Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss vom 28.10.1997
- 2 S 610/97
-

 (weitere Fundstellen: DÖV 1998, 118 f.)

 

 

Tatbestand

1.

Die bisher übliche deutsche Rechtschreibung basiert auf den Beschlüssen der Staatlichen Orthographiekonferenz von 1901. Für den schulischen Bereich wurden die damals beschlossenen orthographischen Regeln auf dem Erlaßwege eingeführt. Weitgehende Bedeutung erlangte darüber hinaus das 1880 herausgegebene Wörterbuch von Konrad Duden. Dieses Werk wurde ständig neu bearbeitet und dem veränderten Sprachgebrauch angepaßt. 1955 beschloß die Ständige Konferenz der Kultusminister und -senatoren der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz), daß die in der Rechtschreibreform von 1901 und den späteren Verfügungen festgelegten Schreibweisen und Regeln für die Rechtschreibung auch heute noch für die deutsche Rechtschreibung verbindlich seien.

2.

Liner Neuregelung seien diese Regeln die Grundlage für Unterricht in allen Schulen. In Zweifelsfällen seien die im „Duden" gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich. Seit den 50er Jahren gibt es in Deutschland und den anderen deutschsprachigen Ländern Bestrebungen zu einer Rechtschreibreform. Im Rahmen dieser Bestrebungen wurden verschiedene Reformvorschläge mit zum Teil weitreichenden Änderungen der Rechtschreibung gemacht. Die Rechtschreibreform, die Gegenstand des vorl. Verfahrens ist, geht auf die Beschlüsse der Orthographiekonferenz, die vom 22. bis 24. 11. 1994 in Wien stattfand, zurück. An dieser Konferenz nahmen Fachleute und Vertreter staatlicher Stellen aus Deutschland, Osterreich und der Schweiz teil. Am 30. 11./1. 12. 1995 traf die Kultusministerkonferenz in Mainz einen zustimmenden Beschluß. Mit der am 27. 8. 1996 in Kraft getretenen Verwaltungsvorschrift zur Umsetzung des Beschlusses der Kultusministerkonferenz v. 1. 12. 1995 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung v. 5. 8. 1996 (Amtsblatt des SMK 1996, S.374) ordnete das Sächsische Kultusministerium die Einführung der neuen Rechtschreibung an den Schulen des Freistaates Sachsen an. – Ast. im vorl. Verfahren sind ein Schüler und dessen Eltern. Ihr Antrag gemäß § 123 VwGO war in beiden Instanzen erfolgreich.

 

Aus den Gründen:

3.

Die Einführung der neuen Rechtschreibregeln ist eine schulorganisatorische Maßnahme. Das GG hat das allgemeine Schulwesen – vorbehaltlich eines Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung gemäß Art. 91 a GG – der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder zugewiesen. Der Hund hat auf diesem Gebiet weder eine Gesetzgebungsbefugnis (Art. 70 ff. GG) noch eine Verwaltungskompetenz (Art. 30 GG). Daraus ergibt sich eine weitgehende eigenständige Gestaltungsfreiheit der Länder bei der Festlegung der Schulorganisation sowie der Erziehungsprinzipien und Unterrichtsgegenstände, die nur eingeschränkt ist, soweit übergeordnete Normen des Grundgesetzes ihr Grenzen setzen (BVerfGE 53, 185, 196). Der Freistaat Sachsen hat von dieser Gestaltungsfreiheit Gebrauch gemacht. Er hat in Art. 103 Abs. 1 SächsVerf das gesamte Schulwesen unter seine Aufsicht gestellt. Das steht mit dem wortgleichen Art. 7 Abs. 1 GG im Einklang. Danach besitzt der Staat die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet (BVerfGE 34, 165, 182). Zu diesem staatlichen Gestaltungsbereich gehören die organisatorische Gliederung der Schule, die inhaltliche Festlegung der Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele sowie die Bestimmung des Unterrichtsstoffes (BVerfGE 34, 165, 182; 45, 400, 415; BVerwGE 47, 185, 198, BVerwG, NJW 1981, S. 1056). Es ist daher grundsätzlich Sache des Staates und der für ihn handelnden Behörden, darüber zu entscheiden, was den Schülern im Unterricht vermittelt wird ... [wird ausgeführt]

4.

Erhebliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung und deren Vermittlung im Schulunterricht bestehen schon deshalb, weil viel dafür spricht, daß die Sprache einschließlich der Rechtschreibung inhaltlich im wesentlichen nicht von der hoheitlichen Regelungsgewalt erfaßt wird (ebenso: Mahrenholz, SZ v. 23/24. 8. 1997, S. 8; vgl. auch OVG Lüneburg, Beschl. v. 17. 10. 1997 – 13 M 4160/97 –).

5.

Die Sprache als die Fähigkeit zu sprechen und sich in der menschlichen Gesellschaft durch gesprochene oder geschriebene Worte verständlich zu machen und mit anderen zu kommunizieren, ist in erster Linie ein soziokulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Für die Sprechsprache liegt das auf der Hand. Sie wird vom Kind in mehreren Stadien der Sprachentwicklung natürlich erworben und im Laufe der Zeit durch die Umweltbeziehungen, die der Mensch in Familie, Beruf, Staat und Gesellschaft eingeht, in Lautung, Wortgebrauch, Wortschatz und Satzbau verändert. Abweichungen von der überkommenen Sprache gehen dabei in der Regel von einzelnen Menschen in einzelnen Sprechakten aus. Dadurch, daß sie nachgeahmt werden und allgemein durchdringen, verändern sie den Sprachgebrauch der Gemeinschaft. Ihre Verbreitung und Durchsetzung hängt stark vom Ansehen ihres Urhebers und dem Kreis derer ab, die sie zuerst aufnehmen. Änderungen des gesellschaftlichen, sozialen und politischen Gefüges führen daher häufig zu einem Sprachwandel. Danach vollziehen sich Veränderungen der Sprachgestalt innerhalb der Sprachgemeinschaft. Das heißt, sie gehen vom Sprachvolk als dem natürlichen Sachwalter der Sprache und nicht vorn Staat aus. Für die Schriftsprache gilt im Ergebnis nichts anderes. Sie ist zwar kein bloßes Abbild der sich außerhalb der unmittelbaren staatlichen Einflußsphäre entwickelnden Sprechsprache, sondern ein relativ selbständiges sprachliches Medium (vgl. Kopke, NJW 1997, S. 1081, 1083 m. w. N.), dessen Schreib-, Worttrennungs- und Zeichensetzungsregeln bewußt erarbeitet und im Jahr 1901 zunächst von außen auf dem Erlaßwege eingeführt wurden. Gleichwohl verläuft auch ihre Weiterentwicklung primär in gesellschaftlichen Bahnen. Dies wird besonders daran deutlich, daß die Schriftsprache seit der Orthographischen Konferenz von 1901 und deren Umsetzung im Schulwesen, vor allem hinsichtlich der Schreibweise von Wörtern, zahlreichen Wandlungen unterworfen war, die nicht auf staatliche Einwirkungen, sondern auf Veränderungen im Gebrauch zurückzuführen sind. Eine weitere Gemeinsamkeit von Sprech- und Schriftsprache, die auf deren außerstaatliche Fortbildung hinweist, ist die Tatsache, daß sich auch in der Schriftsprache letztlich nur das an Neuem durchsetzt, was allgemeine Akzeptanz findet. Denn alle, die bereits lesen und schreiben können, haben die bisherige Rechtschreibung verinnerlicht (BVerfG, NJW 1996, S. 2221, 2222). Sie werden sich – zumindest in ihrem privaten Schriftverkehr – nur dann veränderten Schreibregeln anpassen, wenn sie von deren Richtigkeit und Notwendigkeit überzeugt sind.

6.

Von diesem Ansatzpunkt geht auch Löwer bei der Sachverständigenanhörung durch den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 2. 6. 1997 aus (vgl. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Rechtsausschuß, Prot. Nr. 86, S. 19 und 30). Er meint, daß die Sprache wie das Gewohnheitsrecht dem Volke gehöre und deshalb an sich einem hoheitlichen Regelungszugriff entzogen sei. Das heiße nicht, daß den Staat die Sprache nichts anginge. Zum einen sei der Staat selbst Anwender der Sprache. Zum anderen brauche die Schule eine normierte Sprache, welche die Kinder erlernen könnten. Eine schulbezogene Rechtschreibreform sei demnach grundsätzlich zulässig. Allerdings dürfe sie nur das nachvollziehen, was schon „unterwegs" sei. „Avantgardistische Effekte", die auf zukünftige Veränderungen zielten, die keiner wolle, seien ihr versagt. Nach Mahrenholz (a. a. O.) ist weder die gesprochene noch die geschriebene Sprache Verfügungsgut des Staates. Die Sprache habe eine Geschichte, in der sie eine bestimmte Gestalt gewonnen habe. Sie sei jeweils zur eigenen Sprache geworden, in der der Mensch etwas aufnehme und sich mitteile. Insofern gebe es kein Recht über die Schule die Gesellschaft anzuleiten, wie sie richtig zu schreiben habe. Dies sei aber unausweichliche Folge der Änderung der zu lehrenden Schriftsprache an den Schulen. Auch Kirchhof (in: Isensee/Kirchhof, HdbStR, Band I, S. 745 ff.) wendet sich gegen eine staatliche Sprachbeeinflussung und Sprachlenkung. Die Sprache sei ein im Gemeingebrauch stehendes Gut (Rn. 15). Die Bundesrepublik Deutschland baue auf einer vorgefundenen, natürlichen, deutschsprachigen Gemeinsamkeit der in ihrem Gebiet lebenden Menschen auf (Rn. 30). „Deutsch" sei als Umgangs- und Staatssprache das Mittel, das den einzelnen in die Kultur- und Rechtsgemeinschaft einbinde (Rn. 50), und Entfaltungsbedingung für die individuelle Freiheit (Rn. 51). Zugleich sei sie ein wesentliches Stück Lebenswirklichkeit und Daseinsform. Der Staat habe deshalb die Aufgabe der Sprachpflege. Er müsse die Sprache in ihrem Bestand wahren und in ihren Entwicklungsmöglichkeiten fördern (Rn. 51). Sprachbeeinflussung durch eine Planung von Sprachentwicklungen, z. B. durch eine Reform der Schreibweise, sei von diesem Auftrag nicht erfaßt (Rn. 52).

7.

Unter Berücksichtigung dieser unter dem Vorbehalt einer abschließenden Überprüfung im Hauptsacheverfahren stehenden Erkenntnisse dürfte der Staat mit der Neuregelung der Rechtschreibung den Bereich verlassen haben, in dem er sich noch der Sprache annehmen kann. Denn es bestehen derzeit keine Anhaltspunkte dafür, daß die einschneidenden und alle wesentlichen Teilbereiche der Orthographie betreffenden Änderungen der bisherigen Regeln zur Laut-Buchstaben-Zuordnung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Schreibung mit Bindestrich, Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Worttrennung ihren Ursprung in einem sich dahin entwickelnden Schreibverhalten des deutschen Sprachvolkes haben. Nicht nur die zahlreichen und massiven Einwendungen gegen die Reform seitens derer die sich tagtäglich der Schriftsprache bedienen, wie Schriftsteller, Verleger, Sprachwissenschaftler und Juristen (vgl. statt vieler: Grass, in: Zabel, Widerworte, 1997, S. 8; Gellberg, in: Prot. der 86, Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, S. 9 ff.; Ickler ebenda, S. 15 ff.; Mahrenholz, a. a. O.), sondern auch die Ausführungen im Vorwort zum amtlichen Regelwerk selbst deuten darauf hin, daß die Rechtsehreibreform nicht an etwas anknüpft, was in der Sprachgemeinschaft schon „unterwegs" ist. Dort ist unter den Grundsätzen der neuen Regelung nicht etwa – wie anderenfalls nahegelegen hätte – von einer Anpassung an einen sich abzeichnenden oder bereits veränderten Sprachgebrauch, sondern vielmehr von der „Abschaffung‘ einer Reihe von Ausnahmen und Besonderheiten und der „Ausdehnung" des Geltungsbereichs der Grundregeln die Rede. Die Auffassung, daß mit der Einführung der neuen Rechtschreibregeln nicht lediglich im Gange befindliche Veränderungen der Schriftsprache begleitet und fortgeführt werden, wird durch die Ergebnisse der Anhörung vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages nicht widerlegt. Denn die von Löwer wiederholt aufgeworfene und von der Abgeordneten Hartenstein aufgegriffene Frage (vgl. Prot. Nt 86, a. a. O., S. 39) nach dem Nachvollziehen schriftsprachlicher Veränderungen durch die Neuregelung blieb selbst durch die anwesenden Sprachwissenschaftler unbeantwortet.

8.

Da sich der Staat nach alledem voraussichtlich mangels Kompetenz für die von ihm angestrebte Neuregelung der Rechtschreibung nicht im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung bewegt, [dürften die Ast. in ihren Rechten verletzt sein.]

9.

Sollte die Rechtschreibung, soweit sie infolge des Beschlusses der Kultusministerkonferenz v. 30. l1./1.12. 1995 und der darauf beruhenden Verwaltungsvorschrift v. 5. 8. 1996 einer Änderung unterzogen werden soll, trotz der vom Senat vertretenen Ansicht staatlich reglementierbar sein, so müßte die verbindliche Einführung der geänderten Schreibregeln in den Unterricht jedenfalls in einer dem Vorbehalt des Gesetzes entsprechenden Art und Weise geschehen. Die Bestimmung der Unterrichtsinhalte im einzelnen, insbesondere für ein ethisch, weltanschaulich und religiös indifferentes Fach, ist zwar grundsätzlich dem staatlichen Gestaltungsbereich zugewiesen. Auch dürfte weitgehend anerkannt. sein, daß die Schulen – selbst hei Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung – die Aufgabe haben, den Schülern nicht nur das überkommene Bildungsgut weiterzugeben, sondern – wie das in § 2 Abs. 2 des Bay Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen ausdrücklich geregelt ist – auch Neues für die Schule lebendig zu machen. Jedoch findet auch dies nicht im rechtsfreien Raum statt. Die rechtlichen Bindungen, die dabei beachtet werden müssen, sind in einem Rechtsstaat den geltenden Gesetzen – vor allem dem GG und den Landesverfassungen (vgl. § 1 Abs. 2 S. 2 SächsSchulG) – zu entnehmen ... Mit der Unterrichtung der neuen Rechtschreibregeln dürfte der Schule eine weitere, vom bisherigen Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht erfaßte Aufgabe übertragen worden sein.

10.

In der Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung (Wiener Absichtserklärung) vom 1. 7. 1996 haben die Unterzeichner, unter diesen ein Vertreter der Kultusministerkonferenz, bekundet, sich innerhalb ihres Wirkungskreises für dir Umsetzung des die neuen Schreibregeln beinhaltenden und als „Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis" bezeichneten amtlichen Regelwerks einzusetzen (Art. 2). Dieses soll nach seinem Vorwort die Rechtschreibung innerhalb derjenigen Institutionen regeln, für die der Staat Regelungskompetenz besitzt. Nach dem dort zu findenden Klammerzusatz war dabei hinsichtlich der Anwender der neuen Regeln vor allem an Schule und Verwaltung gedacht. Das erscheint – eine die Rechtschreibung betreffende staatliche Regelungskompetenz überhaupt unterstellt (s. o.) – zunächst hinsichtlich des hier allein zu prüfenden Schulwesens rechtlich unbedenklich. Darüber hinaus hat es sich das amtliche Regelwerk aber auch ausdrücklich zur Aufgabe gemacht, zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung beizutragen. In diesem Sinne mißt es sich für die schreibende Bevölkerung „Vorbildcharakter" bei. Wie es dieser Aufgabe in erster Linie nur gerecht werden kann, ist mangels allgemeiner staatlicher Regelungskompetenz und im Hinblick darauf, für welche Institutionen es Verbindlichkeit beansprucht, offensichtlich – nämlich durch Unterrichtung der neuen Schreibregeln in der Schule. Dort wird die neue Schriftsprache gelehrt und – vermittelt durch die Schüler, die sich ihrer jetzt und später in Beruf und Alltag bedienen – in die Gesellschaft getragen. Eine derartige Instrumentalisierung der Schule und der Schüler zum Mittel der Sprachbeeinflussung ist der bisherigen Rechtsordnung fremd. Sie stellt eine wesentliche bildungs- und schulpolitische Grundentscheidung allgemeiner Art dar und bedarf somit zumindest einer gesetzgeberischen Leitentscheidung. An der fehlt es bisher, so daß die Unterrichtung der neuen Schreibregeln gegen das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip verstoßen dürfte.