Oberlandesgericht Karlsruhe
Beschluss vom 4.5.2000
- 2 Ss 166/99
-

 (weitere Fundstellen: NStZ-RR 2000, 309 f.)

 

Leitsatz:

 

Wer sich unbekleidet auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen, in denen die Begegnung mit nackten Menschen nicht zu erwarten ist, in einer Weise aufhält, daß er anderen Benutzern den Anblick seines nackten Körpers aufdrängt, handelt ordnungswidrig iSv § 118 OWiG.

 

Aus den Gründen:

1.

Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts ... vom 20.07.1999 wegen Belästigung der Allgemeinheit in vier Fällen unter Einstellung eines weiteren Falles zu Geldbußen von jeweils 600 DM verurteilt. Der Entscheidung lag zugrunde, dass er bei vier Gelegenheiten jeweils bis auf Strümpfe und Schuhe unbekleidet im Stadtgebiet von ... - am 16. und 26.03.1999 auf der ... straße, am 18.03.1999 auf der ... straße und am 29.03.1999 ... am ... - umherlief. Seine nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde, über die der Senat gem. § 80 a Abs. 3 OWiG in der Besetzung mit drei Richtern zur Fortbildung des Rechts zu entscheiden hatte, erwies sich als erfolglos.

2.

Soweit der Beschwerdeführer das Verfahren beanstandet, ist schon die Formvorschrift des § 345 Abs. 2 StPO, die nach § 79 Abs. 3 OWiG auch für das Rechtsbeschwerdeverfahren gilt, nicht beachtet. Denn die nach dem Schriftbild ersichtlich von dem Betroffenen selbst stammende und von dem Rechtspfleger lediglich mit einem Eingangssatz und seiner Unterschrift versehene Rechtsbeschwerdebegründung erfüllt nicht die Voraussetzungen, die an eine Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle gestellt werden. Die Rechtsprechung hat die Vorschrift des § 345 Abs. 2 StPO seit jeher dahin ausgelegt, dass sich die Beteiligung des Urkundsbeamten nicht nur in einer formellen Beurkundung des vom Beschwerdeführer Vorgebrachten erschöpfen darf, sondern dass der Urkundsbeamte sich an der Anfertigung der Begründung gestaltend beteiligen und die Verantwortung für ihren Inhalt übernehmen muss. Demnach wird die Begründung regelmäßig als unzulässig erachtet, wenn der Urkundsbeamte sich darauf beschränkt, einen ihm überreichten Schriftsatz lediglich mit den üblichen Eingangs- und Schlussformeln eines Protokolls zu umkleiden (vgl. nur BGH NStZ-RR 1997, 8 f; OLG Stuttgart NStZ-RR 1998, 22). Damit ist eine zulässige Verfahrensrüge nicht erhoben.

3.

Die danach allein auf die zulässig erhobene allgemeine Sachrüge zu beschränkende sachliche Überprüfung des Urteils läßt Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen nicht erkennen. Zunächst bestehen gegen die Verfassungsgemäßheit des § 118 OWiG keine Bedenken. Die Vorschrift ist als Ersatzvorschrift für § 360 Abs. 1 Nr. 11 Alt. 2 StGB a.F. (grober Unfug) in das Gesetz aufgenommen worden. Da das BVerfG (vgl. BVerfGE 26, 41,43) diese Bestimmung mit Art. 103 Abs. 2 GG für vereinbar erklärt hat, kann es deshalb für die Rechtspraxis nicht zweifelhaft sein, dass § 118 OWiG in gleicher Weise dem Bestimmtheitsgebot entspricht (KG NStE Nr. 1 zu § 118 OWiG; Göhler OWiG 12. Aufl. § 118 Rdn. 1; Senge in KK OWiG § 118 Rdn. 1).

4.

Die beanstandeten Handlungen des Beschwerdeführers erfüllen auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 118 Abs. 1 OWiG. Nach dieser Vorschrift handelt ordnungswidrig, wer "eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen".

5.

Voraussetzung der Anwendung des § 118 OWiG ist also zunächst, dass der Betroffene eine grob ungehörige Handlung begangen hat. Darunter fällt nicht jeder störende Eingriff in die unter dem Schutze der öffentlichen Ordnung stehenden Interessen und Rechte Dritter. Erforderlich ist vielmehr, dass das Publikum in seiner unbestimmten Allgemeinheit unmittelbar belästigt oder gefährdet wird, und zwar dergestalt, dass in dieser Belästigung oder Gefährdung zugleich eine Verletzung oder Gefährdung des äußeren Bestandes der öffentlichen Ordnung zur Erscheinung kommt (BVerfGE 26, 43). Das ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Handlung in einem so deutlichen Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung steht, dass sie jeder billig denkende Bürger als eine grobe Rücksichtslosigkeit gegenüber jedem Mitbürger ansehen würde, sie sich also gleichsam als eine Missachtung der durch die Gemeinschaftsordnung geschützten Interessen darstellt (BGHSt 13, 241,244; KG NStE Nr. 1 zu § 118 OWiG; OLG Karlsruhe NJW 1970, 64). Zu dieser Gemeinschaftsordnung rechnen die anerkannten Regeln und Einrichtungen, die im äußeren Zusammenleben der Menschen die schutzwürdigen Interessen der einzelnen wahren sollen. Solch ein schutzwürdiges Interesse ist auch das Schamgefühl (BayObLG JZ 1977, 277 f). Das geschlechtliche Schamgefühl des Menschen bezieht sich nicht allein auf die das Geschlecht bestimmenden Körperteile selbst oder auf geschlechtliche Vorgänge. Auch die Nacktheit des menschlichen Körpers wird vom menschlichen Schamgefühl einbezogen und geschützt. In der Schamhaftigkeit offenbart sich vor allem die Scheu des Menschen, die eigene Nacktheit unberufenen fremden Blicken auszusetzen (BGHSt 1, 288 ff, 290). Ihr kann es aber auch widerstreben, mit nackten fremden Menschen konfrontiert zu werden. Die Anschauungen darüber, ob das Schamgefühl der Allgemeinheit in diesem Sinne tangiert wird, sind freilich zeitbedingt und damit dem Wandel unterworfen. Doch hat die Rechtsprechung sich nicht nach den Auffassungen besonders prüder oder ungewöhnlich großzügiger Kreise zu richten (BGHSt 3, 295; 23, 40 ff). Allerdings sind tiefgreifende und nachhaltige Änderungen der sittlichen Wertvorstellungen der Allgemeinheit, die von einer gegenüber früheren Zeiten unbefangeneren und freieren Auffassung hinsichtlich der Konfrontation mit menschlicher Nacktheit gekennzeichnet sind, zu berücksichtigen. Maßgeblich für die Beurteilung, ob das nackte Auftreten in der Öffentlichkeit die in der ungeschriebenen Gemeinschaftsordnung verankerte Toleranzgrenze überschreitet, ist, dass die zu bewertende Handlung objektiv jenes Minimum an Regeln grob verletzt, ohne deren Beachtung auch eine für Entwicklungen offene Gesellschaft nicht auskommt (Senge in KK-OWiG § 118 Rdn. 6; ders. in Erbs-Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze OWiG § 118 Rdn. 5). Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalles. So hat hinsichtlich nackten Badens an Stränden oder in Schwimmbädern, auch wenn es sich nicht um ein abgeschlossenes FKK-Areal handelt, gegenüber früheren Zeiten eine unbefangenere und freiere Einstellung breiten Raum gewonnen. Ob insoweit noch eine ungehörige Handlung im Sinne des § 118 OWiG angenommen werden könnte, bedarf jedoch vorliegend keiner Entscheidung. Denn das - wie vorliegend geschehen - unbekleidete Präsentieren eines menschlichen Körpers auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen steht jedenfalls nach wie vor regelmäßig im Gegensatz zu den allgemein anerkannten Regeln der ungeschriebenen Gemeinschaftsordnung (vgl. Rebmann/Roth/Herrmann OWiG § 118 Rdn. 5). Denn hier wird das Scham- und Anstandsgefühl der sich ungewollt mit fremder Nacktheit konfrontierten Menschen nachhaltig tangiert. Unter Berücksichtigung der aufgezeigten Maßstäbe stellt sich das beanstandete Nacktjoggen durch den Beschwerdeführer als eine Verletzung des natürlichen, nicht übertriebenen Schamgefühls der betroffenen Allgemeinheit dar. Das Verhalten des Beschwerdeführers ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass er Benutzern öffentlicher Straßen und Wege den Anblick seines nackten Körpers aufdrängt, ohne dass diese frei entscheiden könnten, ob sie mit seinem Anblick konfrontiert werden wollen oder nicht. Gerade die unfreiwillige Konfrontation an Orten, an denen die Begegnung mit nackten Menschen nicht zu erwarten ist, berührt aber auch nach heute noch allgemein vorherrschender Vorstellung das Schamgefühl in besonderer Weise (vgl. OVG Münster DÖV 1996, 1052). Hierbei steht der Annahme der Unfreiwilligkeit der Konfrontation nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer nach den Urteilsfeststellungen sein Auftreten am ... im Rahmen einer Briefkastenaktion mit "mehreren tausend Flugblättern" angekündigt hatte. Unerheblich ist, ob die Adressaten den Inhalt überhaupt zur Kenntnis genommen haben. Denn es kann nicht darauf ankommen, ob der Ordnungsverstoß einem individuell abgegrenzten Personenkreis im voraus bekanntgemacht wurde. Die grobe Ungehörigkeit der Handlungen des Beschwerdeführers war gegen die Allgemeinheit, d.h. eine unbestimmte, nicht individuell abgegrenzte Mehrheit von Personen, gerichtet. Die Erfüllung des Tatbestandes des § 118 Abs. 1 OWiG, dessen einzelnen Merkmale sich überschneiden (vgl. Senge in KK-OWiG aaO Rdn. 4; ders. in Erbs-Kohlhaas aaO Rdn. 4), ist folglich auch daran zu bemessen, ob die Handlung geeignet ist, gerade die Allgemeinheit zu belästigen. Dass ein Teil der durch die Flugblattaktion vorab informierten Anwohner eine Begegnung mit dem unbekleideten Beschwerdeführer billigend, gleichgültig oder belustigend hingenommen hätte, ist daher rechtlich ebenso ohne Belang wie die Frage, ob die Allgemeinheit sein Auftreten überhaupt wahrnahm.

6.

Den Urteilsgründen kann auch hinreichend entnommen werden, dass die von dem Beschwerdeführer begangenen grob ungehörigen Handlungen alle geeignet waren, die Allgemeinheit unmittelbar zu belästigen und zugleich die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Denn bei objektiver Betrachtungsweise konnte das Verhalten des Beschwerdeführers einer ihm begegnenden Person ein nicht nur geringfügiges Unbehagen bereiten. Im Fall der am 29.03.1999 begangenen Tat hat sich die abstrakte Eignung nach den tatgerichtlichen Feststellungen auch in der Weise konkretisiert, dass ein elfjähriges Mädchen bei seinem Anblick verängstigt reagierte, obwohl es zuvor bereits von den Aktivitäten des Beschwerdeführers gehört hatte. Dass nach den Urteilsgründen offen ist, ob sich auch im übrigen Anwesende durch das Nacktjoggen belästigt fühlten oder an ihm Anstoß nahmen, ist für die Entscheidung der Frage, ob eine Eignung zur Belästigung vorliegt, unerheblich. Der Beschwerdeführer kann sich daher auch in diesem Zusammenhang nicht mit Erfolg darauf berufen, dass er seine Haltung einem Teil der Öffentlichkeit bekannt gemacht habe, da zur Tatbestandserfüllung allein die Eignung zur Belästigung der Allgemeinheit vorliegen muss. Hierbei kommt es nur auf das Werturteil an, das die Gesamtheit des an der Verkehrssitte interessierten Publikums über den Vorgang fällt (BayObLG JZ 1977, 278). Ebenso hat das Amtsgericht vorliegend in allen Fällen rechtsfehlerfrei die Eignung der Handlungen des Beschwerdeführers zur Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung bejaht. Der Begriff der öffentlichen Ordnung, der in Art. 13 Abs. 7 GG und Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG seine verfassungsrechtliche Anerkennung gefunden hat, umfasst die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird. Ob ein nacktes Auftreten in der Öffentlichkeit gegen die herrschenden Anschauungen über die unerlässlichen Voraussetzungen eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens verstößt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalles, insbesondere der jeweiligen Örtlichkeit, dem situativen Rahmen sowie gegebenenfalls Anlass und Zweck des Nacktseins ab (OVG Münster aaO S. 1052 f). Vorliegend präsentierte sich der Beschwerdeführer in allen Fällen innerhalb eines Wohn- oder Naherholungsgebietes zu Zeiten, an denen damit zu rechnen war, dass andere Personen mit seinem nackten Körper konfrontiert und dadurch provoziert wurden. Der Anblick seines entblößten Gliedes war auch objektiv geeignet, einen anderen in seinem Empfinden nicht unerheblich zu beeinträchtigen, d.h. Abscheu, Ekel, Schock, Schrecken oder Verletzung des Schamgefühls hervorzurufen. Damit setzte der Beschwerdeführer jeweils zugleich den Anschein exhibitionistischer Handlungen nach § 183 StGB, wodurch er zusätzlich ein geordnetes soziales Zusammenleben, mithin die öffentliche Ordnung, störte (vgl. nur Senge in KK OWiG aaO Rdn. 2).

7.

Die Urteilsgründe weisen auch den subjektiven Tatbestand der Zuwiderhandlungen mit hinreichender Klarheit aus. Insbesondere ist danach ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer einem unvermeidbaren Verbotsirrtum erlegen sein könnte. Nach den Feststellungen war er erst am 29.01.1999 im Rahmen eines gegen ihn anhängigen Strafverfahrens richterlich belehrt und insbesondere auf die Ordnungswidrigkeit seines Tuns hingewiesen worden. Bei dieser Sachlage durfte er sich auf seine laienhafte rechtliche Bewertung nicht verlassen.

8.

Soweit der Beschwerdeführer sich gegen die Festsetzung der Höhe der verhängten Geldbußen wendet, hat die Nachprüfung aufgrund der Rechtsbeschwerderechtfertigung ebenso keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 und 3 StPO).

9.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.