Bundesverfassungsgericht(2. Senat)
Beschluss vom 15. Februar 1967
- 2 BvR 658/
65 -

 (weitere Fundstellen: BVerfGE 21, 191 ff.)

 

Gründe:

 

I.

1.

Der Beschwerdeführer befindet sich am Anschluß an eine fünfjährige Zuchthausstrafe wegen Rückfalldiebstahls in Sicherungsverwahrung. Am 18. August 1965, als der Beschwerdeführer noch seine Zuchthausstrafe abbüßte, wurde er vom Vorstand der Anstalt mit einmaligem Entzug der Abendkost bestraft, weil er am 8. August 1965 gegen 5.30 Uhr zweimal Brot aus dem Zellenfenster geworfen habe. Der Beschwerdeführer bestritt die Tat, der Anstaltsleiter hielt ihn jedoch für überführt. In dem Bericht des Anstaltsleiters an den Generalstaatsanwalt vom 27. August 1965 heißt es dazu

"Der Gefangene bestreitet diese Verfehlung; er ist jedoch durch die eindeutigen Aussagen des Hauptwachtmeisters R. überführt. Ich habe den Beamten in Abwesenheit des Gefangenen mit großem Nachdruck auf seine Wahrheitspflicht und die Bedeutung seiner Zeugenaussagen hingewiesen. Er hat mir mehrfach versichert, daß ein Mißverständnis, eine Verwechselung und jeder Zweifel mit Sicherheit ausgeschlossen seien. Da nichts gegen die Glaubwürdigkeit des Hauptwachtmeisters R. spricht, war der Gefangene nach dieser eindeutigen Bekundung als überführt anzusehen.

Ich habe davon Abstand genommen, die Zellengenossen des Gefangenen zu vernehmen, weil sie keine Tatzeugen sind und das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht hätten erschüttern können. Nach den Angaben des Hauptwachtmeisters R. sind diese erst wach geworden, als er die Zelle öffnete. Das stellte auch der Beschwerdeführer nicht in Abrede. Selbst dann, wenn die Mitgefangenen schon vor dem öffnen der Zellen wach gewesen sein sollten, hätte für sie kein Anlaß bestanden, jede Bewegung des Beschwerdeführers genauestens zu verfolgen. Ihre Aussagen hätten daher keinen Beweiswert gehabt. Der Beschwerdeführer hat die Gefangenen im übrigen als Zeugen nur für seine Behauptung benannt, daß an dem fraglichen Tage überhaupt kein Brot auf der Zelle gewesen sei. Ein solcher Nachweis wäre jedoch nicht zu erbringen gewesen. Ich habe somit alle Möglichkeiten der Wahrheitsfindung ausgeschöpft. Bei dem Strafmaß habe ich die bisherige ordentliche Führung des S. berücksichtigt."

2.

Nach erfolgloser Beschwerde (Bescheid des Generalstaatsanwalts in Hamm vom 2. September 1965) hat der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG gestellt. Er hat dabei weiter seine Täterschaft bestritten und gefordert, daß die von ihm benannten Zeugen gehört werden.

3.

Mit Beschluß vom 8. November 1965 wies das Oberlandesgericht Hamm den Antrag mit folgender Begründung zurück:

"Im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG überprüft das Gericht nur die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten der Justizbehörden, wozu bei Ermessensentscheidungen auch die Frage gehört, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Ein solcher Rechtsfehler ist hier nicht zu erkennen. Der Anstaltsvorstand hat den Betroffenen gehört. Seine Überzeugung, daß der Betroffene Brot aus dem Fenster geworfen habe, stützt sich auf die Bekundung des Hauptwachtmeisters Rohrer. Von der vom Betroffenen angeregten Vernehmung der Zellengenossen hat der Anstaltsvorstand abgesehen, weil sie zur Zeit des Vorfalls noch schliefen und zum Vorfall selbst nichts sagen konnten und weil die Behauptung des Betroffenen, es sei überhaupt kein Brot auf der Zelle gewesen, nach Auffassung des Anstaltsvorstandes durch ihre Bekundungen nicht hätte bewiesen werden können. Diese Sachbehandlung hält sich in dem Spielraum, der dem Anstaltsvorstand bei seiner Überzeugungsbildung gegeben ist, und kann aus Rechtsgründen nicht beanstandet werden. Die Strafe hält sich auch in dem von der DVollzO gezogenen Rahmen (Nr. 182 Ziff. 9 DVollzO) und kann nicht als ermessensfremd angesehen werden. Der Antrag war daher zu verwerfen."

4.

Mit der am 2. Dezember 1965 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Er wendet sich weiter dagegen, daß keine ausreichenden Ermittlungen nach dem Täter angestellt worden seien. Er wisse inzwischen, wer das Brot aus dem Fenster geworfen habe, wolle es aber nicht sagen. Jedenfalls gehe es nicht an, ihn einfach als Täter zu belasten. Das Oberlandesgericht Hamm hätte den Sachverhalt prüfen müssen. Bei der von ihm geübten Praxis seien die Vorschriften der §§ 23 ff. EGGVG wertlos.

5.

Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Äußerung abgesehen.

 

II.

6.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

7.

1. Allerdings ist Art. 103 Abs. 1 GG nicht verletzt. Das Oberlandesgericht hat zwar das Vorbringen des Beschwerdeführers über die Tat nicht auf seine Richtigkeit geprüft. Das bedeutet jedoch nicht, daß es diesen Sachvortrag Art. 103 Abs. 1 GG zuwider nicht "in Erwägung gezogen" hätte. Das Oberlandesgericht hat vielmehr aus rechtlichen Gründen von einer Untersuchung des Tathergangs abgesehen, weil es der Auffassung war, daß es im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG die Täterschaft des Beschwerdeführers nicht selbst festzustellen habe. Dadurch kann Art. 103 Abs. 1 GG nicht verletzt sein. Art. 103 Abs. 1 GG soll als Prozeßgrundrecht sichern, daß die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht; deshalb muß das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung geben und ihre Äußerungen in Erwägung ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt jedoch keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Deshalb scheidet eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG aus.

8.

2. Dagegen verstößt die angefochtene Entscheidung gegen Art. 19 Abs. 4 GG und muß deshalb aufgehoben werden.

9.

Der Beschwerdeführer hat die Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG nicht ausdrücklich gerügt. Er hat jedoch im Zusammenhang mit dem Vorwurf ungenügender Aufklärung des Sachverhalts beanstandet, daß sich "bei dem Oberlandesgericht Hamm eine Praxis einbürgere, die die Vorschriften der §§ 23-30 EGGVG überflüssig" mache. In diesem Vortrag liegt die Behauptung des Beschwerdeführers, daß ihm der verfassungsmäßig garantierte Rechtsschutz nicht ausreichend gewährt worden sei. Damit ist Art. 19 Abs. 4 GG als verletzte Norm in einer den Anforderungen des § 92 BVerfGG genügenden Weise bezeichnet und die Rechtsverletzung genügend substantiiert worden. Die Benennung des verletzten Grundrechtsartikels ist nicht erforderlich.

10.

Die Verhängung einer Hausstrafe gegen einer Strafgefangenen durch den Anstaltsleiter stellt einen Akt der öffentlichen Gewalt dar, gegen den der Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 GG offensteht. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet, daß der Betroffene die Rechtmäßigkeit des gegen ihn ergangenen Aktes von einem unabhängigen Gericht nachprüfen lassen kann. Es wäre mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar, wenn das Gericht nur auf die Nachprüfung der rechtlichen Seite beschränkt wäre und die behördlichen Tatsachenfeststellungen seiner Entscheidung ungeprüft zugrunde legen müßte oder dürfte (BVerfGE 15, 275 (282); 18, 203 (212); vgl. ferner Maunz-Dürig, GG, 2. Aufl., Anm. 47 zu Art. 19 Abs. 4 mit Nachweisen).

11.

Diesen Anforderungen werden die Vorschriften der §§ 23 ff. EGGVG gerecht, die für die Anfechtung von Anordnungen und Verfügungen der Justizbehörden, wozu auch die Verhängung von Hausstrafen gehört, einen besonderen Justizverwaltungsrechtsweg zu den Oberlandesgerichten eröffnen. Nach diesen Vorschriften muß das Oberlandesgericht auf Antrag die Rechtmäßigkeit der Maßnahme prüfen. Das entspricht den Vorschriften über die Anfechtung von Verwaltungsakten vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten. Weder nach der Verwaltungsgerichtsordnung noch nach §§ 23 ff. EGGVG ist das Gericht auf die Nachprüfung der Rechtsanwendung beschränkt. Die Oberlandesgerichte haben, wenn sie über die Rechtmäßigkeit von Justizverwaltungsakten entscheiden, nicht die Stellung von Revisionsgerichten, die den (richterlich) festgestellten Sachverhalt nicht nachzuprüfen haben, sondern sind, wie jede verwaltungsgerichtliche Tatsacheninstanz, verpflichtet, den Sachverhalt selbst festzustellen (Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO und GVG mit Nebengesetzen, 21. Aufl., 1965, Anm. 2 zu § 28 EGGVG). Das bedeutet, daß sie gegebenenfalls, insbesondere wenn die behördlichen Tatsachenfeststellungen bestritten sind, auch Beweis erheben müssen. Nur in dieser Auslegung genügen die §§ 23 ff. EGGVG dem Art. 19 Abs. 4 GG.

12.

Eine Ausnahme erleidet diese Regel auch nicht dadurch, daß das Oberlandesgericht in Justizverwaltungssachen Ermessensentscheidungen der Behörde nur darauf überprüfen kann, ob sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 28 Abs. 3 EGGVG). Denn diese Vorschrift, die dem § 114 VwGO entspricht, bezieht sich nicht auf die Feststellung des Sachverhalts, für die der Behörde ein Ermessen nicht zusteht.

13.

Das Oberlandesgericht hat nicht geprüft, ob der Beschwerdeführer die Tat, wegen der er mit der Hausstrafe belegt worden ist, begangen hat. Es hat sich auf die Prüfung beschränkt, ob der Anstaltsleiter bei der Feststellung des Sachverhalts richtig vorgegangen ist oder ob die Sachbehandlung durch den Anstaltsleiter aus Rechtsgründen beanstandet werden muß. Diese nur eingeschränkte Sachprüfung führt zu einer Verkürzung des grundrechtlich gewährleisteten umfassenden Rechtsschutzes. Die angefochtene Entscheidung ist daher wegen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.