Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des 1. Senats)
Beschluss vom 30. Dezember
1997
- 1 BvR 2368/97 -

(weitere Fundstellen: NJW 1998, 1217 f.)

 

 

Gründe:

1.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein verwaltungsgerichtliches Eilverfahren gegen die sogenannte Rechtschreibreform.

 

I.

 

1.

2.

Die Beschwerdeführerin ist die allein sorgeberechtigte Mutter dreier schulpflichtiger Töchter, von denen zwei die 1. und 3. Klasse einer Grundschule in Nordrhein-Westfalen, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, besuchen. Die Beschwerdeführerin ist nicht damit einverstanden, daß die beiden Kinder - auf der Grundlage des Beschlusses der Kultusministerkonferenz vom 30. November/1. Dezember 1995 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung und nach näherer Maßgabe eines diesen Beschluß umsetzenden Runderlasses des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom

3.

2. Juli 1996 sowie eines Beschlusses der Grundschule - nach den Regeln der Rechtschreibreform unterrichtet werden. Auf ihren Antrag untersagte das Verwaltungsgericht der Antragsgegnerin vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in einem noch durchzuführenden Klageverfahren, längstens bis zum Ende des Schuljahres 1997/98, die beiden Töchter der Beschwerdeführerin nach der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zu unterrichten.

 

2.

4.

Das Oberverwaltungsgericht hat den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung dagegen abgelehnt, im wesentlichen aus folgenden Gründen: Zwar bestünden erhebliche Bedenken dagegen, daß der derzeit von der Antragsgegnerin erteilte Rechtschreibunterricht mit höherrangigem Recht in Einklang stehe. Es spreche viel dafür, daß eine Unterrichtung allein in der neuen Schreibweise rechtswidrig wäre und auch Rechte der Beschwerdeführerin verletzen würde. Doch könne die Frage eines Anordnungsanspruchs der Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Hier fehle es für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung an einem Anordnungsgrund, der von seinem Gewicht her die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen könnte. Maßgeblich hierfür sei zunächst, daß die Kinder der Beschwerdeführerin im Unterricht tatsächlich auch mit der alten Schreibweise in Berührung kämen. Die Antragsgegnerin habe für den Rechtschreibunterricht in der 1. Klasse Fibeln und Arbeitshefte und in der

 

3.

5.

Klasse Lese- und Sprachbücher ausgegeben, die nach der alten Rechtschreibung verfaßt seien. Änderungen, die durch die neue Schreibweise bedingt seien, würden durch Ausgabe zusätzlicher Arbeitsblätter in den Unterricht eingeführt. In der

 

3.

6.

Klasse würden die Schüler zum Teil auch angehalten, die Änderungen statt dessen in die Bücher einzutragen. Schon deshalb werde den Kindern zwangsläufig auch die alte Schreibung zur Kenntnis gebracht. Von besonderem Gewicht sei ferner, daß sich der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens auf den Zeitraum bis zur Beendigung des laufenden Schuljahres beschränke. Insoweit habe die Antragsgegnerin unwidersprochen dargelegt, daß die Tochter der Beschwerdeführerin, die die 1. Klasse besuche, sich noch ganz am Anfang des Schreibleselehrgangs befinde, der erst Ende des

 

2.

7.

Schuljahres ganz abgeschlossen sein werde. Von der neuen Rechtschreibregelung seien nur ganz wenige Wörter betroffen, deren Einführung im Unterricht etwa für März 1998 vorgesehen sei. Die andere Tochter habe bereits im vergangenen (zweiten) Schuljahr - von der Beschwerdeführerin lange Zeit unwidersprochen - mit dem Erlernen einzelner Wörter nach der neuen Rechtschreibung begonnen; dieser Wortschatz werde im laufenden Schuljahr gefestigt und nur geringfügig erweitert. Berücksichtige man all dies, sei nicht ersichtlich, jedenfalls nicht glaubhaft gemacht, daß den Kindern der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Erlangung der Kenntnis der alten Rechtschreibregeln im verbleibenden Schuljahr so große Ausbildungsdefizite erwüchsen, daß diese in ihrer verbleibenden Schulzeit nicht oder nur mit unzumutbaren Anstrengungen ausgeglichen werden könnten.

 

I

 

1.

8.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin vor allem gegen den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts. Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Gleichzeitig begehrt sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung trägt sie im wesentlichen vor: Bisher sei in der Schule die in der Gesellschaft gebräuchliche und akzeptierte Rechtschreibung vermittelt worden, während nun erstmals eine Rechtschreibung gelehrt werden solle, die in Teilbereichen völlig neu und ungebräuchlich sei. Damit verfolge die Schule ein neues Ziel, in dem sie auch Vorbildfunktion für die Gesamtbevölkerung wahrnehmen wolle. Dies sei eine wesentliche Änderung, die eines Gesetzes bedürfe. Ein solches sei jedoch nicht vorhanden. Soweit das Oberverwaltungsgericht das Fehlen eines Anordnungsgrundes damit begründe, daß ihre Kinder im Unterricht auch mit der alten Schreibweise in Berührung kämen, weil noch die alten Fibeln, Arbeitshefte, Lese- und Sprachbücher verwendet würden, beruhe letzteres eher auf zufälligen Gründen, die sich jederzeit ändern könnten. Soweit Schüler Änderungen aufgrund der Rechtschreibreform in die Schulbücher einzutragen hätten und diese an die Schüler des nächstfolgenden Schuljahres weitergäben, erhielten diese Schüler auf diese Weise Bücher mit der neuen Rechtschreibung. Außerdem stelle die derzeitige de facto zweisprachige Erziehung der Kinder in der Grundschule einen unhaltbaren Zustand dar. Es könne nicht sein, daß diese wegen der augenblicklichen Verunsicherung den Schreibleselehrgang sowohl in der alten als auch in der neuen Schreibweise absolvierten. Das führe zu schweren Lerndefiziten, die die Kinder ein ganzes Leben lang begleiteten. I

 

I

 

1.

9.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist. Es fehlt an der substantiierten Darlegung einer Grundrechtsverletzung, auf der die angegriffene Entscheidung beruhen könnte (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG). 1. Der Vortrag der Beschwerdeführerin zu dem behaupteten Verstoß gegen die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geht, soweit er die materiellrechtliche Frage der Rechtmäßigkeit der Einführung der Rechtschreibreform betrifft, insbesondere sich mit der Frage des Gesetzesvorbehalts ("Wesentlichkeitstheorie") befaßt, am maßgeblichen Inhalt des angegriffenen Beschlusses vorbei. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Frage ausdrücklich offengelassen ("letztlich kann die Entscheidung dem Hauptverfahren vorbehalten bleiben"). Tragender Grund für die Ablehnung des Eilantrags war vielmehr die Verneinung eines Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit der Sache. Darauf beziehen sich die Rügen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch nicht in einer den Darlegungserfordernissen genügenden Weise.

 

2.

10.

Das Oberverwaltungsgericht stützt seine Auffassung, daß ein Anordnungsgrund fehle, ausschlaggebend auf die Erwägung, daß die Beeinträchtigung von Rechten der Beschwerdeführerin oder ihrer Kinder durch die derzeit praktizierte Unterrichtsgestaltung im allein streitgegenständlichen Zeitraum des verbleibenden Schuljahrs nicht von solchem Gewicht sei, daß es zu Ausbildungsdefiziten kommen könne, die nur durch den Erlaß einer einstweiligen Anordnung vermieden werden könnten. Die dagegen gerichteten Angriffe beziehen sich allein auf die fachgerichtliche Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen sind (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>). Der Vorwurf, daß die gegenwärtig gehandhabte Verwendung von Büchern in alter Schreibweise sich jederzeit ändern könne, ist tatsächlicher Art und zielt auf ungewisse Ereignisse in der Zukunft. Der weitere Einwand, auf die in den alten Schulbüchern enthaltene Schreibweise dürfe nicht abgehoben werden, weil in diese Bücher von den Schülern Änderungen aufgrund der Rechtschreibreform einzutragen seien und diese Änderungen an die Nachfolger des nächsten Schuljahres weitergegeben würden, geht ebenfalls an der konkreten Entscheidung vorbei, weil der Antrag auf einstweilige Anordnung ausdrücklich nur das laufende Schuljahr 1997/98 zum Gegenstand hat. Das Vorbringen schließlich, die derzeitige "de facto zweisprachige Erziehung" sei ein "unhaltbarer Zustand", ist so allgemein gehalten, daß ihm keine Anhaltspunkte dafür entnommen werden können, bei der konkret auf die Schulsituation der beiden Töchter der Beschwerdeführerin abstellenden Argumentation des Oberverwaltungsgerichts hätten Bedeutung und Umfang der angeführten Grundrechte grundlegend verkannt worden oder sachfremde Erwägungen maßgeblich gewesen sein können (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>). IV. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Diese Entscheidung ist unanfechtbar.