Bundesverfassungsgericht (2. Senat)
Beschluss vom 18. Oktober 1966
- 2 BvR 386, 478/63/94
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 (weitere Fundstellen: BVerfGE 20, 283 ff.)

 

Aus den Gründen

A.

1.

Die Beschwerdeführerin zu 1) betreibt eine Arzneimittelfabrik, in der sie u.a. seit über 50 Jahren das Salbenpräparat "Unguentum Thorraduran forte" herstellt. Der Beschwerdeführer zu 2) übt in Frankfurt/Main eine ärztliche Praxis aus; bei der Behandlung von Wunden, Blutergüssen, Phlegmonen, Neuralgien usw. wandte er die Thorraduran-Salbe an.

2-42

Die Beschwerdeführer haben mit den am 28. Juni 1963 eingegangenen Schriftsätzen gegen §§ 2 Abs. 2 und 3 der "Verordnung über die Zulassung von Arzneimitteln, die mit ionisierenden Strahlen behandelt worden sind oder die radioaktive Stoffe enthalten" (Verordnung = VO), vom 29. Juni 1962 (BGBl. I S. 439) Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie halten diese Bestimmungen, die sie im Vertrieb der Thorraduran-Salbe einschränken oder von ihrem Bezug und ihrer Verwendung ausschließen, für verfassungswidrig und beantragen, sie für nichtig zu erklären. Die Beschwerdeführerin zu 1) ist darüber hinaus der Auffassung, daß auch § 7 AMG gegen grundgesetzliche Normen verstoße, und beantragt hilfsweise, diese Vorschrift für nichtig zu erklären.

B.

I.

43.

Die beiden Verfassungsbeschwerden haben dieselben Rechtsfragen zum Gegenstand. Sie werden daher zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

II.

44.

Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig.

45

1. Auch eine Rechtsnorm kann als Akt der öffentlichen Gewalt mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden, wenn der Beschwerdeführer durch die Norm gegenwärtig und unmittelbar und nicht erst mit Hilfe eines Vollziehungsaktes betroffen wird (BVerfGE 1, 97 (101); 3, 167 (171); 6, 273 (277)).

46.

Dies ist hier der Fall. Die auf der Ermächtigung des § 7 AMG beruhenden Vorschriften der §§ 2 und 3 VO haben zur Folge, daß die Beschwerdeführerin zu 1) im Vertrieb ihres Erzeugnisses beschränkt und der Beschwerdeführer zu 2) vom Bezug und Verschreiben des Arzneimittels ganz ausgeschlossen wird. § 44 AMG stellt Zuwiderhandlungen unter Strafe (Gefängnis und Geldstrafe). Die angefochtenen Bestimmungen bedürfen zur Herbeiführung der beabsichtigten Rechtsfolge keines Vollzugsaktes. Sie wirken gegenwärtig und unmittelbar gegen beide Beschwerdeführer. Die Beschwerdeführer können nicht darauf verwiesen werden, zunächst eine Zuwiderhandlung zu begehen, um erst dann ihre Grundrechte durch Anfechtung eines Strafentscheids zu verteidigen.

47.

2. Beide Beschwerdeführer begründen ihre Verfassungsbeschwerde mit einer Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG. Daß auch eine Kommanditgesellschaft sich hierauf berufen kann, hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach entschieden (vgl. z.B. BVerfGE 4, 7 (12); 10, 89 ff.). Der Beschwerdeführer zu 2) macht darüber hinaus geltend, die Bestimmungen der Verordnung verstießen auch gegen Art. 3, 12 und 14 GG.

C.

48.

Die Verfassungsbeschwerden sind jedoch unbegründet. Weder § 7 AMG noch §§ 2 Abs. 2 und 3 VO verstoßen gegen grundgesetzliche Normen.

I.

49.

Die Ansicht der Beschwerdeführerin zu 1), der Gesetzgeber habe sich mit der von ihm gewählten Technik des allgemeinen Verbots unter Vorbehalt der Ausnahmeregelung durch die Exekutive seiner Gesetzgebungsbefugnis schlechthin begeben und sie auf die Exekutive übertragen, ist unzutreffend.

50.

Nach Art. 80 GG kann der Gesetzgeber Rechtsetzungsbefugnisse auf die Exekutive übertragen. Eine solche Übertragung ist aber an strenge Voraussetzungen geknüpft. Der Gesetzgeber muß selbst die Entscheidung treffen, welche bestimmten Fragen geregelt werden sollen; er muß die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und angeben, welchem Ziel sie dienen soll. Aus dem Gesetz selbst müssen sich Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung mit Deutlichkeit ergeben (BVerfGE 2, 307 (334); 5, 71 (76 f.); 8, 274 (307); 10, 20 (51)).

51.

§ 7 AMG erfüllt diese Voraussetzungen. Die Vorschrift enthält das grundsätzliche Verbot, die in ihr näher bezeichneten Arzneimittel in den Verkehr zu bringen, ermächtigt aber den Verordnunggeber, gewisse Ausnahmeregelungen zu treffen. Der Inhalt dessen, was der Verordnunggeber regeln kann, ist hinreichend umschrieben. Auch Zweck und Ausmaß der Ermächtigung sind bestimmt. § 7 AMG bringt deutlich zum Ausdruck, welches "Programm" (BVerfGE 5, 71 (77); 8, 274 (307)) durch die Verordnung verwirklicht werden soll, nämlich die Zulassung nur derjenigen Beimengungen und Behandlungsverfahren, deren Anwendung nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft keine gesundheitlichen Gefährdungen nach sich ziehen kann, die über ein vertretbares Maß hinausgehen und nicht die Folge besonderer Umstände des Einzelfalles sind.

52.

Ist aber die Ermächtigung des § 7 Abs. 2 AMG nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmt und entspricht sie damit den Erfordernissen des Art. 80 Abs. 1 GG, so sind die Bedenken, die die Beschwerdeführerin zu 1) gegen § 7 AMG als solchen geäußert hat, nicht gerechtfertigt.

II.

53.

Die Verordnung ist ordnungsmäßig erlassen worden. Sie hält sich im Rahmen der Ermächtigung, auf der sie beruht.

54.

1. Die Verordnung läßt erkennen, auf welche Ermächtigung sich die einzelnen Vorschriften stützen und wer sie erlassen hat. Zwar wird im Vorspruch der Verordnung ein "ganzes Bündel" von Ermächtigungen angegeben (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG). Aus Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG ist aber nicht zu schließen, daß bei einer Sammelverordnung wie der vorliegenden zu jeder Bestimmung im einzelnen angegeben werden muß, auf welcher der Ermächtigungen sie beruht. Daß die hier in Frage kommenden Vorschriften auf die Ermächtigung des § 7 Abs. 2 AMG gestützt sind, ist ohne Schwierigkeit erkennbar. Insoweit kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß sie von den zuständigen Organen erlassen worden sind.

55.

2. § 7 Abs. 2 AMG ermächtigt den Verordnunggeber, unter bestimmten Voraussetzungen "Behandlungsverfahren" mit ionisierenden Strahlen "oder die Beimengung radioaktiver Stoffe zu Arzneimitteln nach Absatz 1 allgemein oder für bestimmte Arzneimittel oder für bestimmte Zwecke" zuzulassen.

56.

a) Nach dem Wortlaut der Ermächtigung soll der Verordnunggeber berechtigt sein, bestimmte Verfahren zur Behandlung mit ionisierenden Strahlen und zur Beimischung von radioaktiven Stoffen zuzulassen.

57.

b) Die Ermächtigung kann sich indessen nicht darin erschöpfen, daß der Verordnunggeber die Befugnis erhält, gewisse Verfahren zur Herstellung von Arzneimitteln zuzulassen. Denn eine solche Zulassung wäre, wenn sie keine anderen Wirkungen hätte als die Möglichkeit, die Arzneimittel herzustellen, ohne Bedeutung.

58.

Die Ermächtigungsnorm des § 7 Abs. 2 AMG ist allerdings, wie auch der Bundesminister für Gesundheitswesen einräumt, nicht glücklich gefaßt, insbesondere in der Wortwahl nicht auf die Verbotsnorm des Absatz 1 abgestimmt. Maßgebend für ihre Auslegung ist aber wie für jedes Gesetz der in ihr zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (BVerfGE 1, 299 (312); 10, 234 (244); 11, 126 (130 f.)). Die beiden Absätze des § 7 AMG stehen nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers in unlösbarem Zusammenhang. Absatz 2 bezieht sich auf die Verbotsnorm des Absatz 1. Sie eröffnet dem Verordnunggeber die Möglichkeit, Ausnahmeregelungen zu schaffen. Dies aber bedeutet, daß die Zulassung eines bestimmten Verfahrens der Herstellung von Arzneimitteln nach Absatz 2 zugleich die Freistellung von dem Verbot des In- Verkehr-Bringens nach Absatz 1 in sich schließt. Die Zulassung eines Herstellungsverfahrens hat demgemäß die Wirkung, daß die in diesem Verfahren gewonnenen Arzneimittel entgegen dem allgemeinen Verbot des § 7 Abs. 1 AMG in den Verkehr gebracht werden dürfen.

59.

Dies hat zur Folge, daß die von dem Verteilungsverbot freigestellten Arzneimittel nunmehr nach Maßgabe der Bestimmungen des Sechsten Abschnitts des Arzneimittelgesetzes über die Abgabe von Arzneimitteln (§§ 28 ff.) in den Verkehr gebracht, d.h. im Einzelhandel grundsätzlich nur an Apotheken abgegeben, vorrätig gehalten oder feilgehalten werden dürfen (§ 28 Abs. 1 AMG), also dort von Patienten mit ärztlichem Rezept oder vom Arzt selbst erworben werden können. Dem Gesetz ist aber nicht zu entnehmen, daß eine anderweitige Regelung der Abgabe derartiger Arzneimittel ausgeschlossen sein soll. Der Gesetzgeber hat die Arzneimittel, die ionisierenden Strahlen ausgesetzt worden sind oder radioaktive Stoffe enthalten, ihrer möglichen Schädlichkeit wegen aus der Masse der allgemeinen Arzneimittel herausgenommen und in § 7 AMG einer besonderen Regelung unterworfen. Der Sinn der Ermächtigung liegt darin, daß der Verordnunggeber diejenigen Herstellungsverfahren zulassen kann, deren Erzeugnisse nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis keine ernstlich gesundheitsgefährdenden Wirkungen haben. Dies schließt aber in sich, daß der Verordnunggeber auch befugt sein soll, Herstellungsverfahren nur insoweit zuzulassen, als es zur Abwendung gesundheitsschädigender Wirkungen notwendig ist, d.h. mit der Zulassung des Verfahrens den Kreis derjenigen, an die das hergestellte Arzneimittel abgegeben werden darf, zu beschränken. § 7 Abs. 2 AMG ist daher dahin auszulegen, daß er den Verordnunggeber ermächtigt, mit der Zulassung eines Verfahrens auch den Verteilungsmodus zu bestimmen, soweit sachgerechte Erwägungen dies erfordern.

60.

c) Die angefochtenen Vorschriften der §§ 2 Abs. 2, 3 VO halten sich im Rahmen der Ermächtigung.

61.

Zwar bringen sie nicht besonders zum Ausdruck, daß ein bestimmtes Herstellungsverfahren zugelassen wird, sondern regeln unmittelbar den Verteilungsmodus. Diese Regelung setzt aber die Zulassung des Herstellungsverfahrens voraus, schließt sie also ein. Daß der Verordnunggeber den Kreis derjenigen, an die die betreffenden Arzneimittel abgegeben werden dürfen, einschränken kann, ergibt sich aus dem zu b) Ausgeführten.

62.

Die Gründe, die den Verordnunggeber zu dieser Einschränkung bewogen haben, sind sachgerecht. Angesichts der noch nicht völlig erforschten Wirkungen von Arzneimitteln, die radioaktive Stoffe enthalten, auf den Organismus ist eine Eingrenzung der Anwendungsmöglichkeit, die eine weitere Erprobung zuläßt, gerechtfertigt. Innerhalb des in § 3 Abs. 1 VO umgrenzten Abnehmerkreises kommt eine Anwendung der Arzneimittel auf den Kranken nur in wissenschaftlichen Forschungsanstalten und in Krankenanstalten in Betracht. In solchen Anstalten ist aber die Beobachtung und Kontrolle der Wirkung der Arzneimittel stärker gewährleistet als etwa bei einer ambulanten Behandlung. Daß der Verordnunggeber deshalb die radioaktive Stoffe enthaltenden Arzneimittel zunächst nur in einem solchen engen Rahmen zugelassen hat, daß er dabei besonders vorsichtig vorgegangen ist und auch Arzneimittel erfaßt hat, die bereits längere Zeit im Gebrauch waren, ist mit Rücksicht auf die mit der Radioaktivität verbundenen, noch nicht übersehbaren Gefahren nicht zu beanstanden.

63.

Die angefochtenen Vorschriften der Verordnung werden demgemäß von der Ermächtigungsnorm gedeckt.

III.

64.

§ 2 Abs. 2 und § 3 VO verstoßen nicht gegen Art. 12, 3 und 14 GG.

65.

1. Die angefochtenen Vorschriften berühren nicht die Freiheit der Berufswahl, sondern regeln die Berufsausübung. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG kann die Freiheit der Berufsausübung beschränkt werden, "soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen" (BVerfGE 7, 377 (405); 13, 237 (239 f.)). Das Arzneimittelrecht dient dem Schutz der Volksgesundheit. Eine Einschränkung der Berufsausübung muß als gerechtfertigt angesehen werden, wenn sie zum Schutze dieses wichtigen Gemeinschaftsgutes erforderlich ist. Dies ist hier der Fall.

66.

2. Der Beschwerdeführer zu 2) ist der Ansicht, daß die Verordnung infolge der verschiedenen Regelung für frei praktizierende Ärzte einerseits und Ärzte in Krankenhäusern oder wissenschaftlichen Forschungsanstalten andererseits den Gleichheitsgrundsatz verletze.

67.

Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Ärzte in Krankenhäusern und wissenschaftlichen Forschungsanstalten befinden sich in ihrer Beziehung zu den Patienten in einer von den frei praktizierenden Ärzten so verschiedenen Situation, daß eine verschiedene Regelung der Versorgung mit Arzneimitteln gerechtfertigt und keineswegs willkürlich erscheint.

68.

3. Auch Art. 14 GG ist offensichtlich nicht verletzt..