Bundesverfassungsgericht
Beschluss vom
21.03.1957
- 1 BvB 2/51 -
(weitere Fundstellen: BVerfGE 6, 300 ff.)
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Aus den Gründen: |
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I. |
1. |
1. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 17. August 1956 folgendes Urteil <BVerfGE 5, 86 f.> erlassen:
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2. |
2. Das Saarland, Teil des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, war nach Kriegsende tatsächlich der deutschen Hoheitsgewalt entzogen worden. Die dadurch geschaffenen Verhältnisse wurden niemals von irgendeiner für Deutschland handlungsbefugten Stelle, insbesondere nicht von einem Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland als Herauslösung des Saarlandes aus dem deutschen Staatsverband anerkannt. Das Saarland bildete auch nach 1945 einen Teil Deutschlands. Seit dem 1. Januar 1957 ist das Saarland ein Land der Bundesrepublik Deutschland <Art. 60 Verfassung des Saarlandes in der Fassung des Gesetzes Nr. 548 vom 20. Dezember 1956 - ABl. S. 1657 -,§ 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Eingliederung des Saarlandes vom 23. Dezember 1956 - BGBl. I S. 1011 ->. Seit diesem Zeitpunkt erstreckt sich die deutsche Staatsgewalt wieder voll auf dieses Gebiet. Es gilt dort das Grundgesetz <§ 1 Abs. 1 des Eingliederungsgesetzes> und das übrige Bundesrecht, soweit nicht das Vertragswerk vom 22. Dezember 1956 <BGBl. II S. 1587> und der deutsche Gesetzgeber Vorbehalte gemacht haben; es gilt auch das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht <§ 15 Buchst. a des Eingliederungsgesetzes>. |
3. |
3. Im Saarland bestand am 31. Dezember 1956 die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, die sich dort neben den übrigen Parteien als politische Partei betätigen konnte. Nach dem 1. Januar 1957 setzte diese Organisation ihre politische Tätigkeit in derselben Weise wie vorher fort. Maßnahmen gegen sie wurden bisher weder eingeleitet noch durchgeführt. |
4. |
4. Die mit der Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland herbeigeführte Änderung der Verhältnisse hat Zweifel ausgelöst, ob und in welcher Weise die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 betroffen ist. |
5. |
Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, daß die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, durch das genannte Urteil aufgelöst ist. Der Bundesminister des Innern hat unter Hinweis auf diese Auffassung den Innenminister des Saarlandes gebeten, das Erforderliche zu tun; er hat sich auch an das Bundesverfassungsgericht mit der Anregung gewandt, als Herr des Vollstreckungsverfahrens den Vollzug des Urteils im Saarland sicherzustellen. Die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, andererseits betrachtet sich als eine gegenüber der Kommunistischen Partei Deutschlands organisatorisch und rechtlich selbständige Organisation und meint deshalb, sie sei von dem Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts nicht betroffen; deshalb seien auch Vollstreckungsmaßnahmen aus diesem Urteil gegen sie nicht zulässig; sie genieße als politische Partei den Schutz des Art. 21 GG. Sie hat mit Schriftsatz vom 18. Januar 1957 beim Bundesverfassungsgericht beantragt, "gemäß § 13 Ziff. 5 BVerfGG" festzustellen, daß der Art. 21 Abs. 2 GG auf die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, nicht vor dem 1. Januar 1957 angewandt werden kann und daß demzufolge das Urteil des Bundesverfassungsgerichts betreffend die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 17. August 1956 keine Wirkung hinsichtlich der Kommunistischen Partei, Landesverband Saar, besitzt. |
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II. |
6. |
1. Die durch den dargestellten Sachverhalt geforderte Entscheidung, insbesondere die Entscheidung über den Antrag der Kommunistischen Partei, Landesverband Saar, und über die Anregung des Bundesministers des Innern, hat der in § 14 Abs. 5 BVerfGG genannte Ausschuß dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts zugewiesen. |
7. |
2. Die zu entscheidende Sachfrage ist, ob und in welcher Weise das Urteil vom 17. August 1956 die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, trifft. Das ist eine Frage der Vollstreckung dieses Urteils. |
8. |
3. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht hat, indem es dem Rang dieses Gerichts und seiner besonderen Stellung als eines der obersten Verfassungsorgane innerhalb der Verfassungsordnung Rechnung getragen hat, dem Bundesverfassungsgericht alle zur Durchsetzung seiner Entscheidungen nötige Kompetenz eingeräumt. Das ist der Sinn und die Bedeutung des § 35 BVerfGG. Gestützt auf diese Kompetenz trifft das Gericht von Amts wegen - also unabhängig von "Anträgen" oder "Anregungen" alle Anordnungen, die erforderlich sind, um seinen ein Verfahren abschließenden Sachentscheidungen Geltung zu verschaffen. Dabei hängt die Art, das Maß und der Inhalt der Vollstreckungsanordnungen einmal vom Inhalt der Sachentscheidung ab, die vollstreckt werden soll, zum andern von den konkreten Verhältnissen, die in Einklang mit der Entscheidung zu bringen sind, insbesondere von dem Verhalten der Personen, Organisationen, Behörden, Verfassungsorgane, an die oder gegen die sich die Entscheidung richtet. Der Vollstreckung im Sinn des § 35 aaO sind nicht nur Leistungs- und Duldungsurteile, sondern auch Feststellungsurteile zugänglich; Vollstreckung ist hier "der Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Rechts notwendig sind" <Arndt, DVBl. 1952, S. 3>. § 35 geht davon aus, daß die Durchsetzung der Entscheidung betreffenden Anordnungen in dieser Entscheidung selbst getroffen werden. Aus dem umfassenden Gehalt der Vorschrift, die das Gericht recht eigentlich zum Herrn der Vollstreckung macht, folgt aber, daß jene Anordnungen, wenn sich ihre Notwendigkeit erst nachträglich herausstellt, auch in einem selbständigen Beschluß des Gerichts getroffen werden können. |
9. |
Auch der selbständige Beschluß nach § 35 BVerfGG kann die Sachentscheidung, deren Vollstreckung er dient, nicht ändern, modifizieren, ergänzen oder erweitern; er bleibt ebenso wie die Vollstreckung betreffenden Anordnungen in der Hauptentscheidung selbst seiner Natur nach eine reine Entscheidung im Rahmen der Vollstreckung, der Durchsetzung, des Vollzugs der Sachentscheidung. Für diese "Vollstreckungsentscheidung" nach § 35 hat das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht ein besonderes Verfahren bewußt nicht vorgeschrieben, um dem Gericht volle Freiheit zu belassen, das Gebotene in der jeweils sachgerechtesten, raschesten, zweckmäßigsten, einfachsten und wirksamsten Weise zu erreichen. Die Vollstreckung in der Hand des zum Hüter der Verfassung bestellten höchsten Gerichts bietet Gewähr, daß der von der Sachentscheidung dieses Gerichts geforderte Zustand korrekt herbeigeführt wird; die Vollstreckung in der Hand des Bundesverfassungsgerichts sichert, daß die umfassende Ermächtigung des § 35 aaO nicht mißbraucht wird, auch wenn die Entscheidung von Amts wegen, also völlig unabhängig von den Interessen, den Wünschen, den Anträgen oder den Anregungen der Beteiligten ergeht. Aus der Natur des nach § 35 aaO zulässigen Beschlusses folgt, daß er in der Regel ohne Anhörung der von der Vollstreckungsmaßnahme des Gerichts Betroffenen und der in der Anordnung angewiesenen Verfassungsorgane und Behörden ergeht, unbeschadet der Befugnis des Gerichts, nach seinem Ermessen von den bezeichneten Beteiligten ihm nötig erscheinende Erklärungen einzufordern. Da die Vollstreckungsanordnung, wie ausgeführt, am Inhalt der zu vollstreckenden Sachentscheidung nichts ändern kann, ist kein Raum für ein "rechtliches Gehör zur Sache"; dieses rechtliche Gehör ist in dem Verfahren über die Hauptsache gewährt. Selbstverständlich kann die Entscheidung über Inhalt und Form der Vollstreckungsmaßnahme, die nach § 35 BVerfGG auszusprechen ist, wie jede Entscheidung innerhalb des Vollstreckungsverfahrens gleichgültig welchen Gerichtszweigs u. a. die inzidente Prüfung erforderlich machen, was Inhalt und Tragweite der zu vollstreckenden Sachentscheidung ist <"Auslegung des Vollstreckungstitels">. Dazu hat das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht kein besonderes Verfahren <"Interpretationsklage", "Vollstreckungsbeschwerde", "Erinnerung", "Vollstreckungsklage" usw.> zur Verfügung gestellt; es bedurfte einer solchen Regelung nicht, weil es ausreichenden Gerichtsschutz bedeutet, wenn und soweit das in der Hauptsache entscheidende Bundesverfassungsgericht die Vollstreckung im einzelnen regelt, notfalls korrigiert und unter seiner letzten Verantwortung maßgeblich beeinflußt. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß es unter besonderen Umständen geboten sein kann, daß das Gericht auch im "Vollstreckungsverfahren" den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung gibt. |
10. |
4. Im vorliegenden Fall war eine besondere Anhörung der Kommunistischen Partei, Landesverband Saar, nicht geboten. Sie hat im Antrag vom 18. Januar 1957, der, wenn überhaupt, nur als "Vollstreckungsbeschwerde" <BVerfGE 2, 139 ff.> zulässig sein könnte, alle Umstände vorgetragen, die nach ihrer Auffassung dem Vollzug des Urteils vom 17. August 1956 gegen sie entgegenstehen. Darüber hinaus liegt dem Gericht das im Parteiorgan "Neue Zeit", Saarbrücken, Nr. 23 vom 28. Januar 1957 abgedruckte Gutachten des Professors Andre Hauriou "über die Rechtmäßigkeit eines eventuellen Verbotsverfahrens gegen die KP Saar auf administrativem oder gerichtlichem Wege" vor. |
11. |
5. Die Entscheidung vom 17. August 1956 hat die Kommunistische Partei Deutschlands als verfassungswidrige Partei aufgelöst. Der Sinn dieses Ausspruchs kann nach den Regeln über die räumliche Erstreckung eines Staatshoheitsaktes, der Geltung für den Gesamtbereich der staatlichen Einheit beansprucht, und nach dem Zweck des in Art. 21 Abs. 2 GG vorgesehenen Parteiverbots nur sein, daß im ganzen von der Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland beherrschten Raum in seiner jeweiligen Ausdehnung die einer politischen Partei eigentümliche politische Betätigung eines kommunistischen Organisationsapparats, der in einem substantiellen Sinn mit der verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands identisch ist, unzulässig und verboten ist. Ob die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, in diesem Sinn seit 1. Januar 1957 schon als ein "Teil" der Kommunistischen Partei Deutschlands von der Auflösung durch Ziffer I, 2 des Urteils vom 17. August 1956 erfaßt ist, mag dahinstehen. |
12. |
6. Nach dem genannten Urteil ist weiter verboten, ". . . bestehende Organisationen als Ersatzorganisationen fortzusetzen." Dieser Ausspruch trifft jedenfalls auch die Kommunistische Partei, Landesverband Saar: |
13. |
In diesem Zusammenhang ist die Verfassungsrechtslage im Saarland vor dem 1. Januar 1957 ohne Bedeutung. D. h. der Status der Kommunistischen Partei, Landesverband Saar, unter der Herrschaft des Rechts, das bis zum 31. Dezember 1956 im Saarland Geltung beanspruchte, ist unerheblich; unerheblich ist insbesondere, daß sie bis dahin als politische Partei organisatorisch und rechtlich selbständig tätig war. Dieser Status besagt nichts über ihren Status unter der Geltung der seit dem 1. Januar 1957 im Saarland bestehenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ergibt sich, daß die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, mit dem 1. Januar 1957 eine Ersatzorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands im Geltungsbereich des Grundgesetzes geworden ist, so kann sie sich mit der Behauptung, sie sei bis zu diesem Zeitpunkt organisatorisch und rechtlich selbständig gewesen und habe im Saarland in der Vergangenheit als politische Partei gewirkt, nicht mit Erfolg auf den der politischen Partei in Art. 21 GG garantierten Status berufen. |
14. |
Eine Ersatzorganisation ist, wie schon das Wort sagt, dazu bestimmt, an die Stelle einer nicht mehr vorhandenen oder nicht mehr funktionierenden Organisation zu treten. Beide sind organisatorisch nicht "dasselbe", wollen aber funktionell "dasselbe". Auf die Form und auf die räumliche Ausdehnung der neuen Organisation kommt es dabei nicht entscheidend an. Entscheidend ist vielmehr, daß sie in der Art ihrer Betätigung <Teilnahme an der politischen Willensbildung des Volkes, Beteiligung an politischen Wahlen usw.>, in der Verfolgung der politischen Ziele, nach den in ihr wirksamen politischen Kräften, nach dem Kreis der von ihr Angesprochenen, nach der politischen Haltung ihrer Anhänger und nach dem aus der zeitlichen Abfolge des Geschehens <Verbot der Organisation und Schaffung des Ersatzes> erkennbaren Zusammenhang die verbotene Partei zu ersetzen bestimmt ist. Dabei kommt es nicht auf eine isolierte Beurteilung jedes einzelnen der genannten Merkmale an, sondern auf eine Wertung, die sich aus einer Zusammenschau und Zusammenfassung der genannten - im einzelnen mehr oder minder ausgeprägten - Merkmale ergibt. Aus dem an erster Stelle genannten Merkmal, aber auch aus dem allgemeinen Umstand, daß es sich um eine Ersatzorganisation einer politischen Partei handelt, folgt, daß aus dem Begriff der Ersatzorganisation nicht diejenige Organisation, die eine politische Partei zu sein behauptet und sich als solche geriert <sie muß sich, um Ersatzorganisation im Vollsinn des Wortes sein zu können, regelmäßig als solche gerieren!>, ausgeklammert werden kann. |
15. |
Es kann dahingestellt bleiben, ob eine im Zeitpunkt des Erlasses des Verbotsurteils bereits bestehende politische Partei im Sinne des Art. 21 Abs. 1 GG als Ersatzorganisation im Vollstreckungsverfahren aufgelöst werden kann oder ob gegen sie ein Verfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG durchgeführt werden muß <vgl. OVG Lüneburg, OVGE 7, 300 ff.>. Das letztere könnte jedenfalls nur gelten für eine politische Partei, die schon im Zeitpunkt des Erlasses des zu vollstreckenden Urteils im Geltungsbereich des Grundgesetzes bestanden hat. Diese Voraussetzung trifft jedoch für die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, nicht zu. Deshalb ist es rechtlich zulässig, sie als Ersatzorganisation aufzulösen. |
16. |
Daß die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, seit dem 1. Januar 1957 in dem umschriebenen Sinn eine Ersatzorganisation der Kommunistischen Partei Deutschlands ist, ist evident. Die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, nennt sich eine "kommunistische" Partei. Wenn sie sich nicht selbst aufgeben will, kann sie nicht behaupten, daß sie sich in irgendeinem Punkt ihrer politischen Ziele, ihres politischen Kampfes, ihrer politischen Propaganda von dem entsprechenden Verhalten der Kommunistischen Partei Deutschlands, wie es insbesondere im zweiten Abschnitt, Teil A und B, des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 mit eingehender Begründung als erwiesen festgestellt ist, unterscheidet. Sie bildet im Geltungsbereich des Grundgesetzes zwangsläufig das organisatorische und politische Auffangbecken aller politischen Kräfte, die bisher in der verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands wirksam waren, sie bildet zwangsläufig den Apparat, von dem aus im Sinne der Kommunistischen Partei Deutschlands auf die politische Willensbildung des Volkes eingewirkt werden kann. Unter diesen Umständen kommt es auf die - gerichtsbekannten - Äußerungen ihrer Presse oder auf die Feststellung der personellen Zusammenhänge zwischen ihr und der verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands nicht mehr an. |
17. |
7. Als Ersatzorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands fällt die Kommunistische Partei, Landesverband Saar, unter das Verbot des Urteils vom 17. August 1956 in Ziffer 1, 3. Der zuständige Minister des Innern im Saarland ist deshalb gehalten, gemäß Ziffer II der Entscheidungsformel des genannten Urteils gegen sie einzuschreiten. Das zur Behebung jeden Zweifels ausdrücklich festzustellen, erschien gemäß § 35 BVerfGG geboten. Damit ist der Antrag der Kommunistischen Partei, Landesverband Saar, vom 18. Januar 1957 ebenso wie ihr Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos geworden und erledigt. |