet. |
8. |
2. Die beanstandete Maßnahme ist zum Schutz eines der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit gleichwertigen Rechtsgutes erforderlich; der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht verletzt (vgl. BVerfGE 69, 315 [342ff., 349] = NJW 1985, 2395 – Demonstration Kernkraftwerk Brokdorf –). Der nach Art. 2 I GG gebotene Schutz des unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung rechtfertigt grundsätzlich das Verbot einer in Ausübung der Grundrechte der Art. 5 I 1, 8 I GG beabsichtigten Kundgebung von einiger Dauer, die unmittelbar vor der Privatwohnung einer herausgehobenen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens stattfinden soll. So ist es auch hier. Das Verbot der beabsichtigten Kundgebung ist notwendig, um das Grundrecht des Bundeskanzlers und der Angehörigen seiner Familie auf freie Entfaltung ihrer Person wirksam zu schützen. Das ergibt sich aus folgendem: |
9. |
Art. 2 I GG gewährt dem einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen einen "Innenraum", in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat und in dem er in Ruhe gelassen wird (vgl. BVerfGE 6, 32 [41] = NJW 1959, 297 – Elfes –; BVerfGE 27, 1 [6] = NJW 1969, 1707 – Mikrozensus – BVerfGE 32, 373 [378f.] = NJW 1972, 1123 – Patientenkartei – BVerfGE 54, 143 [146] = NJW 1980, 2572 – Taubenfütterungsverbot –). Dieser jedem Bürger zustehende unantastbare private Bereich gebührt auch und gerade den herausgehobenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Sie stehen unter der ständigen Beobachtung der Öffentlichkeit und haben die Schärfen und Übersteigerungen des öffentlichen Meinungskampfs im Interesse der Kraft und Vielfalt der öffentlichen Diskussion, die ihrerseits Grundbedingung eines freiheitlichen Gemeinwesens ist, grundsätzlich hinzunehmen (vgl. BVerfGE 54, 129 [138f.] = NJW 1980, 2572; BVerfGE 61, 1 [7ff.] = NJW 1983, 1415; B VerfGE 68, 226 [232] = NJW 1985, 787). Um so mehr bedürfen sie andererseits des wirksamen Schutzes ihrer Privatsphäre, zu der vor allem der räumlich-gegenständliche Bereich von Ehe und Familie, insbesondere also die Pr ivatwohnung, zählt; dort müssen sie neue Kraft schöpfen können, um in ihrem Amt oder in ihrer Funktion zu bestehen. Der danach gebotene Schutz fordert auch das Freihalten der unmittelbaren Umgebung der Privatwohnung von solchen Kundgebungen von einiger Dauer, die der aktiven Teilnahme am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß dienen und Bezug zur öffentlichen Tätigkeit des Betroffenen haben; denn diese würden einen unmittelbar auf seinen privaten Bereich wirkenden, mit dem Grundrecht des Art. 2 I GG nicht zu vereinbarenden psychischen Druck ("Belagerungssituation") erzeugen (vgl. hierzu auch BVerfGE 27, 1 [6f.] = NJW 1969, 1707). |
10. |
Die Grundrechte der Art. 5 I 1, 8 I GG werden nicht unverhältnismäßig eingeschränkt: Die ursprünglich beabsichtigte Demonstration in der Ortsmitte des Stadtteils O. darf durchgeführt werden. Die Demonstranten sind auch berechtigt, die A-Straße zu benutzen, die in der näheren Umgebung der Privatwohnung des Bundeskanzlers verläuft. Damit ist dem Zweck der genannten Verfassungsbestimmungen, die auf Kommunikation angelegte Entfaltung der Demonstrationsteilnehmer zu schützen (vgl. BVerfGE 69, 315 [342f.] = NJW 1985, 2395), genügt; insbesondere wird das Ziel der Demonstration nicht tatsächlich verhindert oder beeinträchtigt (vgl. Dietel-Gintzel, aaO, § 15 VersammlG Rdnr. 17). Unerheblich ist dabei, ob sie in der Öffentlichkeit die besondere Beachtung findet, die sie dann möglicherweise fände, wenn sie unmittelbar vor der Privatwohnung des Bundeskanzlers mit einer Kundgebung endete: Ein bestimmter Beachtungserfolg einer Demonstration ist verfassungsrechtlich nicht gewährleistet (vgl. auch Dietel-Gintzel, aaO, § 15 VersammlG Rdnr. 50 [S. 155]). Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die Ast. und die anderen Teilnehmer der beabsichtigten Kundgebung vor dem Wohnhaus des Bundeskanzlers den Schutz der Art. 5 I 1, 8 I GG nur in eingeschränktem Maße für sich beanspruchen können: Der Stellenwert dieser verfassungsrechtlichen Gewährleistungen wird vor allem durch zwei Faktoren bestimmt, nämlich den Zweck einer Meinungskundgabe und das Mittel, durch welches ein solcher Zweck verfolgt wird. Ziel der Kundgebung ist zwar – wie dargelegt –, zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage beizutragen, so daß von daher eine Beeinträchtigung der Rechtspositionen Dritter hinzunehmen wäre. Das hierzu eingesetzte Mittel ist indes die bewußte und gewollte unmittelbar störende Einwirkung auf den unantastbaren privaten Bereich des Betroffenen; ein derartiges Mittel verdient indes angesichts der von der Verfassung dem Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit zugewiesenen herausragenden Bedeutung regelmäßig keinen Schutz (zum Ganzen vgl. BVerfGE 6l, 1 [11] = NJW 1983, 1415; BVerfGE 66, 116 [139] = NJW 1984, 1741 – Wallraff–). |
11. |
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert vorliegend schließlich nicht, eine mildere Maßnahme zu ergreifen: Die Auflage, die Kundgebung in einer dem Schutzzweck des Art. 2 I GG genügenden Entfernung von der Privatwohnung des Bundeskanzlers durchzuführen, ist jedenfalls angesichts der entgegenstehenden, ausdrücklich erklärten Absicht der Ast. ausgeschlossen. |
12. |
3. Die Ermessensbetätigung nach § 15 I VersammlG läßt keinen Rechtsfehler erkennen. Eine andere Entscheidung als das Verbot der in Rede stehenden Kundgebung kam schon im Hinblick auf das Ergebnis der im Rahmen der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 I VersammlG vorgenommenen umfassenden Rechtsgüterabwägung nicht in Betracht. |