Bundesverfassungsgericht
Beschluss vom 07.04.1993
- 1 BvR 565/93
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 (weitere Fundstellen: BVerfGE 88, 169 f.)

 

Leitsätze

1.

Die Verfassungsbeschwerde einer obdachlosen türkischen Staatsangehörigen mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis wirft Fragen nach Bedeutung und Tragweite des Schutzes von Leben und Gesundheit und des Mutterschutzes für den vorläufigen Rechtsschutz bei Obdachlosenunterbringung auf, die in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht abschließend beantwortet werden können.

2.

2. Die im Eilverfahren erforderliche Abwägung ergibt ein Überwiegen der nachteiligen Folgen bei Ablehnung der eA, da aufgrund ärztlicher Bescheinigungen von schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Risiken für die Schwangerschaft bei Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft auszugehen ist.

 

Aus den Gründen:

 

I.

1.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen eine ablehnende Entscheidung über einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, mit dem sie das Ziel verfolgt hat, als Obdachlose außerhalb einer ihr angebotenen Obdachlosenunterkunft untergebracht zu werden.

2.

1. a) Die 28 Jahre alte Beschwerdeführerin, eine arbeitslose türkische Staatsangehörige mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, verlor im Oktober 1992 ihre Wohnung. Am 6. November 1992 meldete sie sich bei der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens als obdachlos. Diese bot ihr einen Platz in einem Obdachlosenheim an und lehnte eine anderweitige Unterbringung ab.

3.

Nach einer ärztlichen Bescheinigung leidet die Beschwerdeführerin an einer schweren Depression und einer beginnenden Magersucht. In der Bescheinigung wird ausgeführt, daß ihr die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft oder einem Obdachlosenheim nicht zugemutet werden könne, da sich dort die schon bestehenden Ängste und vegetativen Störungen bis hin zur Selbstmordgefährdung verschlechtern würden.

4.

b) Die Beschwerdeführerin beantragte beim Verwaltungsgericht den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, mit der die Antragsgegnerin verpflichtet werden sollte, ihr eine Obdachlosenunterkunft zu verschaffen, die ihrem Gesundheitszustand Rechnung trägt. Das Verwaltungsgericht veranlaßte eine amtsärztliche Untersuchung. Der Amtsarzt kam zu dem Ergebnis, es könne eine Grenzpsychose (Borderline-Syndrom) vorliegen, verbunden mit der Unfähigkeit zur Bewältigung situativer Konflikte. Es bestehe eine echte Lebenskrise. Aufgrund dieser seelischen Störung sei die vorgesehene Obdachlosenunterkunft ungeeignet. Eine ambulante, besser noch eine stationäre Begutachtung in einem psychiatrischen Krankenhaus sei unbedingt erforderlich.

5.

Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Antragsgegnerin, der Beschwerdeführerin eine Obdachlosenunterkunft zu verschaffen, die ihr auch aus der Sicht eines zu Rate zu ziehenden Amtsarztes zumutbar sei. Diese Verpflichtung wurde bis zum 30. April 1993 befristet. Die Beschwerdeführerin wurde daraufhin bis zu diesem Zeitpunkt widerruflich in ein Hotel eingewiesen. Aus einer weiteren ärztlichen Bescheinigung vom 23. Februar 1993 ergibt sich, daß sie schwanger ist; voraussichtlicher Entbindungstermin ist der 26. September 1993.

6.

c) Auf Beschwerde der Antragsgegnerin änderte der Verwaltungsgerichtshof mit dem angegriffenen Beschluß die erstinstanzliche Entscheidung und lehnte den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ab.

7.

Die von der Antragsgegnerin bereitgestellte Obdachlosenunterkunft sei angemessen und ausreichend. Besondere persönliche Umstände, die die Zuweisung einer anderen Notunterkunft erforderten, seien weder dargetan noch glaubhaft gemacht. Weder die Erkrankung noch die Schwangerschaft stünden einer Unterbringung in der städtischen Obdachlosenunterkunft entgegen. Die erstmalige Einweisung in eine Notunterkunft sei häufig und typischerweise Folge und Symptom von Lebenskrisen. Die vorgelegten ärztlichen Atteste ließen nicht erkennen, warum ein Aufenthalt in der städtischen Obdachlosenunterkunft unzumutbar sei. Die begonnene psychiatrische Behandlung könne die Beschwerdeführerin auch von dort aus fortsetzen. Die amtsärztliche Stellungnahme spreche für die Erforderlichkeit einer Unterbringung in einer Klinik; dies könne die Obdachlosenfürsorge ohnehin nicht leisten.

8.

Es sei nicht Aufgabe der Obdachlosenfürsorge, über die Notunterbringung hinaus Lebensumstände zu schaffen, die der Beschwerdeführerin die Bewältigung von Lebenskrisen erleichterten. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer Notunterkunft dürfe nicht nach dem sozialen Status differenziert werden, den der Obdachlose früher inne gehabt habe.

9.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 sowie von Art. 6 Abs. 4 GG. Zugleich beantragt sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, mit der die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens verpflichtet werden soll, sie außerhalb der ihr angebotenen Obdachlosenunterkunft unterzubringen.

10.

Die angegriffene Entscheidung stelle einen schweren Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit dar. Der Verwaltungsgerichtshof habe den Vortrag der Beschwerdeführerin nicht sorgfältig nachgeprüft und die angebotenen Beweise nicht angemessen berücksichtigt. Der Verwaltungsgerichtshof habe ferner die Bedeutung von Art. 6 Abs. 4 GG verkannt. Durch die Einweisung in das Obdachlosenheim werde die Beschwerdeführerin in eine Risikoschwangerschaft getrieben.

11.

Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung sei geboten, weil die Behörde die Hoteleinweisung alsbald widerrufen wolle.

12.

3. Die Hessische Staatskanzlei verteidigt den Beschluß des Verwaltungsgerichtshofs.

 

II.

13.

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

14.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muß das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE 85, 94 <95 f.>; st. Rspr.).

15.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft Fragen nach der Bedeutung und Tragweite des Schutzes von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und des Mutterschutzes (Art. 6 Abs. 4 GG) für den vorläufigen Rechtsschutz bei Obdachlosenunterbringung auf, die in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht abschließend beantwortet werden können.

16.

3. Die damit erforderliche Abwägung führt zu dem Ergebnis, daß die nachteiligen Folgen überwiegen würden, die einträten, wenn der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anor dnung keinen Erfolg hätte.

17.

a) Erginge die einstweilige Anordnung, würde der Verfassungsbeschwerde aber nicht stattgegeben, so hätte die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens für den Unterbringungszeitraum die erhöhten Unterbringungskosten zu tragen. Begründete Aussicht auf eine nachträgliche Erstattung durch die Beschwerdeführerin bestünde angesichts ihrer Mittellosigkeit nicht.

18.

b) Wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, drohten der Beschwerdeführerin nach den insofern übereinstimmenden ärztlichen Bescheinigungen, von denen im vorliegenden Verfahren auszugehen ist, bei einer Unterbringung in der Obdachlosenunterkunft schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen. Besondere Risiken für die Schwangerschaft wären nicht auszuschließen.