Bundesverfassungsgericht(1. Senat)
Beschluss vom 30. Januar 1985
- 1 BvR 2211/94 -
(weitere Fundstellen: BVerfGE 69, 122 ff.)
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Leitsatz: |
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Einer unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde kann der Grundsatz der Subsidiarität entgegenstehen. |
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Gründe: |
1. |
Gegenstand der unmittelbar gegen das Gesetz erhobenen Verfassungsbeschwerde ist die Frage, ob die alsbald nach der Verkündung in Kraft getretene Neufassung des § 176 c RVO verfassungsgemäß ist, durch welche die Beitrittsmöglichkeit Schwerbehinderter zu einer gesetzlichen Krankenkasse eingeschränkt worden ist. |
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I. |
2. |
1. In den §§ 176 bis 178 RVO ist geregelt, welcher Personenkreis berechtigt ist, einer gesetzlichen Krankenkasse beizutreten. Den Kreis der nach diesen Bestimmungen Versicherungsberechtigten hatte Art. 2 § 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl. I S. 1061) durch Einfügung einer neuen Vorschrift erweitert:
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3. |
Durch Art. 1 Nr. 1 des Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetzes - KVEG - vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1578) sind diese Beitrittsvoraussetzungen erschwert worden. Die Vorschrift lautet nunmehr:
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4. |
Diese im Bundesgesetzblatt vom 30. Dezember 1981 verkündete Vorschrift ist am 1. Januar 1982 in Kraft getreten. |
5. |
2. Der am 4. Mai 1928 geborene Beschwerdeführer ist Steuerberater mit geringem Einkommen. Er ist seit Juni 1977 als Schwerbehinderter anerkannt. Von 1967 bis zum 31. Januar 1981 war er Mitglied einer Ersatzkasse. Nach seinem Austritt hätte er zunächst nach § 176 c RVO a. F. wieder freiwillig einer gesetzlichen Krankenkasse beitreten können. Die Neufassung des § 176 c RVO nahm ihm diese Möglichkeit, weil im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens die Feststellung seiner Behinderung schon mehr als drei Monate zurücklag. |
6. |
Mit der unmittelbar gegen das Gesetz erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Erschwerung des Beitritts zur gesetzlichen Krankenversicherung. Nachdem er, um Beiträge zu ersparen, der gesetzlichen Krankenkasse vorübergehend nicht angehört habe, sei es seine Absicht gewesen, ihr eventuell im Frühjahr 1983 wieder beizutreten. Diese Möglichkeit sei ihm durch die Neufassung des § 176 c RVO ohne Übergangsvorschrift genommen worden. Das verstoße gegen die Verfassung; jedenfalls sei Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, weil er gegenüber Schwerbehinderten benachteiligt werde, die bei im übrigen gleichen Voraussetzungen erst nach dem 1. Oktober 1981 als Schwerbehinderte anerkannt worden seien. |
7. |
3. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig. Der Beschwerdeführer sei durch das Gesetz nicht gegenwärtig betroffen, weil sich aus seinem Vortrag nicht ergebe, ob er jemals von seinem Beitrittsrecht Gebrauch gemacht hätte. Auch sei nicht auszuschließen, daß sich für ihn eine Beitrittsmöglichkeit zur gesetzlichen Krankenversicherung aus einer anderen Norm als § 176 c RVO ergeben könnte, etwa wenn er eine versicherungspflichtige Tätigkeit aufnähme. Überdies sei der Beschwerdeführer erst nach Ablauf der Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG selbst und unmittelbar durch das Gesetz betroffen worden. |
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II. |
8. |
Die unmittelbar gegen das Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. |
9. |
Der Beschwerdeführer, der schon mehr als drei Monate vor dem Inkrafttreten des § 176 c RVO n. F. als Schwerbehinderter anerkannt war, ist allerdings durch das Gesetz, das ihm alsbald nach seiner Verkündung das bis dahin bestehende Recht des freiwilligen Beitritts zu einer gesetzlichen Krankenkasse genommen hat, selbst und gegenwärtig betroffen. Auch fehlt es nicht an der unmittelbaren Betroffenheit des Beschwerdeführers durch die von ihm angegriffene Regelung; beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen hätte er vor der Neufassung des § 176 c RVO allein durch Anmeldung bei einer gesetzlichen Krankenkasse ihr Mitglied werden können, ohne daß es eines besonderen Vollziehungsaktes der Verwaltung bedurft hätte. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht jedoch der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Dieser erfordert, daß der Bürger, der die Verletzung seiner Grundrechte geltend machen will, vor der Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts einen ihm gegebenen Rechtsweg beschreitet. |
10. |
Die mit der Anrufung der Fachgerichte verbundene umfassende gerichtliche Vorprüfung soll bewirken, daß dem Bundesverfassungsgericht ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Fachgerichte vermittelt werden (vgl. BVerfGE 8, 222 (227)). Es gehört zu den Aufgaben eines jeden Gerichts, im Rahmen seiner Zuständigkeit bei Verfassungsverletzungen Rechtsschutz zu gewähren (vgl. BVerfGE 47, 144 (145); BVerfG, Beschluß vom 8. Januar 1985 - 1 BvR 700/83 u. a. - Umdruck S. 6). Handelt es sich um ein förmliches Gesetz und teilt das Fachgericht die verfassungsrechtlichen Bedenken des Beschwerdeführers, setzt es das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aus und führt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbei. Im anderen Fall wäre gegen die letztinstanzliche Entscheidung die Verfassungsbeschwerde gegeben. Damit ist gewährleistet, daß dem Bundesverfassungsgericht nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet wird. Unter diesen Voraussetzungen trägt der Grundsatz der Subsidiarität dazu bei, die besondere Funktion und die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu erhalten (vgl. BVerfGE 51, 130 (139) m. w. N.). |
11. |
Hiernach hätte der Beschwerdeführer einen Antrag auf freiwillige Mitgliedschaft stellen müssen. Zwar hätte die Krankenkasse diesen Antrag nach der Neufassung des § 176 c RVO ablehnen müssen. Diese Ablehnung konnte der Beschwerdeführer aber vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anfechten. Das war ihm zumutbar und nach dem Grundsatz der Subsidiarität geboten. |