Bundesverfassungsgericht(2. Senat)
Beschluss vom 29.10.1975
- 2 BvE 1/
75-

 (weitere Fundstellen: BVerfGE 40, 287 ff.)

 

Zum Sachverhalt

1.

Das Bundesinnenministerium gibt seit einigen Jahren in regelmäßigen zeitlichen Abständen sogenannte Verfassungsschutzberichte zur Information der Öffentlichkeit heraus. Der Bericht "Verfassungschutz '73" ist in Form einer Broschüre im August 1974 als Nr. 21 der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesinnenministeriums erschienen. Er enthält in erster Linie Zahlenmaterial über die Mitglieder- und Sympathisantenentwicklung der verschiedenen Gruppen und ihrer Gliederungen, über die Publikationsorgane und deren Auflagen und Aufmachung, ferner Angaben über Strategie und Taktik der Gruppen sowie Zahlenmaterial über verübte Gewalttaten und deren Aufklärung und Aburteilung. Daran schließt sich jeweils eine kurze Beurteilung der Sicherheitslage an. Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) wird in dem Bericht als Erscheinung des „organisierten Rechtsradikalismus” bezeichnet und gewürdigt (S. 11 ff., Darstellung der Mitgliederbewegung und der Publikationsorgane), und zwar als eine der Repräsentanten der sogenannten „Alten Rechten” (S. 20 ff.). Mit der am 13. Januar 1975 beim BVerfG eingegangenen Organklage wandte sich die NPD gegen den Bericht "Verfassungsschutz '73". Der Feststellungsantrag, der Bundesminister des Innern habe dadurch gegen Art. 21 Abs. 1 GG verstoßen, daß er in dem Bericht die NPD als eine Partei mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung und Betätigung beschrieben habe, wurde vom BVerfG als offensichtlich unbegründet (§ 24 BVerfGG) verworfen.

 

Aus den Gründen

 

B.

2.

Die Frage, ob der Antrag zulässig ist, kann im summarischen Verfahren nach § 24 BVerfGG dahingestellt bleiben; denn der Antrag ist jedenfalls offensichtlich unbegründet.

3.

Die Antragstellerin wird durch die in dem Antrag beanstandeten Äußerungen des Bundesministers des Innern weder in ihren Rechten aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt noch unmittelbar gefährdet.

4.

1. Der Umfang der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht wird im Verfahren der Organklage durch den - frist- und formgerechten - Antrag des Antragstellers bestimmt (vgl. BVerfGE 24, 252 (257 f.)). Dieser begrenzt den Streitgegenstand. Zu prüfen sind mithin im vorliegenden Verfahren die im Antragstenor beanstandeten Äußerungen des Bundesministers des Innern.

5.

In dem Bericht "Verfassungsschutz '73" wird die NPD zwar nicht direkt als "Feindin der Freiheit", als "Gefahr für die freiheitliche Grundordnung" und als "rechtsextrem" bezeichnet. Indessen ergibt der Gesamtzusammenhang des Berichts und seines Vorworts, daß diese Kennzeichnungen auch auf sie gemünzt sind.

6.

2. Die verbindliche Feststellung, daß eine Partei verfassungswidrig ist, kann nach Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG nur das Bundesverfassungsgericht in dem dafür vorgesehenen Verfahren (§§ 43 ff. BVerfGG) treffen. Das Entscheidungsmonopol des Gerichts schließt ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten (BVerfGE 5, 85 (140); vgl. ferner BVerfGE 17, 155 (166)). Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann deshalb niemand die Verfassungswidrigkeit einer Partei rechtlich geltend machen (BVerfGE 12, 296 (304)); das heißt, gegen die Partei, ihre Funktionäre, Mitglieder und Anhänger dürfen wegen ihrer mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitenden parteioffiziellen Tätigkeiten keine rechtlichen Sanktionen angedroht oder verhängt werden. An dieser Bestands- und Schutzgarantie ("Parteienprivileg") des Grundgesetzes hat auch die NPD vollen Anteil.

7.

3. Der Antrag auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ob eine Partei verfassungswidrig ist (Art. 21 Abs. 2 GG), kann vom Bundestag, dem Bundesrat oder von der Bundesregierung gestellt werden (§ 43 Abs. 1 BVerfGG). Eine Landesregierung kann den Antrag nur gegen eine Partei stellen, deren Organisation sich auf das Gebiet ihres Landes beschränkt (§ 43 Abs. 2 BVerfGG). Diese Verfassungsorgane haben nach pflichtgemäßem Ermessen, für das allein sie politisch verantwortlich sind, zu prüfen und zu entscheiden, ob sie den Antrag stellen wollen (BVerfGE 5, 85 (113)) oder ob die Auseinandersetzung mit einer von ihnen für verfassungswidrig gehaltenen Partei im politischen Felde geführt werden soll. Unbeschadet dessen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland als streitbare Demokratie versteht und kraft ihrer Verfassung auch verstehen muß (BVerfGE 5, 85 (139); 25, 88 (100); 28, 36 (48)), bleibt sie doch primär auf die freie, selbstbestimmte (Art. 1 Abs. 1 GG) Integration aller politischen Meinungen und Kräfte im Rahmen und durch die Grundwerte der Verfassung angelegt. Es ist daher verfassungsrechtlich legitim, wenn die mit dem Recht zum Verbotsantrag ausgestatteten obersten Verfassungsorgane, statt von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, zunächst versuchen, eine Partei, die sie für verfassungswidrig im Sinne von Art. 21 Abs. 2 Satz 1 GG halten, durch eine mit Argumenten geführte politische Auseinandersetzung in die Schranken verweisen zu lassen und dadurch ein Verbotsverfahren überflüssig zu machen. Auch damit erfüllen sie in aller Regel ihren Auftrag, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu wahren und zu verteidigen.

8.

4. Der Bundesminister des Innern stellt schon im Vorwort klar, daß der Bericht von der Absicht der Bundesregierung getragen ist, die Auseinandersetzung mit der Antragstellerin als politischer Partei mit politischen und nicht mit juristischen Mitteln zu führen. Die Auseinandersetzung soll also im freien Wettbewerb um die Stimmen der Wähler ausgetragen werden. Damit wird der NPD die Funktion, die auch sie im Parteienstaat des Grundgesetzes hat, und um deretwillen die politischen Parteien in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben (vgl. BVerfGE 20, 56 (100, 108); 24, 260 (264)) und mit der Bestands- und Schutzgarantie des Art. 21 GG ausgestattet worden sind, nicht bestritten. Im Gegenteil, die Herausforderung der NPD, "nationale Opposition" zu sein, wird politisch angenommen. Das Recht und die faktische Möglichkeit, sich wie jede andere Partei zur Wahl zu stellen, bleiben unberührt. Nicht in Frage gestellt wird auch ihr Recht, zwischen und unabhängig von den jeweiligen Wahlen sich dem Bürger so darzustellen (vgl. BVerfGE 24, 300 (348)), wie es ihrem Selbstverständnis entspricht.

9.

Bei dieser Sachlage kann hier von einer Verletzung oder Gefährdung des der Antragstellerin durch Art. 21 GG verliehenen Status nicht die Rede sein. Der im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Bundesinnenministeriums publizierte Bericht "Verfassungsschutz '73" stellt weder ein administratives "Einschreiten" gegen die NPD dar, noch wird durch die Veröffentlichung dieses Berichts eine Verfassungswidrigkeit der NPD rechtlich geltend gemacht. Bei den von der Antragstellerin beanstandeten Äußerungen des Berichts, die NPD sei "eine Partei mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung und Betätigung", sei "rechtsradikal, rechtsextrem, eine Feindin der Freiheit und eine Gefahr für die freiheitliche Grundordnung", handelt es sich vielmehr um Werturteile, die der Bundesminister des Innern in Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen, und im Rahmen seiner daraus fließenden Zuständigkeit für die Beobachtung verfassungsfeindlicher Gruppen und Aktivitäten abgegeben hat. An diese Werturteile sind keinerlei rechtliche Auswirkungen geknüpft. Soweit daraus für eine Partei faktische Nachteile entstehen, ist sie dagegen nicht durch Art. 21 GG geschützt (BVerfGE 39, 334 (360)).

10.

Dies bedeutet indessen nicht, daß der Befugnis der Staatsorgane, negative Werturteile über Ziele und Betätigung nicht verbotener politischer Parteien kundzutun, keinerlei verfassungsrechtliche Schranken gesetzt wären. Das Recht solcher politischer Parteien auf Chancengleichheit als ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung verbietet vielmehr jede staatliche Maßnahme, die den Anspruch der Partei auf die Gleichheit ihrer Wettbewerbschancen willkürlich beeinträchtigt. Danach wäre es der Regierung untersagt, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen, wenn diese Maßnahme bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre und sich daher der Schluß aufdrängte, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhte. Das ist hier indessen nicht der Fall. Vielmehr erschöpfen sich die vom Bundesminister des Innern abgegebenen Werturteile - auch soweit sie zum Zwecke, die Öffentlichkeit über die Lagebeurteilung des Bundesinnenministeriums zu informieren (vgl. dazu BVerfGE 20, 56 (100)), allgemein zugänglich gemacht worden sind - in sachlich gehaltenen Meinungsäußerungen. Als solche sind sie verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfGE 13, 123 (125 f.)). Sie müssen von der Antragstellerin, die auch ihrerseits in der Abgabe von Werturteilen nicht gerade zurückhaltend ist, als Teil der ständigen geistigen Auseinandersetzung, die für die freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend ist, hingenommen werden.