Bundesverfassungsgericht(1. Senat)
Beschluss vom 1. Februar 1978
- 1 BvR 436/77 -
(weitere Fundstellen: BVerfGE 47, 182 ff.)
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Gründe: |
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A. |
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I. |
1. |
Die Beschwerdeführerin, die 1939 die Ehe geschlossen hatte und sich 1970 scheiden ließ, wurde 1972 von ihrem früheren Ehemann (im folgenden: Kläger) auf Herausgabe der von ihr gehaltenen Anteile an zwei 1960 und 1961 gegründeten Gesellschaften des bürgerlichen Rechts verklagt. Die eine Gesellschaft hatte das Wohn- und Geschäftsgrundstück G ... in V ... erworben, das sie bebaute und seither verwaltete, die andere Gesellschaft betrieb in den Geschäftsräumen dieses Grundstücks das Reinigungsunternehmen "A...". Gesellschafter waren mit einem Anteil von je 1/2 die Beschwerdeführerin und ein inzwischen verstorbener Bruder des Klägers. |
2. |
1. Der Kläger, von Beruf Versicherungs- und Finanzierungskaufmann und Mitunternehmer eines Teilzahlungs-Finanzierungsinstituts, hat vor dem Landgericht geltend gemacht, die Beschwerdeführerin habe die Gesellschafterrolle nur als seine Treuhänderin übernommen. Die Treuhandschaft habe nach außen nicht in Erscheinung treten sollen. Nachdem der Grund für die Treuhandschaft wegen Scheidung der Ehe weggefallen sei, müsse die Beschwerdeführerin das Treuhandvermögen auf ihn übertragen. Die Beschwerdeführerin hat eine Treuhandschaft bestritten und geltend gemacht, sie habe die Gesellschaftsanteile als eigenes Vermögen innegehabt. Auf Antrag des Klägers hat das Landgericht Zeugen gehört, den Kläger als Partei vernommen und sodann der Klage stattgegeben. |
3. |
In ihrer Berufung hat die Beschwerdeführerin weiterhin bestritten, daß sie die Beteiligungen als Treuhänderin des Klägers gehalten habe. Zu Beweiszwecken hat sie dem Oberlandesgericht eine Abschrift des Protokolls des Amtsgerichts V ... vom 2. Dezember 1970 über eine Anhörung der Parteien vorgelegt. Der Amtsrichter hatte in jenem Verfahren zu prüfen, ob er dem Kläger durch einstweilige Verfügung Unterhaltsleistungen zugunsten der Beschwerdeführerin auferlegen solle. Deshalb wurden die Parteien über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse befragt. Laut Protokoll erklärten sie in Gegenwart ihrer Rechtsanwälte:
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4. |
Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Beschwerdeführerin zurück, weil es das Bestehen einer Treuhandschaft für erwiesen hielt. Es schloß sich der Beweiswürdigkeit des Landgerichts an und führte aus: Die vom Landgericht vernommenen Zeugen, die allerdings dem Kläger nahestünden oder von ihm abhängig seien, hätten übereinstimmend Tatsachen bekundet, die eine Treuhandschaft zwar nicht direkt bewiesen, sie aber immerhin nahelegten. Von den Zeugen habe freilich niemand bekunden können, daß eine Treuhandabsprache zwischen den Ehegatten getroffen worden sei. Andererseits habe auch keiner der Zeugen etwas davon gehört, daß der Kläger der Beschwerdeführerin die Mittel für den Erwerb der Gesellschaftsanteile geschenkt habe. Der Einwand der Beschwerdeführerin, die Mittel seien von den Eheleuten gemeinsam erarbeitet worden, sei nicht stichhaltig. Daß sich die Beschwerdeführerin nur als Treuhänderin der Gesellschaftsanteile gefühlt habe, werde dadurch nahegelegt, daß sie keine Gewinnanteile gefordert oder erhalten habe und zu den Ausgaben der Gesellschaft nicht herangezogen worden sei. Auch auf die Verwaltung des Grundstücks und den Betrieb des Reinigungsunternehmens habe sie keinen maßgeblichen Einfluß genommen. Das habe sie dem Kläger überlassen. Angesichts dieser Beweislage sei der Kläger zu Recht als Partei gemäß § 448 ZPO vernommen worden. Seiner Bekundung, wonach die Ehegatten eine Treuhandabsprache getroffen hätten, sei voll zu glauben. |
5. |
3. Die Beschwerdeführerin begründete ihre Revision unter anderem damit, daß der Kläger bei seiner Anhörung durch das Amtsgericht V ... die Anteile nicht als sein Vermögen in Anspruch genommen habe und daß die Beschwerdeführerin bei dieser richterlichen Befragung die Gesellschaftsanteile, ohne daß sich der Kläger dagegen verwahrt hätte, als ihr Vermögen ausgegeben habe. Nach der Lebenserfahrung hätte sich der Kläger anders verhalten, wenn ihm das Vermögen wirklich als Treugut zuzurechnen gewesen wäre. Das Oberlandesgericht sei über diesen Vortrag unter Verstoß gegen § 286 ZPO hinweggegangen. |
6. |
Der Bundesgerichtshof hielt eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich, teilte dies den Parteien mit und wies die Revision durch Beschluß vom 21. April 1977 nach Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen vom 15. August 1969 (BGBl. I S. 1141) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen vom 7. August 1972 (BGBl. IS. 1383) zurück. |
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II. |
7. |
Gegen den Beschluß des Bundesgerichtshofs und das Urteil des Oberlandesgerichts richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Die Beschwerdeführerin macht unter Bezugnahme auf die der Verfassungsbeschwerde beigefügte Revisionsbegründungsschrift geltend, die Gerichte seien über ihren wesentlichen Sachvortrag, wonach der Kläger ausweislich des Sitzungsprotokolls des Amtsgerichts V ... vom 2. Dezember 1970 ihrer Behauptung über die Zuordnung der Gesellschaftsanteile zu ihrem Vermögen nicht widersprochen habe, hinweggegangen. |
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III. |
8. |
Der Bundesminister der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen, da das Verfahren grundsätzliche Fragen des Verfassungsrechts nicht aufwerfe und die Entscheidung im übrigen weitgehend von tatsächlichen Umständen abhänge, die sich seiner Beurteilung entzögen. Auch der Justizminister des Landes Baden-Württemberg hat sich nicht geäußert. |
9. |
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B. |
10. |
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Beschwerdeführerin hat durch Bezugnahme auf die der Verfassungsbeschwerde beigefügte Revisionsbegründungsschrift dargetan, das Oberlandesgericht habe die im Ergebnis übereinstimmenden Aussagen der Parteien vor dem Amtsgericht V..., nach denen die Gesellschaftsanteile zum Vermögen der Beschwerdeführerin gehörten, übergangen. Damit hat die Beschwerdeführerin einen möglichen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG im Sinne des § 92 BVerfGG hinreichend bezeichnet. Eine ausdrückliche Benennung des als verletzt gerügten Grundrechtsartikels verlangt § 92 BVerfGG nicht (BVerfGE 21, 191 (194); 27,297 (304 f.)). Es genügt auch dem Formerfordernis des § 92 BVerfGG, wenn in der Verfassungsbeschwerdeschrift auf Ausführungen in der als Anlage beigefügten Revisionsbegründungsschrift Bezug genommen wird und dort die Grundrechtsverletzung durch Bezeichnung des angeblich verletzten Rechts und des die Verletzung enthaltenden Vorgangs hinreichend substantiiert ist (BVerfGE 32, 365 (368 f.)). |
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C. |
11. |
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. |
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I. |
12. |
Der Anspruch der Prozeßbeteiligten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 42, 364 (367 f.) m. w. N.). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BVerfGE 25, 137 (140); 34, 344 (347)). Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (BVerfGE 40, 101 (104 f.)). Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (BVerfGE 13, 132 (149); 42, 364 (368)). Deshalb müssen, wenn das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, daß tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BVerfGE 27, 248 (251 f.); 42, 364 (368)). |
13. |
Dieser Ausnahmefall ist hier gegeben. |
14. |
1. Daß das Oberlandesgericht das Protokoll des Amtsgerichts V ... überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat, läßt sich allerdings nicht feststellen; denn es hat im Gegenteil aus dieser Urkunde die Bekundung der Beschwerdeführerin in die Urteilsgründe übernommen, die Beschwerdeführerin habe während der Ehe in dem Unternehmen des Klägers mitgearbeitet, sofern "Not am Mann" gewesen sei, und sie habe für die Tätigkeit in dem Reinigungsunternehmen "A..." nur geringe monatliche Vergütungen in Empfang genommen. |
15. |
Um diese Fragen ging es in dem vorliegenden Prozeß allerdings nur am Rande, nämlich nur insoweit, als diese Umstände Rückschlüsse darauf zuließen, ob der Kläger im Innenverhältnis der Beteiligten zueinander der wahre Vermögensinhaber gewesen ist. Zu dieser Hauptfrage aber hatten sich die Beteiligten zu Protokoll des Amtsgerichts V ... geäußert. Das Oberlandesgericht hat jenes im Ergebnis übereinstimmende Vorbringen der Parteien in den Entscheidungsgründen seines Urteils nicht gewürdigt, obwohl dies geboten gewesen wäre. |
16. |
a) Bei seiner Anhörung durch das Amtsgericht V ... war der Kläger im Interesse der gerechten Entscheidung des Unterhaltsstreits verpflichtet, seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse richtig und vollständig anzugeben. Er hat dabei die hier strittigen Gesellschaftsrechte nicht als sein eigenes Gut in Anspruch genommen. Vielmehr hat die Beschwerdeführerin ohne Widerspruch des Klägers ausgeführt, die Gesellschaftsrechte stellten (neben Teilen der ehelichen Wohnungseinrichtung und dem vom Kläger zurückzuzahlenden Darlehen) ihr wesentliches Vermögen dar. Sie hat zudem in Gegenwart des Klägers die Absicht erklärt, die Gesellschaftsanteile für eigene Rechnung zu veräußern. Eine solche rechtliche Befugnis hätte sie nicht besessen, wenn sie nur treuhänderisch die Gesellschaftsrechte für den Kläger innegehabt hätte. Es ist äußerst ungewöhnlich, daß ein Treunehmer gegenüber dem Treugeber ankündigt, das Treugut für eigene Rechnung verwerten zu wollen, und daß der Treugeber dies schweigend hinnimmt. Die Beschwerdeführerin hat darüber hinaus die Gesellschaftsanteile sogar dem Kläger persönlich zum Kauf angeboten. Normalerweise würde ein Treugeber ein solches Ansinnen seines Treunehmers als Anmaßung entschieden zurückweisen. Der Kläger aber hat sich dagegen nicht verwahrt. |
17. |
b) Die übereinstimmenden Angaben der Parteien über ihre Vermögensverhältnisse in dem amtsgerichtlichen Unterhaltsverfahren stellten das wesentliche Verteidigungsvorbringen der Beschwerdeführerin während der Berufungsinstanz dar. Auf diesen Kernpunkt hätte das Oberlandesgericht in den Entscheidungsgründen ausdrücklich eingehen müssen. Dem Gesamtzusammenhang des Urteils kann bei verständiger Würdigung unter Zugrundelegung der Rechtsanschauung des urteilenden Gerichts nicht entnommen werden, daß es das Vorbringen zwar erwogen, aber als unwesentlich beurteilt hätte. Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen jedenfalls in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. Hierzu gehörte das Vorbringen der Beschwerdeführerin, die Parteien seien auch noch nach der Ehescheidung während des Amtsgerichtsverfahrens übereinstimmend davon ausgegangen, daß die Gesellschaftsanteile dem Vermögen der Beschwerdeführerin zuzurechnen seien. |
18. |
Das Oberlandesgericht hat selbst hervorgehoben, daß nach den Aussagen der auf Antrag des Klägers gehörten Zeugen das Vorliegen einer Treuhandabsprache zwischen den Eheleuten nicht zu beweisen sei. Vielmehr hat es der Aussage des als Partei vernommenen Klägers ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Der Kläger aber war schon in erster Instanz vernommen worden; das Protokoll des Amtsgerichts V ... war ihm hierbei nicht vorgehalten worden. Nachdem das Protokoll in den Prozeß eingeführt worden war, hätte Veranlassung bestanden, den auffälligen Widerspruch zwischen den Angaben des Klägers vor dem Amtsgericht V ... (1970) und vor dem Landgericht K ... (1972) zu klären, weil anders die prozeßentscheidende Aussage des Klägers nicht abschließend beurteilt werden konnte. Daraus, daß das Oberlandesgericht eine - hier gebotene - ausdrückliche Würdigung des von der Beschwerdeführerin vorgelegten Protokolls unterlassen hat, ist zu schließen, daß es das diesbezügliche Vorbringen der Beschwerdeführerin bei der Urteilsfindung nicht in Erwägung gezogen hat. |
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2. Es läßt sich auch nicht ausschließen, daß das Oberlandesgericht anders entschieden hätte, wenn es den Vortrag der Beschwerdeführerin über die übereinstimmenden Angaben der Parteien vor dem Amtsgericht V ... in Erwägung gezogen hätte; denn das Oberlandesgericht hat seine Feststellungen auf die Parteivernehmung des Klägers und auf Aussagen der dem Kläger nahestehenden oder, wie das Oberlandesgericht hervorgehoben hat, am Ausgang des Verfahrens interessierten Zeugen gestützt. |
20. |
Die sonstigen Gesichtspunkte, die das Oberlandesgericht in Betracht gezogen hat, lassen sich mit der These der Beschwerdeführerin, sie sei die Vollinhaberin der Gesellschaftsanteile, durchaus vereinbaren. |
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II. |
21. |
Auch der das Urteil des Oberlandesgerichts bestätigende und die Revision der Beschwerdeführerin zurückweisende Beschluß des Bundesgerichtshofs verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Die Beschwerdeführerin hatte in der Begründung ihrer Revision in gehöriger Form das Übergehen des - hier unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 1 GG zu beurteilenden - Prozeßstoffes als Verstoß gegen § 286 ZPO rügen lassen. Dem Bundesgerichtshof wäre es möglich gewesen, § 286 ZPO so auszulegen und anzuwenden, daß dabei dem grundrechtsgleichen Gebot des Art. 103 Abs. 1 GG Genüge geschehen wäre. Dies hätte auch dem Grundsatz entsprochen, daß Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte, wenn sie einmal unterlaufen sind, tunlichst im Instanzenzug durch Selbstkontrolle der Fachgerichtsbarkeit ohne Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts behoben werden sollen (vgl. BVerfGE 42, 243 (248 f.)). |
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III. |
22. |
Die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin fallen der Bundesrepublik Deutschland zur Last (§ 34 Abs. 4 BVerfGG). |